Das neue Mittelmeer

Arktis: Wie der Klimawandel die Polarregion durcheinanderbringt

Arktis. Wie der Klimawandel die Polarregion durcheinanderbringt

Drucken

Schriftgröße

Von Martin Staudinger, Kirkenes

Es war noch November, als der letzte Großfrachter hier festmachte. Er kam aus dem Osten: durch die Beringstraße in den Arktischen Ozean, dort tausende Kilometer an den kältetoten Küsten Nordsibiriens entlang und schließlich unter Novaya Zemlya vorbei in die Barentssee. Während das Schiff in den Hafen von Kirkenes einlief, schloss das Eis hinter ihm bereits die Nordostpassage.

Jetzt herrscht Ruhe am Pier. Ein paar Fischtrawler liegen vor Anker, der Postdampfer ist heute ausgeblieben: Sturm über den Lofoten. In der unentschlossenen Mittagsdämmerung des Polarwinters gleiten Schneeflockenwände vor dem Wind über den Fjord.


Größere Kartenansicht

Aber wenn Terje Meyer aus dem Fenster in die Zukunft blickt, sieht er einen Hafen, in dem geschäftiges Treiben herrscht - Eisklasse-Frachter, Containerschiffe und bauchige Tanker, die ihre Ladung umschlagen, aufnehmen oder löschen: Öl, Flüssiggas und Nickel aus Russland; Eisenerz und Stahl aus Norwegen; Mineralien aus Finnland; Konsumgüter aus Fernost.

"Hier könnte ein neues Rotterdam entstehen“, sagt Meyer, Chef der Kirkenes Næringshage, einer Mischung aus Handelskammer und Innovationszentrum.

Der Vergleich mit dem drittgrößten Seehafen der Welt mag hoch gegriffen sein für das Städtchen in Finnmark, dem größten und gleichzeitig bevölkerungsärmsten Bezirk Norwegens. Dennoch drückt Meyer damit ein Lebensgefühl aus, das nicht nur Kirkenes erfasst hat, sondern den gesamten Polarkreis. Der Klimawandel bringt die Verhältnisse in der jahrzehntelang buchstäblich am Ende der Welt gelegenen Region durcheinander - und macht sie zum Kristallisationspunkt neuer Hoffnungen, Begehrlichkeiten und Konflikte.

Während das randständige Kirkenes bloß von einer Zukunft als geschäftiger Umschlagplatz am Eingang zur Nördlichen Seeroute - dem Polar-Abschnitt der Nordost-Passage, die Europa mit Asien verbindet - träumt, machen die Arktis-Anrainerstaaten handfeste Machtpolitik. Die Rhetorik dabei wird immer schärfer.

Hoheitsgebiete
Ende November präsentierten die USA eine eigene Arktis-Strategie, die ein Bekenntnis zur Verteidigung ihrer "Souveränität“ enthält. Wenig später erhob Kanada Anspruch auf Seegebiete bis an den Nordpol: "Wir zeichnen die Außengrenzen unseres Landes. Wir verteidigen unsere Hoheitsgebiete“, sagte die Arktisministerin Leona Aglukkaq.

Russland kündigte daraufhin an, seine Militärpräsenz am Polarkreis massiv zu verstärken. In der Region beginne gerade "eine richtige Schlacht - wenn auch vorerst eine virtuelle, aber mit ernsthaften Akteuren“, erklärte Vize-Premier Dmitri Rogosin knapp vor Weihnachten: "Es geht darum, wer sich dort als Erster festsetzte, und zwar nicht verbal, sondern physisch.“

Säbelrasseln
Die Gründe für das Säbelrasseln liegen auf der Hand: In der Polarregion werden ein Drittel der weltweiten Gasressourcen und immerhin 15 Prozent der Ölvorräte vermutet. Die Eisschmelze dürfte immer mehr dieser Lager in naher Zukunft erstmals zugänglich machen.

Die Warnungen von Umweltorganisationen vor den Gefahren für den polaren Lebensraum verhallen bisher ungehört: Dieser Tage beginnt etwa der russische Staatskonzern Gazprom ostentativ damit, das Priraslomnoje-Ölfeld in der Barentssee auszubeuten - wie zum Hohn für jene Greenpeace-Aktivisten, die im vergangenen September bei einer Protestaktion dagegen verhaftet und wochenlang unter Androhung langjähriger Gefängnisstrafen festgehalten worden waren, bis Präsident Wladimir Putin sie zu Weihnachten überraschend amnestierte.

Mögliche Umweltschäden durch die Ölförderung sind das eine - mehr Sorgen bereitet norwegischen Forschern das Kühl- und Isolationsmittel PCB, das jahrzehntelang von der Rüstungs- und Rohstoffindustrie eingesetzt wurde und dabei in ungeheuren Mengen freigesetzt wurde. Gänzlich unabsehbar sind schließlich die Auswirkungen des Quecksilbers, das sich mit dem Anstieg der Temperaturen vermehrt im Wasser bildet und in die Nahrungskette gelangt.

Gleichzeitig führt der Klimawandel dazu, dass zwei legendäre Schifffahrtsrouten passierbar werden: die Nordwest- und die Nordost-Passage. Beide verkürzen den Seeweg von Europa nach Asien beträchtlich. Erstere schlängelt sich durch den kanadisch-arktischen Archipel, wird aber noch kaum befahren. Zweitere, die an Sibirien entlangführt, steigt hingegen bereits merklich in ihrer Bedeutung.

Nordost-Passage
Fünf bis sechs Monate ist die Nordost-Passage inzwischen eisfrei. Über sie lässt sich die Fahrt von Rotterdam nach Schanghai in 35 Tagen bewältigen - durch den Suezkanal und die piratenverseuchten Gewässer des Indischen Ozeans dauert sie 48 Tage. 2010 hatten noch lediglich zehn Schiffe die Fahrt am Eisrand der Arktis gewagt, vergangenes Jahr waren es bereits mehr als 70. Optimisten prognostizieren, dass es 2035 bereits an die 500 sein könnten.

All das führt dazu, dass inzwischen die halbe Welt ihr Interesse an der Arktis entdeckt hat. Im vergangenen Sommer nahm der "Arctic Council“, in dem zuvor lediglich fünf direkte und drei indirekte Anrainerstaaten - USA, Russland, Kanada, Norwegen, Island sowie Dänemark, Finnland und Schweden - vertreten waren, sechs Länder als "Beobachter“ auf: China, Indien, Südkorea, Japan, Singapur und Italien. An den Treffen der Organisation, die bisher lediglich symbolische Bedeutung hatte, nahmen zuletzt die Außenminister der USA und Russlands höchstpersönlich teil.

„Great Games”
Selbst Österreich hat bereits Interessen in der Region: Die OMV sucht in der Barents- und in der Norwegischen See an mehr als einem Dutzend Stellen nach Öl. Schon ist gelegentlich die Rede von einem "Great Game“ im Norden, wie es im 19. Jahrhundert von Russland und Großbritannien um Afghanistan gespielt wurde.

Davon ist in Kirkenes nur ein ferner Widerhall zu vernehmen. Dennoch hat sich das Leben hier in den vergangenen Jahren einschneidend geändert.

Keine zehn Kilometer östlich der Stadt befindet sich der einzige Grenzübergang Norwegens zu Russland. Auf der anderen Seite liegt Nikel, nicht viel mehr als eine Schwerindustrieanlage mit angeschlossenen Plattenbauten und 12.000 Einwohnern, Tendenz sinkend. Dennoch sind vergangenes Jahr nicht weniger als 300.000 russische Staatsbürger nach Kirkenes gekommen - die meisten, um garantiert nicht gefälschte Markenartikel zu kaufen. Das bescherte dem 8000-Seelen-Städtchen Umsätze von schätzungsweise 200 Millionen Kronen, umgerechnet fast 24 Millionen Euro.

Norwegen ist einer der wenigen Staaten, der mit seinem Nachbarn Russland kaum Probleme hat. 1945 hatte die Rote Armee den Bezirk Finnmark von der deutschen Besatzung befreit, sich wenige Monate nach Kriegsende aber wieder zurückgezogen.

Danach blieb das bilaterale Verhältnis gut. Es überdauerte selbst den Kalten Krieg, in dem Norwegen als Gründungsmitglied der Nato auf der Seite des Westens stand und sich in der Barentssee die waffenstarrenden Atom-U-Boote der verfeindeten Supermächte ein hochriskantes Katz- und Maus-Spiel lieferten.

Die Norweger haben den Russen auch die Sache mit den Monsterkrabben verziehen. Sowjet-Wissenschaftler hatten in den 1960er-Jahren Exemplare der in Kamtschatka beheimateten Spezies Paralithodes camtschaticus zu Forschungszwecken in der Barentssee ausgesetzt. Heute fressen die Tiere, die eine Beinspannweite von bis zu 1,80 Meter haben, den norwegischen Meeresgrund bis an die Atlantikküste leer. Die Plage ist aber gleichzeitig auch eine Delikatesse, die zu Kilopreisen bis 150 Euro weltweit exportiert wird.

Das größte Problem, das Kirkenes derzeit hat, sind aber die Jobs - es gibt nämlich zu viele davon. Die Arbeitslosigkeit liegt bei lediglich 1,5 Prozent, in den kommenden Jahren glaubt die Stadt, 1500 bis 2000 neue Einwohner anlocken zu müssen, um den steigenden Bedarf an Beschäftigten zu decken.

Immerhin hat die nahegelegene Sydvaranger-Mine, die 1996 als unrentabel geschlossen wurde, inzwischen den Betrieb wieder aufgenommen. Die boomende Mineralindustrie im benachbarten Finnland braucht dringend einen ganzjährig eisfreien Hafen. Und immer mehr russische Kapitäne laufen Kirkenes an, um ihre Schiffe überholen zu lassen oder Vorräte aufzustocken. Das geht erstens schneller und zweitens ohne Schmiergeld.

Ironischerweise birgt der Klimawandel, der dem hohen Norden all diese Chancen eröffnet, auch die größte Gefahr für die hochfliegenden Pläne: Er könnte dazu führen, dass der Golfstrom, der warmes Wasser an Kirkenes vorbei bis nach Murmansk pumpt, schwächer wird oder gar versiegt - und das Eis dort wachsen lässt, wo es bisher nicht war.