Was ist der „Islamische Staat – Korasan“?
Der IS-K ist Ende 2014 im Osten Afghanistans als Ableger des „Islamischen Staates“ entstanden und hat sich rasch den Ruf einer extrem brutalen Terrororganisation geschaffen. Den Höhepunkt an Mitgliedern dürfte die Gruppe um 2018 erreicht haben, danach fügten ihnen sowohl die rivalisierenden Taliban als auch die US-Truppen schwere Verluste zu. Doch seit dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten ist der IS-K in Afghanistan hochaktiv und verübt regelmäßig Anschläge mit hohen Opferzahlen. Für Schlagzeilen sorgte etwa ein Selbstmordattentat am Flughafen Kabul während der Evakuierung von Truppen und Zivilisten Ende August 2021. Mehr als 180 Menschen wurden dabei getötet, darunter 13 US-Soldaten.
Rund drei Viertel der Anschläge des IS-K finden in Afghanistan statt, im Visier stehen die Taliban und Al-Kaida, doch unter den Todesopfern befinden sich stets zahlreiche Zivilisten. Attentate verübte die Terrorgruppe auch in der Türkei und im Iran – und Experten warnen schon lange vor einer Ausweitung der Aktivitäten nach Europa. „Am Anfang war der IS-K ein kleiner Ableger des IS, doch er hat es geschafft, im Windschatten der Taliban aufzusteigen“, sagt der Terrorismus-Experte Nicolas Stockhammer von der Donau Universität in Krems. Insgesamt verfüge der IS-K schätzungsweise über 8000 Kämpfer.
Wer ist der Kopf des IS-K, und wo versteckt sich die Führung?
Das Machtzentrum des IS-K liegt im Osten Afghanistans, doch wer die Terrorgruppe anführt, ist nicht bekannt. Zwar kursieren einige Namen, doch gebe es keine sichtbare Führungsstruktur, sagt Stockhammer. Der US-Terrorismusforscher Marc Sageman spricht vom „führerlosen Dschihad“, Stockhammer bezeichnet die Strategie in seinem Buch „Trügerische Ruhe“ als „McJihad“: „Das funktioniert wie ein Franchise-Unternehmen, nur gibt es keine Hauptquartiere.“ In seiner Strategie der Terrorbekämpfung habe sich der Westen auf die „Enthauptung“ der Gruppen fokussiert: „Anführer überleben nicht lange. Wer auf sie verzichtet, macht sich weniger angreifbar.“ Damit sei der IS-K wie die Hydra aus der griechischen Mythologie: Schlägt man einen Kopf ab, wachsen zwei neue nach.
Wie viel hat der IS-K mit dem ursprünglichen IS gemein?
Der Islamische Staat, der auf dem Höhepunkt seiner Macht ein „Kalifat“ von Nordsyrien bis in den Westirak kontrollierte, hatte stets auch das Ziel, den „Feind“ in Europa zu bekämpfen. Der IS hat sich zu den blutigsten Anschlägen in Europa bekannt, darunter jener auf die Konzerthalle Bataclan in Paris 2015 und auf den Flughafen Brüssel 2016. Zuletzt bekannte sich der IS zum Mord an zwei schwedischen Fußballfans in Brüssel (Oktober 2023), zu einem Selbstmordanschlag im Iran mit mehr als 80 Toten und zum Angriff auf eine Kirche in Istanbul mit zwei Todesopfern (beide im Jänner 2024). Aufgrund dieser „Erfolge“ habe der IS-K die Vorgehensweise des IS übernommen, sagt Stockhammer. Der Experte geht davon aus, dass die größte Bedrohung derzeit noch vom IS ausgeht. „Doch aus dem Ableger IS-K kann etwas Neues entstehen, das noch gefährlicher ist. Denkbar ist etwa der Schulterschluss mit Al-Kaida und die Ausrufung eines gemeinsamen globalen Dschihad.“
Neben der Mutterorganisation IS sei der IS-K die einzige islamistische Terrorgruppe, die auch in Europa agiere. „Unter den ehemaligen IS-Anhängern in Europa ist der IS-K zu einer Art Shootingstar geworden“, sagt Stockhammer. „In den Augen dieser Leute ist der IS-K der ‚David‘ unter den Islamisten, weil er sich traut, gegen den Goliath, also die Taliban, anzutreten.“ Dieses Narrativ verfange auch in Europa.
Steigt damit auch die Terrorgefahr in Europa?
Ja, da sind sich die Experten einig. Frankreich hat vergangene Woche die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen; auch Deutschland ist angesichts der anstehenden Fußball-Europameisterschaft nervös. Laut Stockhammer rekrutiert der IS-K auch Kämpfer in Europa, junge Islamisten sehen den IS-K als treibende Kraft. Das scheint auch für Österreich zu gelten: Die drei im vergangenen Jahr in Wien vereitelten Anschläge auf die Regenbogenparade, den Hauptbahnhof und den Stephansdom wurden von Leuten geplant, die sich zum IS-K bekannten. Einige von ihnen waren, wie auch die Attentäter von Moskau, aus Tadschikistan. Anders als der IS rekrutiert der IS-K vor allem in Zentralasien.
Stockhammer geht davon aus, dass mit dem Aufstieg des IS-K der „gruppenförmige Terrorismus“ wieder relevanter wird: Während sogenannte „Lone Wolves“ allein agieren, werde der IS-K seinen Fokus eher auf penibel geplante Angriffe in Gruppen legen. Das habe der Anschlag in Moskau gezeigt. „Wenn es gelingt, wie in Moskau oder beim Angriff auf Paris 2015 Hunderte Menschen auf einmal zu töten, ist das Bild des Schreckens umso größer“, sagt Stockhammer. Und genau darauf sei der IS-K aus.
Wer unterstützt den IS-K?
Nach seiner Gründung in Afghanistan wurde der IS-K wohl von der Mutterorganisation IS aus Syrien und dem Irak unterstützt. Heute weise vieles darauf hin, dass der pakistanische Geheimdienst ISI die Gruppe finanziert. „Pakistan hat sich zum Schlupfloch und Hort des islamistischen Terrorismus entwickelt“, sagt Stockhammer. Waffen und Ausrüstung kaufen die Terroristen am globalen Schwarzmarkt, Waffenlieferungen kommen auch aus dem Kriegsgebiet in Syrien. Allerdings weisen Experten wie der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Moreno Ocampo auf die Rolle Katars bei der Terrorfinanzierung hin.
Wieso griff der IS-K Russland an?
Das könnte einerseits an einer Art späten Rache liegen. In Syrien unterstützt der Kreml Baschar al-Assads Kampf gegen Dschihadisten, hinzu kommen die Besatzung Afghanistans durch die damalige Sowjetunion in den 1980er-Jahren und später die Tschetschenienkriege. Die Islamisten werfen Moskau vor, das Blut von Muslimen an den Händen zu haben. Der IS-K hat schon vor zwei Jahren ein Attentat auf Russland angekündigt. Stockhammer bringt noch einen geopolitischen Faktor ins Treffen: „Russland versucht in Zentralasien Fakten zu schaffen, das ist den Islamisten zuwider, die den russischen Einfluss zurückdrängen wollen.“
Wie geht Moskau mit dem Anschlag um?
Nach dem Terrorangriff waren die Täter rasch verhaftet, schon am Sonntagabend wurden sie einem Moskauer Bezirksgericht vorgeführt. Was dabei offenbar alle sehen sollten: Die vier Männer waren schwer misshandelt worden, einem soll sogar ein Ohr abgeschnitten worden sein. Ein Video, das die Folterszene zeigen soll, wurde gezielt in den russischen Medien verbreitet. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach erst am Montagabend, drei Tage nach dem Attentat, von islamistischen Terroristen. Im Narrativ des Kremls stecken alle Feinde Moskaus unter einer Decke, die Ukraine habe mit den Terroristen zusammengearbeitet. Belege dafür gibt es nicht, Kyiv bestreitet die Vorwürfe. In Russland wird indes eine Frage laut: Wie kann es sein, dass jeder, der gegen den Krieg in der Ukraine demonstriert, sofort verhaftet wird, während Terroristen ungehindert ein Blutbad anrichten können? Als am Freitagabend die ersten Sicherheitskräfte bei der Konzerthalle eintrafen, war das Massaker bereits geschehen.