Antonio Negri: „Macron ist ein Mann der Rechten“
profil: Die Zahl der Regierungen, die der Europäischen Union distanziert oder feindselig gegenüberstehen, steigt. Gleichzeitig will der französische Staatspräsident Emmanuel Macron der EU mehr Kompetenzen verschaffen. Wie beurteilen Sie die Lage? Negri: Ich glaube, dass die EU in einer tiefen Krise steckt, aber dass sie erhalten bleibt. Man muss sie verändern, nicht zerstören. Allen Überlegungen liegt ein fundamentaler strategischer Wandel zugrunde: Europa ist seit 1989 ein Gegner der USA geworden. Die europäischen und die US-amerikanischen Interessen auf geopolitischer Ebene stehen in Konflikt zueinander. Dieser Gegensatz hat sich zusehends verschärft, und heute ist es ein realer Widerspruch, Teil der NATO und Teil der EU zu sein. Mit Donald Trump und seiner protektionistischen Aufwallung ist daraus eine Krise geworden, die für Europa extrem gefährlich ist. Die europäische Krise ist eine transatlantische Krise zwischen den USA und Europa. Doch das ist kein Problem, das erst gestern entstanden ist, es hat eine lange Vorgeschichte. profil: Welche Lehre muss Europa daraus ziehen? Negri: Es muss Einigkeit schaffen. Eine Schwierigkeit besteht etwa darin, dass für die Länder Osteuropas die Erinnerung an die Schrecken der Sowjetherrschaft sehr präsent ist und sie sich in Europa ohne die USA nicht sicher fühlen. Zur transatlantischen kommt noch die schwere Krise des Neoliberalismus und seiner höllischen Mechanismen. Wenn wir es nicht schaffen, das System zu verändern, werden alle Menschen zu irregeleiteten Protestierern. Es braucht eine Neuverteilung des Reichtums in Europa.
Macron tut in Frankreich alles, was er nicht tun sollte.
profil: Was trauen Sie in dieser Lage Macron zu? Negri: Sein Projekt ist teilweise richtig, aber es wird ihm kaum gelingen, es umzusetzen. Ihm wird die politische Kraft fehlen. Aus einem einfachen Grund: Er ist ein Mann der Rechten. profil: Sie als Linker konzedieren dem französischen Präsidenten aber, ein richtiges Projekt entworfen zu haben? Negri: Auf europäischer Ebene fordert er richtige Dinge, etwa die Stärkung der Europäischen Zentralbank (EZB). Ich habe die EZB immer verteidigt, weil sie ein fundamentales Element der europäischen Konstruktion ist. Sie hat nach 2008 mehrere Länder gerettet, nicht nur Italien. profil: Weshalb ist Macron für Sie ein Rechter? Negri: Weil er sich auf die Kräfte der Rechten stützt. Er glaubt, Europa auf diese Weise retten zu können. Er tut in Frankreich alles, was er nicht tun sollte: die Abschaffung der Vermögenssteuer, die Belastung der Pensionisten. Das ist verachtenswert! Er hat auch den Kampf mit den Eisenbahnern aus ideologischen Gründen begonnen. profil: Dieser Kampf hat durchaus reale Bedeutung, es geht dabei um viel Geld. Das Defizit der staatlichen Eisenbahn ist enorm hoch. Negri: Es handelt sich um vernachlässigbare Privilegien der Eisenbahner. Das Defizit der SNCF ist nicht ihre Schuld, es ist entstanden, weil überall Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut wurden. Man kann Europa nur retten, wenn man sich auf die Linke stützt. Die Bewegungen der kleinen Leute müssen das Gefühl bekommen, dass Europa zu ihrem Besten ist.
profil: Wo sehen Sie derzeit nennenswerte linke Bewegungen? Negri: Solche Bewegungen kann man immer erschaffen: Bewegungen für die Besteuerungen der Reichen etwa oder für die Einführung eines bedingungslosen Mindesteinkommens. Die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien ist eine solche. Es ist also möglich, und ich spreche in Begriffen der Politik, nicht der Utopie. profil: Nun hat sich ausgerechnet diese populäre Bewegung, die sich unter anderem für die linke Forderung eines Mindesteinkommens einsetzt, mit den Rechtspopulisten der Lega verbündet und eine rechtspopulistische Regierung gebildet. Negri: So ist es leider. profil: Sie arbeiten seit Jahrzehnten an Modellen und Theorien, wie man die Demokratie verbessern und linke Politik erfolgreich machen könnte. Nun bedienen sich neue, rechte Bewegungen aller möglichen Formen der Demokratie, um an die Macht zu kommen. Warum haben Ihre Gegner Erfolg und Sie nicht? Negri: Wir bezahlen heute für eine radikale Entwicklung: die Transformation der Arbeiterklasse. Die Industriearbeiterschaft gibt es längst nicht mehr, aber das Bewusstsein existiert noch. Die Sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften verstanden erst mit großer Verzögerung, dass ihr Subjekt sich verändert hatte. Heute spricht man davon, dass die Mittelschicht schwindet. Das stimmt – aber nicht, weil sie aufsteigt, sondern weil sie ärmer wird.
Man muss eine neue Linke bauen, dafür kämpfe ich.
profil: Gerade die Verlierer wählen in großer Zahl die Rechtspopulisten. Negri: Das ist nicht neu. Ich vertrete aber die Hypothese, dass sich dieser Typus einer Arbeiterschaft auf der Basis seiner realen Interessen und Bedürfnisse neu formieren wird. profil: Sie meinen, die derzeitigen Rechtswähler werden zur Linken zurückkehren? Negri: Nein, nicht zur alten Linken. Man muss eine neue Linke bauen, dafür kämpfe ich. Die Partei an sich ist alt geworden, die Form der Repräsentation mittels Entsendung hat sich überholt. Heute funktioniert politische Kommunikation völlig anders. Sie muss redemokratisiert werden. Die Leute, die das Projekt der Fünf-Sterne-Bewegung begonnen haben, verstanden das sehr gut. Aber man muss eben aufpassen, dass die Menschen in diesem Prozess der Kommunikation nicht enteignet werden, wie das etwa bei dem Facebook-Skandal um Cambridge Analytica der Fall war. In der Macht über die Daten besteht die wahre Hegemonie.
profil: Hat die Fünf-Sterne-Bewegung die Rezepte der Linken geklaut, um eine rechte Regierung zu bilden? Negri: Glauben Sie mir, der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung ärgert mich! Ein nicht zu vernachlässigender Teil derer, die sie gewählt haben, hatte sich an Kämpfen gegen die Privatisierung des Wassers und für Umweltthemen beteiligt. Viele dieser Öko-Aktivisten haben sich über lokale und später zentral vernetzte Gruppen der Fünf-Sterne-Bewegung angeschlossen. Jetzt sind sie in einer Allianz mit der Lega, und Sie können sich vorstellen, welche enormen Widersprüche diese Verbindung schafft. profil: Warum haben sie sich zusammengeschlossen? Negri: Aus Hass auf die traditionellen Parteien, vor allem auf die sozialdemokratische PD. profil: Wem wird diese Regierung nützen? Negri: Die Lega unter Salvini wird die Fünf-Sterne-Bewegung dominieren, weil sie weitaus erfahrener und besser organisiert ist. Sie wird eine neoliberale Politik betreiben. Heute hat sich der Neoliberalismus vom Markt zum Staat verlagert. Die herrschenden sozialen Beziehungen werden durch staatlichen Interventionismus bestätigt. Vor dieser Situation stehen wir in allen europäischen Ländern. Diese populistischen Kräfte agieren in völliger Übereinstimmung mit dem Neoliberalismus.
Zur Person Antonio Negri ist ein italienischer Soziologe und politischer Philosoph. Negri gilt als einer der bekanntesten Theoretiker des autonomen Marxismus. Seine Nähe zur linken Bewegung Italiens brachte ihm Ende der 1970er-Jahre eine Verurteilung und Lehrverbot ein. Er schrieb mehrere Bücher, sein bekanntestes ist „Empire“, das er 2000 zusammen mit Michael Hardt veröffentlichte. Vergangene Woche hielt er einen Vortrag für die Reihe „Otto Wagner Lectures“ an der Akademie der bildenden Künste in Wien.
Interview: Robert Treichler