„Bergkarabach ist Armenien.“ Oppositionelle bei einem Protest in Jerewan.
Reportage

Armenien: Land in der Schusslinie

Der Konflikt mit Aserbaidschan bestimmt seit Jahren das Schicksal Armeniens. Neue Friedensverhandlungen sorgen jetzt für Unmut in der Bevölkerung. Eine Reise durch ein gebeuteltes Land.

Drucken

Schriftgröße

Die Protestierenden haben Straßensperren errichtet – mit Sonnenschirmen, Parkbänken und Mistkübeln. Sie trinken im Schatten gemeinsam Kaffee, Polizisten beobachten die Szenerie gelangweilt vom Gehsteig aus. So ruhig ist es nicht immer. Wiederholt kommt es zu Großdemonstrationen, Tausende versammeln sich vor dem Außenministerium oder anderen Regierungsgebäuden, immer wieder gibt es Verletzte nach Zusammenstößen mit der Polizei. Monatelang blockierte ein Camp aus knapp 30 Zelten eine zentrale Kreuzung in der armenischen Hauptstadt Jerewan, nahe der Oper. 

„Stop-Nikol“, so wird diese Bewegung genannt. Nikol Paschinjan –  47 Jahre alt, ehemaliger Journalist, ist seit 2018 Premierminister der Ex-Sowjetrepublik Armenien. Er kam nach der sogenannten Samtenen Revolution an die Macht, bei der sich im Zuge von Protesten seine Partei „Zivilvertrag“ formierte. Nun richten sich die Demonstrationen gegen ihn, denn der Regierungschef strebt ein Friedensabkommen mit dem Nachbarland und Erzfeind Aserbaidschan an.

Verschieben Sie den Slider. Nikol Paschinjan 2021 als Premierminister - und 2018 bei den Protesten. Bilder: Artyom Geodakyan / Tass / picturedesk.com; Alexander Ryumin / Tass / picturedesk.com

Im Mai traf er sich mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen İlham Alijew bei EU-Ratspräsident Charles Michel in Brüssel, Mitte Juli trafen sich die Außenminister der beiden Staaten in Tiflis. Eineinhalb Jahre nach Beginn des jüngsten Krieges um die Region Bergkarabach soll der Grenzverlauf zwischen Armenien und Aserbaidschan geklärt werden. Für seine Kritikerinnen und Kritiker bedeuten die Verhandlungen einen Verrat an der Heimat. Sie befürchten, dass Paschinjan das umkämpfte Bergkarabach an Aserbaidschan „abtreten“ wird.

Hinter der Oper schrauben sich die sogenannten Kaskaden in den Himmel, ein Komplex aus Treppen und Springbrunnen. Ganz oben bricht das Bauwerk jäh ab, zwischen den letzten Stufen und der Endplattform klafft ein Loch, aus dem Metallstreben ragen. Jerewan ist eine Stadt der Gegensätze. Da ist die glitzernde Innenstadt mit ihrer lebendigen Kulturszene, den belebten Bars und gut gekleideten jungen Menschen. Und dann, nicht weit davon entfernt, die Außenbezirke mit ihren heruntergekommenen, würfelförmigen Blockbauten, den überirdisch verlaufenden Gasleitungen, die sich an den Hauseingängen zu Toren formen. Fast das gesamte Gas kommt aus Russland. Russische Firmen dominieren Energie- und Mobilfunk, auch die armenische Eisenbahn ist im Besitz Russlands. Je nach Gesichtspunkt ist Russland Schutzmacht oder unterdrückender Hemmfaktor. Offen aussprechen traut sich das hier niemand, nur in Zwischentönen klingt durch, wie sehr das Land unter der Last der russischen Abhängigkeit schnauft. „Armenien ist eine Geisel Russlands“, sagen manche hinter vorgehaltener Hand. In der Ferne, umwoben von Wolkenschwaden, ragt der Berg Ararat mehr als 5000 Meter in die Höhe. An seinem Fuße soll Noah mit seiner Arche angelegt haben. Für die Armenier ist der Vulkan Nationalsymbol – wenn er auch, weil auf türkischem Boden, seit der Grenzschließung 1993 unerreichbar ist.

Russischer Waffenstillstand

Auf der Aussichtsplattform fischt ein Mann in Lederjacke eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche und steckt sich eine an. Er ist gesprächig, stellt sich auf Deutsch als Robert vor. Ein paar Schritte hinter ihm lehnt sein Freund Alen an einem Geländer. Ihm fehlt der rechte Arm, der Stumpf ist in Verband gewickelt. „Bergkarabach“, erklärt Robert für Alen, der weder Englisch noch Deutsch spricht. Alen ist erst 22 Jahre alt, den Arm hat er bei einem Drohnenangriff verloren. Er kämpfte im Herbst 2020 in Bergkarabach gegen Aserbaidschan. 44 Tage herrschte Krieg, Aserbaidschan konnte weit nach Bergkarabach vordringen und viele von den Armeniern gehaltene Gebiete zurückerobern.

Mit mischten Russland als Schutzmacht Armeniens und die Türkei aufseiten Aserbaidschans, das auch aus Israel Waffenlieferungen bekam. Der Krieg endete mit einer von Russland vermittelten Waffenruhe, die seither von russischen „Friedenstruppen“ gesichert wird. Dennoch kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen entlang der Grenze. Die Verantwortung für die Eskalation 2020 wird bis heute hin- und hergeschoben. Armenien habe provoziert, sagt Aserbaidschan; Aserbaidschan habe einen „Blitzkrieg“ gegen Armenien geführt, heißt es aus Jerewan. 

Robert stehen Schweißperlen auf der sonnengegerbten Stirn. „Die Sonne hier ist wie Feuer, deswegen sind auch unsere Früchte so gut. Sie haben viele Vitamine, und die braucht man, um mutig zu sein. Alle Armenier sind mutig“, sagt er. Robert hat nicht wie Alen in Bergkarabach gekämpft, sondern in Deutschland gearbeitet. Und wenn der Krieg wieder beginnt? „Dann wäre ich sofort bereit.“ Das Vaterland gehört verteidigt, findet er, gegen die Türken, die Aserbaidschaner, gegen alle. Bekämpft werden müsse auch, dass in Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan zu viel Gebiet an den Feind abgetreten wird. Deswegen hat sich Robert den Demonstrationen gegen die Regierung angeschlossen.

Bis heute dominiert der Konflikt um Bergkarabach das Leben der Armenierinnen und Armenier. Auf den Smartphones von Davit und Milena sind Bilder aus dem Krieg gespeichert. Sie leben mit ihren beiden Kindern, vier und sechs Jahre alt, am nordöstlichen Stadtrand von Jerewan. „Vor Kurzem gab es ein kleines Erdbeben, die Kinder haben gesagt: ,Wir werden schon wieder bombardiert‘“, sagt Milena. Vor allem der Vierjährige stehe immer noch stark unter Stress: „Er war ein aktives Kind, aber nachdem wir geflohen sind, hat er tagelang geschwiegen. Bis heute kann er nicht allein im Zimmer bleiben.“

Die Familie kommt aus Agnaghpyur, einem Dorf im Süden Bergkarabachs. „Wir waren etwa 600 Leute, fast nur Armenier. Unser Dorf war groß für die Gegend. Heute ist dort niemand mehr“  sagt Davit. Tag für Tag rekonstruiert er Krieg und Flucht, um das Unfassbare greifbar zu machen. „Am 27. September haben wir sehr nahe Explosionen gehört. Drei Tage danach sind die Drohnen gekommen. Am 22. Oktober wurden wir bombardiert. Der letzte Mann hat den Ort am 26. Oktober verlassen. Einen Tag lang war niemand im Dorf, keine Armenier, keine Aserbaidschaner. Dann sind sie einmarschiert.“

Davit ist enttäuscht, weil die armenische Verteidigung nicht gut organisiert, der Angriff Aserbaidschans aber doch erwartbar gewesen sei. „Man konnte es ahnen. Aber die Maßstäbe waren unerwartet. Also, dass auch die Türkei und Pakistan dahinterstecken.“

Die Gipfel Bergkarabachs ragen bis zu 4000 Meter in den Himmel. Mal gehörten sie zu Armenien, mal zu Aserbaidschan, und immer war das Gebiet umkämpft. Als sie Anfang der 1920er-Jahre als Sowjetrepubliken Teile der UdSSR werden, erheben beide Länder Anspruch auf Bergkarabach. Im Juli 1921 wird das Kerngebiet als Autonome Oblast Bergkarabach direkt Aserbaidschan unterstellt, obwohl dort zu diesem Zeitpunkt mehr als 90 Prozent ethnische Armenierinnen und Armenier leben.

Immer wieder kommt es in der Folge zu gewaltsamen Zwischenfällen und Eskalationen. Nach der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbaidschans von der Sowjetunion erklärte sich auch das Gebiet Karabach am 2. September 1991 als unabhängig. Die Republikausrufung ließ die Spannungen hochgehen, die von der Roten Armee beim Abzug zurückgelassenen Waffen beschleunigten die Dynamik, bis es Anfang 1992 zum ersten Krieg in Bergkarabach kam, an dessen Ende mehr als 25 000 Todesopfer, 1,1 Millionen Vertriebene, nach zwei Jahren schließlich ein durch Russland vermittelter Waffenstillstand und die Kontrolle des Gebiets durch Armenien standen.

Der Konflikt köchelt über die Jahre und flammt am 27. September 2020 wieder auf. Nach Gefechten entlang der Waffenstillstandslinie folgen 44 Tage Krieg, in denen Aserbaidschan weit nach Bergkarabach vordringt und viele der von den Armeniern gehaltenen Bezirke zurückerobern kann.

Der Krieg um Bergkarabach zählt zu den Ersten, bei denen Drohnen eine entscheidende Rolle spielten. „Sie sind klein und fliegen sehr hoch“, sagt Davit, „man sieht sie fast nicht, aber drei Sekunden, bevor die Bombe einschlägt, hört man ein Geräusch.“ Er zeigt Screenshots auf seinem Handy: „Die aserischen Soldaten haben auf TikTok ein Video gepostet, wie sie vor unserem Haus stehen. Dort hinten haben wir gewohnt. Angeblich ist das Haus jetzt eine Kaserne.“

Es war nicht Davits erster Krieg. Im Konflikt von 1992 bis 1994 brachte Armenien weite Teile Bergkarabachs unter seine Kontrolle und rief eine unabhängige Republik aus. Der selbst proklamierte Staat wird von keinem einzigen Land anerkannt, auch nicht von Armenien. Doch schon die Flagge demonstriert die enge Anbindung: Dem armenischen Rot-Blau-Orange wurde lediglich ein Pfeil aus weißen Rechtecken hinzugefügt. Die Flagge ist zum Symbol des Widerstandes gegen die Regierung geworden. Sie hängt an Balkonen, wurde im Protest-Camp über Zelte drapiert und klebt als Sticker auf Verkehrsschildern und Parkbänken. Je weiter man jedoch Richtung Idschewan in den Norden Armeniens vordringt, desto seltener ist die Flagge zu sehen.

An der Grenze

Idschewan, die Hauptstadt der Provinz Tawusch, liegt inmitten der Gugark-Berge. Hier wurde Premierminister Paschinjan geboren; hinter den Bergrücken im Nordosten verläuft die Grenze zu Aserbaidschan.

Der Bürgermeister der Stadt, Arthur Ghagharjan, gehört der Partei des Premierministers an. Er hat an einem langen Holztisch im Rathaus von Idschewan Platz genommen, rechts und links von ihm hat er seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgereiht. Schulter an Schulter und mit recht ernsten Mienen sitzen sie da, der Bürgermeister, die Pressesprecher, die Sozialreferentin und die Büroleiterin.

„Wenn die Leute demonstrieren wollen, dann können sie das tun“, sagt Ghagharjan auf die Frage, warum in seiner Stadt niemand auf die Straße geht. Dann lenkt er ab, das Thema sei ihm „zu politisch“. Die Friedensverhandlungen und die Proteste gegen die Regierung lässt der Bürgermeister aus, lieber erzählt er davon, wie seine Gemeinde 400 Geflüchtete aus Bergkarabach aufgenommen hat. Rund 40 seien geblieben. In Idschewan habe man die Kampfhandlungen aus nächster Nähe mitbekommen. „An den Mauern im Kindergarten kann man immer noch Einschusslöcher sehen“, erzählt die Sozialsprecherin Greta Harutyunyan. „Als wir einen neuen Fußballplatz bauen wollten, haben wir lange nach einer Lage gesucht, die nicht in einer der Schusslinien liegt.“

In Idschewan sei es mittlerweile sicher, betont Bürgermeister Ghagharjan. Dennoch baut man im SOS-Kinderdorf unweit vom Rathaus gerade einen Bunker. An der Wand im Administrationsgebäude hängt ein Plakat mit der Aufschrift: „Seien Sie bereit, sich den Gefahren zu stellen. Vorsicht vor Minen.“ Und darunter: „Halten Sie sich von verdächtigen Objekten fern. Vermeiden Sie Bereiche mit viel Vegetation, ehemalige Militärbasen, Gräben, verlassene, grasbewachsene Straßen.“ In der Schule haben die Kinder ein eigenes Fach für Zivilschutz.

Um das Administrationsgebäude herum stehen Mehrparteienhäuser aus hellen Ziegelsteinen, in denen 14 Familien leben. Die Gebäude sind neu, das Dorf gibt es seit sechs Jahren. Kinder aus armen Familien kommen hier bei Gasteltern unter. Armenien ist seit 2011 ein Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, Außenminister Alexander Schallenberg war zuletzt im Februar dieses Jahres in Jerewan. Man wolle die bilaterale Zusammenarbeit vertiefen, hieß es. 

Aus einer der Wohnungen im Kinderdorf riecht es nach stark gewürzter Suppe. Merri, eine Frau mit herzlichem Lächeln, das mehrere Goldzähne freilegt, öffnet die Tür. Sie und ihr Mann kümmern sich um vier Geschwister, deren Eltern nicht die finanziellen Mittel haben, um für sie zu sorgen. Sie sind stolz auf die Kinder. Ani, die Jüngste, spielt Kanon, ein traditionelles armenisches Musikinstrument. Mit Fingerhüten aus Metall zupft sie über die Saiten. Im Zimmer von Grigor, dem ältesten Bruder, hängen unter einer Urkunde viele Medaillen, die Bänder in den Farben der armenischen Flagge.

Der 15-Jährige ist Boxer, er trainiert mehrmals die Woche. Schüchtern, aber stramm, mit nach vorn gestrecktem Kinn, lehnt er im Türrahmen. Dann läuft er in sein Zimmer, holt Federpennal und Block und ist mit kurzer Verabschiedung zur Tür hinaus, auf dem Weg zu einem Mathematik-Förderkurs, den er jeden Montagnachmittag besucht. Er will bald auf die Militärakademie gehen und später für Armenien kämpfen. Er sagt: „Mein Onkel war Soldat, und wir müssen unsere Heimat verteidigen.“ „Das will er schon, seit er klein war“, sagt die Pflegemutter. Am Straßenrand stehen Werbeplakate für die Armee und die Militärakademie, an der sich Grigor bewerben will. Darauf salutiert ein Soldat, die armenische Flagge weht durchs Bild. Daneben steht: „Im Dienste meines Volkes.“

Kurz nach Idschewan tritt der Fahrer das Gas durch. Sein Kleinwagen rumpelt über die uneben asphaltierte, kurvige Bergstraße, die entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze Richtung Georgien führt. Er schlängelt sich neben weiß-blauen Leitplanken die Hügel hinauf und wieder hinunter. Manchmal schimmert es schwarz in der Landschaft, die Gegend ist reich am Vulkangestein Obsidian. Bergkarabach wird auch „der schwarze Garten“ genannt. In manche Kurven hat man demonstrativ einen in den armenischen Nationalfarben angemalten Steinbrocken gestellt oder eine Flagge gehisst. Gelegentlich bremst der Fahrer abrupt – eine Kuh blockiert die Straße. Die Landschaft fliegt vorbei, der Fahrer kündigt an, er müsse jetzt noch etwas schneller fahren, hier werde oft geschossen. Rechter Hand, zwischen den Hügelkuppen, sind die aserischen Stellungen. Auf Google Maps sehen die Gebiete aus wie kleine Inseln, gekennzeichnet „Aserbaidschan“.

Noyemberyan liegt direkt an der Grenze: rund 4900 Einwohner, eine mit US-amerikanischen Geldern geförderte Universität, ein imposantes Denkmal für die Opfer des Krieges. Vahan, ein ordentlich angezogener Mann um die 50, deutet von seinem Balkon aus auf ein Dorf in der Senke. „Dort drüben ist schon in Aserbaidschan. Von dort haben sie 1994 herübergeschossen.“ Vahan zeigt, dass Teile der Metallstreben des Geländers am Balkon fehlen, und deutet auf Splitterschäden in der Decke des Hauses. Die vordere Wand sei ganz weg gewesen, nachdem in der Nähe eine Bombe eingeschlagen war. Im Keller gibt es einen behelfsmäßigen Bunker, dort hat sich die Familie während der Kriege versteckt.  

Vahan betreibt eine Fasanzucht mit seiner Nichte Narine. Nach ihrem Sprachstudium in Yerevan ist die 24-Jährige in ihren Heimatort zurückkehrt. Narine erzählt, dass die Leute sie oft nach dem Grund der Rückkehr fragen. Viele jungen Armenier gehen nach dem Studium ins Ausland, werden Teil der zahlreichen armenischen Diaspora. An manchen Tagen hat sie darauf selbst keine Antwort. Heute schon. Natürlich habe sie kurz überlegt, ins Ausland zu gehen, „aber es ist wichtig, dass auch jemand hier bleibt. Ich kann meiner Heimat helfen, ich kann Kurse geben, ich organisiere mit dem Roten Kreuz Zivilschutztrainings.“ 

Um halb 12 schenkt der Fasanzüchter den ersten Wodka ein, drei weitere sollen  in der nächsten halben Stunde noch dazukommen. Vielleicht weil es Glück bringt, und sicher, weil es ein Zeichen der überbordenden armenischen Gastfreundschaft ist. Er erzählt, dass er mit seinem Geflügel 500 Haushalte in der Region versorgt. Die Arbeitslosigkeit in der Provinz Tawusch ist hoch, viele Menschen sind arm. Der Krieg in der Ukraine droht die Lage weiter zu verschärfen, die Preise sind um bis zu 30 Prozent gestiegen. Vor allem für kleine Unternehmen wird das zunehmend zur Belastung. Etliche Geschäfte haben zugesperrt.

Sona betreibt in Noyemberyan einen kleinen Friseursalon, die Miete ist gestiegen, das bereitet ihr große Sorgen. Eröffnet hat die 35-Jährige den Salon vor zwei Jahren mit der Unterstützung von SOS-Kinderdorf. Sie wohnt mit ihren Kindern Anahit und Tigran nur ein paar Minuten den Berg hinauf. Für ihre Gäste hat sie aufgetischt. Auf einem Teller türmen sich Erdbeeren, Sona kocht Kaffee, es gibt Cola und Orangensaft.

Ihr ganzes Leben hat Sona im Grenzdorf verbracht, zwei Kriege hat sie miterlebt. So etwas wie Frieden ist ihr fremd. Ans Weggehen hat sie dennoch nie gedacht. „Warum sollte ich?“, sagt Sona, „das hier ist meine Heimat.“ Ihre 15-jährige Tochter Anahit singt ein Lied zum Abschied, ihre Stimme erfüllt das Wohnzimmer. Worum es in dem Lied gehe, fragt jemand. Anahit antwortet verlegen. „Um die Liebe“, sagt sie. „In allen armenischen Liedern geht es um die Liebe – oder um das Vaterland.“

Diese Reportage entstand im Rahmen einer von SOS-Kinderdorf organisierten Pressereise. Die NGO übernahm Teile der Kosten. Zusammen mit der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) hilft SOS-Kinderdorf seit 1988 armutsgefährdeten Familien im Land. 

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

war bis Oktober 2024 stv. Online-Ressortleitung und Teil des faktiv-Teams.