Nahost

Angriff auf Israel – eine erste Analyse

Warum die Hamas gerade jetzt einen brutalen Terrorkrieg vom Zaun bricht, und wie Israel sich verteidigen kann.

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An diesem Samstag in den frühen Morgenstunden wird Israels Albtraum-Szenario Wirklichkeit. Bei einem Überraschungsangriff der Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Arm der palästinensischen, radikalislamischen Terrororganisation Hamas, gelingt es den Kämpfern, unbemerkt auf israelisches Territorium zu gelangen. Videobilder zeigen etwa ein Fahrzeug mit mehreren bewaffneten Palästinensern in den Straßen der Stadt Sderot, knapp außerhalb des Gaza-Streifens. In sechs weiteren israelischen Orten entlang der Grenze wurden bewaffnete Palästinenser gesichtet. Die Angreifer überfielen zudem kleinere, israelische Militärstützpunkte und entführten dabei israelische Soldaten. Doch nicht nur Soldaten wurden zum Ziel der Hamas-Terroristen, sondern auch Zivilisten. Wahllos wurden Israelis auf Straßen und in ihren Häusern überfallen und ermordet. Die Kassam-Brigaden agieren nicht wie eine Armee, sondern wie eine Terrororganisation.

Die britische BBC berichtet von unbestätigten Meldungen, wonach „Dutzende Geiseln, sowohl Soldaten als auch Zivilisten“ in der Gewalt der Kassam-Brigaden seien.

Zeitgleich mit der Kommandoaktion feuerten die Kassam-Brigaden auch Raketen aus Gaza in Richtung israelischer Städte ab. Die israelischen Streitkräfte antworteten ihrerseits mit Luftangriffen auf Gaza. Durch die israelischen Luftangriffe seien im Gazastreifen 313 Palästinenser getötet und knapp 2.000 verletzt wurden, teilte das dortige Gesundheitsministerium am Sonntag mit. Laut Berichten israelischer TV-Sender liegt die Zahl der Todesopfer in Israel inzwischen bei 500 bis 600. 

Warum beginnt die Hamas gerade jetzt einen Krieg?

Die Kassam-Brigaden ließen verlautbaren, dass der Angriff auf Israel „zur Verteidigung der Al-Aksa-Moschee“ diene. Das ist die propagandistische Rechtfertigung, die daran erinnern soll, dass Itamar Ben-Gvir, der Sicherheitsminister der Regierung von Benjamin Netanjahu, zu Beginn des Jahres einen in Israel und auch international heftig umstrittenen Besuch des Jerusalemer Tempelbergs unternommen hatte, eine heilige Stätte für Juden, Muslime und Christen. Der frühere israelische Ministerpräsident Yair Lapid hatte damals gewarnt, eine solche Provokation würde „Leben kosten“.

Neben diesem symbolischen Konflikt, mit dem die Hamas ihren Terror-Angriff – vergeblich – zu legitimieren versucht, dürfte vor allem die innenpolitische Krise in Israel bei der Wahl des Zeitpunkts eine Rolle gespielt haben. Seit dem Antritt der neuen Regierung im Dezember 2022 tobt ein nie dagewesener Streit um die demokratischen Institutionen des Staates, vor allem um die Stellung des Obersten Gerichts. Das führt zu regelmäßigen Massenprotesten gegen die Regierung und auch zu Verwerfungen innerhalb der Streitkräfte. Reservisten verweigerten zuletzt aus Protest gegen die Justizreform den Dienst. Im August warnte das Institut für Nationale Sicherheitsstudien, dass die innerisraelische Krise die äußere Sicherheit des Landes gefährde, und das Direktorium des militärischen Nachrichtendienstes warnte, dass die militärische Abschreckung nachlasse und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges so hoch sei wie seit 2006 nicht mehr. Damals war der „Zweite Libanonkrieg“ ausgebrochen, die Kontrahenten waren Israel und die libanesische Hisbollah.

Diese politische Instabilität in Israel will die Hamas ausnutzen und verkennt dabei, dass der Zusammenhalt angesichts einer brutalen Attacke von außen enorm ist.

Was will die Hamas erreichen?

Im Grunde hat sie in den ersten Stunden des Angriffs bereits alles erreicht, was innerhalb ihrer Möglichkeiten liegt. Die Tatsache, dass es den Terroristen gelungen ist, auf Israels Territorium vorzustoßen, Menschen zu töten und zu entführen, wird von den Kassam-Milizen als Erfolg gefeiert werden. Für die israelischen Nachrichtendienste bedeutet dieser Überraschungsangriff ein Fiasko. Die Grenzen des schmalen Küstenstreifens Gaza werden von israelischen Streitkräften abgeriegelt, an dem Übertrittsposten Eretz werden jede Person und jedes Gepäckstück streng kontrolliert. Die israelische Armee sagte am Samstag, die bewaffneten Terroristen seien über Land, See und Luft in Israel eingedrungen. Wie dies eine derart große Zahl an Palästinensern unbemerkt bewerkstelligt hat, wird derzeit wohl hektisch untersucht.

Die Hamas hat im weiteren Verlauf dieses Krieges Israel militärisch wenig entgegenzusetzen. Wenn es ihr tatsächlich gelungen ist, Israelis zu entführen, wird sie versuchen, die israelische Regierung damit zu erpressen. Rücksicht auf internationales Recht, etwa das Recht Kriegsgefangener gemäß des Dritten Genfer Abkommens von 1949, hat die Hamas in der Vergangenheit nie genommen.

Was kann Israel tun?

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu formulierte es in einer Videobotschaft so: „Unser Feind wird einen Preis bezahlen, wie er ihn noch niemals kennengelernt hat.“ Die Streitkräfte haben bereits mit Raketenangriffen auf Ziele in Gaza begonnen, sehr wahrscheinlich ist auch ein Einmarsch der Armee nach Gaza. Israel ist mit den örtlichen Gegebenheiten bestens vertraut, es hielt Gaza bis zum Abzug im Jahr 2005 militärisch besetzt. Seither befinden sich zwar keine Truppen mehr vor Ort, doch der Küstenstreifen ist flächenmäßig kleiner als Wien und dementsprechend leicht überschaubar.
Problematisch bei der Kriegsführung ist die dichte Besiedelung. Die Überlegenheit der israelischen Streitkräfte gegenüber den Kassam-Brigaden ist eklatant, doch im dicht bebauten Gaza-Stadt ist es schwierig, militärische Ziele von zivilen Gebäuden zu trennen.

Das Recht Israels sich zu verteidigen ist unbestritten. Der Angriff ging eindeutig von der Hamas aus, alle westlichen Staaten verurteilten die Aggression umgehend.

Droht die Gefahr eines Mehrfrontenkriegs?

Kaum. Die libanesische Hisbollah solidarisiert sich zwar wie üblich mit der Hamas, doch nichts deutet darauf hin, dass sie sich militärisch involvieren will. Zwischen Israel und den arabischen Staaten fand in den vergangenen Jahren eine Annäherung statt, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain unterzeichneten 2020 mit Israel die so genannten Abraham Accords, und zuletzt stand eine formelle Annäherung Israels und Saudi-Arabiens im Raum.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur