Ist Letzteres dasselbe wie Holocaust-Leugnung?
Lipstadt
Ja, es ist dieselbe Art von Antisemitismus. Diese Leute sagen da wie dort, die Juden hätten alles erfunden, um davon zu „profitieren“. Beim Holocaust war es ein eigener Staat und Kompensationszahlungen. Heute hören wir die Leugnung und Verzerrung der Tatsachen von Gruppen, die bei allen anderen Themen ganz andere Ansichten haben. Das hat viel mit Doppelmoral zu tun.
Sie unterscheiden drei Arten von Antisemiten: den extremistischen weißen Rassisten, den altmodischen Dinner-Party-Antisemiten und den ahnungslosen Antisemiten. Müssen Sie jetzt noch einen vierten Typus hinzufügen: den woken Antisemiten?
Lipstadt
Ja. Viele haben Antisemitismus in ihre Wokeness integriert. Die Bewegung hat mit vielen Forderungen und Inhalten recht, doch der Grad an Antisemitismus ist wirklich beunruhigend.
Was hebt den woken Antisemiten von den anderen ab?
Lipstadt
Die Ansicht, dass Juden weiß sind. Dass sie Kapitalisten sind und Unterstützer Amerikas. Hinzu kommt das Schwarz-weiß-Denken. Universitäten waren Orte, an denen es keine fixen Wahrheiten gab. Die Idee war, zu untersuchen und zu debattieren. Heute gibt es nur eine Wahrheit: Entweder du bist Opfer oder Täter. Es gibt kein Dazwischen.
Es ist von hier aus schwer einzuschätzen, ob die Proteste in den USA von Antisemitismus getrieben sind oder ob es vielen in erster Linie um Kritik an der israelischen Regierung geht. Auch in Israel gehen Menschen gegen die Regierung auf die Straße …
Lipstadt
Ja, und diese Kritik ist berechtigt. Die Grenze verläuft dort, wo begonnen wird, von Apartheid zu sprechen. Richtig verrückt wird es bei Gruppen wie „Transgender für Hamas“. Diesen Menschen würde ich gerne sagen: Geht nach Gaza-Stadt und stellt euch auf ein Häuserdach. Da braucht ihr keine Treppen mehr, um wieder herunterzukommen. Kluge Studenten können ziemlich dumm sein, sie verhalten sich wie Lemminge. Viele wissen gar nicht, was „from the river to the sea“ bedeutet. Eine Studentin dachte, es sei die Region zwischen Bosporus und Schwarzem Meer gemeint. Es geht auch um Anti-Amerikanismus. Das sind Leute, die auf der US-Flagge herumtrampeln. Ihnen geht es nicht um Frieden, sondern um Zerstörung.
Lipstadt
Es gibt einen Unterschied zwischen der Westbank und Israel. Wäre ich gern Palästinenserin in der Westbank? Absolut nicht, nein. Doch von Israel als Apartheid-Staat zu sprechen, ist Unsinn. In Israel sitzen Araber in den höchsten Gerichten und stellen Abgeordnete in der Knesset. Natürlich gibt es Diskriminierung gegen Araber. Doch Apartheid oder gar Genozid sind die falschen Begriffe.
Amnesty spricht von rassistischer Diskriminierung in den besetzten Gebieten.
Lipstadt
Lassen Sie mich von einem Fall an der Universität in Kapstadt berichten. Dort waren zwei Überlebende des von der Hamas attackierten Musikfestivals eingeladen, um von ihren Erlebnissen zu berichten. „Kolonialisten“, riefen die Leute, „geht zurück nach Europa!“. Dabei war eine der Überlebenden eine äthiopische Jüdin. Das kann man doch nicht erfinden!
Sie schreiben in
Ihrem Buch „Der neue Antisemitismus“: „Die Verneinung der jüdischen Nationalität ist eine Form des Antisemitismus, wenn nicht in der Absicht, so doch in der Wirkung.“ Ist Antizionismus wirklich mit Antisemitismus gleichzusetzen?
Lipstadt
Sie stellen die Frage der falschen Person, geeignet ist sie für Menschen, die vor Synagogen demonstrieren, jüdische Schulen mit Parolen beschmieren, Holocaust-Gedenkstätten demolieren. In Wien haben mir Juden erzählt, ihre Kinder legen jüdische Symbole ab, bevor sie das Haus verlassen. Es sind jene, die Jüdinnen und Juden bedrohen, die Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzen. Zu sagen: „Ich bin gegen Israel“ ist noch nicht Antisemitismus. Doch sehen Sie sich die #MeToo-Bewegung an.
Bei der sexuellen Gewalt durch die Hamas verlangten Vertreterinnen der #MeToo-Bewegung nach Beweisen.
Lipstadt
Ihr Leitspruch war ursprünglich gewesen, den Frauen zu glauben. Feministinnen sind zu Recht empört über die sexuelle Gewalt islamistischer Terrorgruppen wie Boko Haram oder Islamischer Staat, aber wenn die Gewalt Jüdinnen trifft, wollen sie erst „Beweise“ sehen. Was Rassismus ist oder Sexismus, das dürfen stets die Opfer bestimmen – außer es handelt sich dabei um Jüdinnen.
Laut einer Umfrage geben 17 Prozent der befragten jungen Menschen in den USA an, Sympathien für Hamas zu hegen. Dieser Wert fiel auf 13, nachdem ihnen gesagt wurde, dass es sich dabei um eine Terrororganisation handelt …
Lipstadt
Sie wissen es einfach nicht besser! Es ist möglich, in Harvard zu studieren und dennoch von vielen Dingen überhaupt keine Ahnung zu haben. Vom US-Gelehrten Henry L. Mencken (1880–1956, Anm.) stammt der Satz: Noch nie hat jemand eine Wette verloren, die auf die Dummheit des amerikanischen Volkes gesetzt hat. Daran muss ich denken, wenn ich Plakate sehe mit der Aufschrift „LGBTQ für Hamas“. Natürlich kann man sich mit den Palästinensern solidarisieren und auf ihr Leid aufmerksam machen. Aber diese Menschen unterstützen eine zutiefst homophobe Terrororganisation.
Gibt es einen Unterschied zwischen linkem und rechtem Antisemitismus?
Lipstadt
Ja und nein. Bis zum 7. Oktober gingen die meisten gewalttätigen Übergriffe von rechten Gruppen wie Neonazis aus. Der Antisemitismus der Linken ist eher ein Angriff des Denkens, aber auch das kann zu Gewalt führen. Keine Seite ist immun dagegen, und ich kann nicht sagen, welche von beiden schlimmer ist.
Entspringt der Hass linker und rechter Antisemiten demselben Kern?
Lipstadt
Die Ursprünge sind unterschiedlich. Die Rechten behaupten, Juden würden die weiße Gesellschaft zerstören. Die Linken behaupten, Juden wären weiße Täter, eine übermächtige Elite.
In Ihrem Buch „Denying the Holocaust“ von 1993 griffen Sie den Historiker David Irving wegen seiner Behauptung an, die Gaskammern seien ein Mythos. Er verklagte sie und verlor, weil es Ihren Anwälten gelungen war, ihn als Lügner und Hitler-Apologeten zu entlarven. Inwieweit spielt die Leugnung des Holocaust eine Rolle beim heutigen Antisemitismus in den USA und in Europa?
Lipstadt
Heute behauptet kaum noch jemand, der Holocaust hätte nicht stattgefunden. Stattdessen sagen sie, dass Juden zu viel darüber sprechen würden. Und nach dem Angriff am 7. Oktober hieß es, dieser sei eine Erfindung der Juden.
In Österreich wurde Irving wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Sie waren dagegen und sprachen von „freier Meinungsäußerung“. Was haben Irvings Lügen mit Meinung zu tun?
Lipstadt
Ich war dagegen, weil ich fürchte, dass Holocaust-Leugnung zu einer Art „verbotener Frucht“ wird. Aber mittlerweile verstehe ich, wieso in Österreich und Deutschland, wo alles angefangen hat, dermaßen strenge Gesetze gelten.
Was raten Sie jenen, die schockiert sind über das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza, aber keineswegs antisemitisch denken?
Lipstadt
Sie sollen sich Gehör verschaffen, ohne in Antisemitismus zu verfallen oder Israel an anderen Standards zu messen als den Rest der Welt. Sie sollen dem Leid der Palästinenser weiterhin Aufmerksamkeit schenken, dabei aber keine Helden aus Hamas machen.
Deborah Lipstadt, 77
ist eine US-amerikanische Historikerin und Holocaust-Forscherin.
Bekannt wurde sie durch den Prozess gegen den britischen Historiker und Holocaust-Leugner David Irving. Er verklagte Lipstadt 1996 vor einem Londoner Gericht wegen Geschäftsschädigung, Beleidigung und übler Nachrede, nachdem sie ihn in einem ihrer Bücher als Bewunderer Hitlers und Sprachrohr der Holocaust-Leugner bezeichnet hatte. Lipstadt gewann den Prozess, die Geschichte wurde 2016 mit Rachel Weisz in der Hauptrolle verfilmt („Verleugnung“). Im März 2022 ernannte Joe Biden Lipstadt zur Antisemitismus-Beauftragten seiner Regierung. Ihr letztes Buch „Der neue Antisemitismus“ (2018, Berlin Verlag) befasst sich mit dem zunehmenden Judenhass in Europa und den USA.