Allein gegen Russland: Schaffen wir das?
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Die Hände waren ausgestreckt, aber es geschah nicht in versöhnlicher Absicht, sondern um zu drohen. In einem beispiellosen Affront haben US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Freitag der Vorwoche bei dessen Besuch im Weißen Haus bloßgestellt.
Trump erklärte in dem Gespräch im Grunde seine Sympathie für Putin, Vance forderte Selenskyj schreiend auf, sich bei den USA zu bedanken (was jener in den vergangenen drei Jahren laufend gemacht hat).
Es war für die ukrainischen Teilnehmer an dem Treffen und für sehr viele internationale Beobachter ein schockierendes Schauspiel. Denn es signalisierte, dass die transatlantische Partnerschaft zwischen den USA und Europa wohl in Scheidung begriffen ist. Tatsächlich markiert der Affront vom 28. Februar eine Zeitenwende. Die USA, seit acht Jahrzehnten Schutzmacht Europas, wenden sich von ihren Verbündeten ab – und fallen ihnen womöglich sogar in den Rücken.
Europa braucht jetzt einen Schnellkurs in Selbstverteidigung.
Der US-Historiker Timothy Snyder, ein hervorragender Kenner des transatlantischen Gefüges, erklärte nach dem Gipfeltreffen zwischen Trump und Selenskyj, was hier auf dem Spiel steht – und wieso über die Motive der US-Regierung nur spekuliert werden kann.
„Warum sollte man Freunde zu Rivalen machen und so tun, als ob ein Rivale ein Freund wäre?“, fragt Snyder. Möglicherweise habe Trumps neues Verständnis für Russland gar nichts mit amerikanischen Interessen zu tun, der Friedensprozess sei lediglich ein Vorwand, um Beziehungen zu Russland aufzunehmen: „Es war von Anfang an die Politik von Musk-Trump, eine Allianz mit Russland aufzubauen.“
Bereits Mitte Februar hatte Trump einen – als sehr amikal beschriebenen – Telefontermin mit Wladimir Putin absolviert, in dem sich die beiden auf bilaterale Friedensbemühungen – ohne Einbeziehung Europas oder der Ukraine – verständigten und Trump Putin weitreichende Zugeständnisse etwa bezüglich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine machte.
Nach diesem Telefonat begann Trump auch, Selenskyj öffentlich als demokratisch nicht legitimierten „Diktator“ zu bezeichnen und der Ukraine die Schuld an dem Krieg anzuhängen.
Die Ukraine hat die Verbreitung von Atomwaffen verlangsamt, indem sie bewiesen hat, dass eine konventionelle Macht einer Atommacht in einem konventionellen Krieg widerstehen kann.
Timothy Snyder
Historiker
Am dritten Jahrestag der russischen Invasion stimmten die USA in der UN-Generalversammlung gegen eine Resolution, die Russland als Aggressor bezeichnete – gemeinsam mit Russland, Nordkorea, Weißrussland und Israel.
Dabei habe die Ukraine praktisch die gesamte NATO-Mission erfüllt und den russischen Großangriff im Wesentlichen allein abgewehrt, schreibt Snyder. „Sie hat die chinesische Aggression gegen Taiwan abgeschreckt, indem sie gezeigt hat, wie schwierig offensive Operationen sein können. Sie hat die Verbreitung von Atomwaffen verlangsamt, indem sie bewiesen hat, dass eine konventionelle Macht einer Atommacht in einem konventionellen Krieg widerstehen kann.“
Mit seiner Behauptung, die Ukrainer riskierten durch ihren Widerstand gegen Russland einen „Dritten Weltkrieg“, wiederhole Trump russische Propaganda: „Die Wahrheit ist genau das Gegenteil. Indem er die Ukraine im Stich lässt, riskiert Trump eine schreckliche Eskalation und sogar einen Weltkrieg.“
Allerdings gibt es vielleicht doch eine Begründung für Trumps Eskalation, die zudem so banal ist, dass sie fast naheliegt: Selenskyjs Beharren auf Sicherheitsgarantien für einen Friedensprozess hat Trumps altes Wahlversprechen torpediert, den Krieg durch einen schnellen Pakt mit Putin sofort zu beenden. Selenskyj hat ihm diesen Erfolg verweigert. Das nimmt der US-Präsident persönlich.
Antipathien für Selenskyj hegt Trump seit Jahren. Während seiner ersten Amtszeit versuchte der US-Präsident, ihn im Zusammenhang mit Hunter Bidens Ukraine-Geschäften zu erpressen, am Ende mündete die Angelegenheit allerdings in einem Amtsenthebungsverfahren gegen Trump.
Der Eklat im Weißen Haus wurde von vielen europäischen Beobachtern als gezielte Rache betrachtet, als Hinterhalt, in den die US-Regierung Selenskyj gelockt hatte, um ihn vor laufenden Kameras bloßzustellen.
Tatsächlich scheinen manche von Trumps Eilbeschlüssen zu Beginn seiner zweiten Amtszeit von einer To-do-Liste des Kreml abgepaust: Russland wurde diplomatisch wieder salonfähig gemacht, ja zum guten Partner erhoben, bekam schon vorab enorme Zugeständnisse in der Ukraine-Frage geschenkt, während die USA ihre eigenen FBI-Programme gegen ausländische Einflussnahme beendeten und auch ihr militärisches Cyber-Programm gegen Russland einstellten – während sich Spitzenpolitiker vom Vizepräsident abwärts für russlandfreundliche Parteien in Europa engagieren.
Aus dem Kreml kam am vergangenen Wochenende freundliche Zustimmung zu Trumps neuer außenpolitischer Linie. „Dies deckt sich weitgehend mit unserer Vision“, erklärte Regierungssprecher Dimitri Peskow. Sollten Trump und Putin ihren Weg weitergehen, könne dieser „rasch und erfolgreich“ sein.
Was kann man – in Moskau – mehr wollen?
Nun ja, zum Beispiel ein Ende der Sicherheitspartnerschaft zwischen den USA und Europa.
Der Westen, das war immer vor allem Amerika. Jetzt steigen die USA aus diesem Westen aus. Das sei „das Ende der Weltordnung“, wie wir sie kennen, sagt der Politologe Herfried Münkler im Gespräch mit profil. Das bedeute, nach dem Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine, eine zweite Zeitenwende. Und diese sei sogar „noch größer und folgenreicher“.
Sind die USA gar in Putins Team übergelaufen, wie der US-Experte Jeremy Shapiro, Forschungsdirektor im European Council on Foreign Relations, dem US-Magazin „The New Yorker“ sagte? „Wir haben in diesem Krieg die Seiten gewechselt. Es gibt keine andere Interpretation für das, was der Präsident in den vergangenen Tagen gesagt hat.“
Am Montag stoppte Trump schließlich die US-Militärhilfen für die Ukraine. Und am Mittwoch folgte die Nachricht, dass die CIA auf Weisung Trumps die Weitergabe von Geheimdienstinformationen an Kyiv aussetzt.
Wie weiter mit der Ukraine?
Aus Europa kamen sofort Solidaritäts- und Beistandsbekundungen, doch Großbritannien und die EU können die Militärhilfen aus den USA unmöglich von einem Tag auf den anderen kompensieren.
Seit Beginn des Angriffskrieges hat Europa über 132 Milliarden Euro in die militärische und zivile Unterstützung der Ukraine investiert, die USA haben etwas mehr als 114 Milliarden geleistet. Könnte Europa im Ernstfall alles allein tragen?
Laut dem deutschen Sicherheitsexperten Carlo Masala könnte Europa nur einen Teil ersetzen. Die militärische Lücke ließe sich wohl stopfen, nicht aber die Aufklärungsfähigkeit, mit deren Hilfe die Ukraine die Stellungen russischer Truppen ausspäht. Bei der Fliegerabwehr ist die Ukraine auf amerikanische Patriots angewiesen, für ihre Drohnen braucht sie das Starlink-Satellitennetzwerk von Elon Musk, mit dessen Abschaltung die USA drohen.
Um den Schaden nach dem Lieferstopp der USA möglichst gering zu halten, muss Europa rasch Artillerie, Panzer und Flugabwehrsysteme kaufen und in die Ukraine schicken. Laut Berichten haben ukrainische Soldaten bereits damit begonnen, ihre Munition zu rationieren. Bis zum Sommer reichten die Bestände noch aus, heißt es.
Weil Ungarns Premier Viktor Orbán, der in dieser Frage einen klaren Pro-Trump-Kurs fährt, gemeinsame EU-Hilfen für die Ukraine blockieren kann, braucht es andere Formate. Bereits zwei Tage nach dem Eklat im Weißen Haus trafen sich Staats- und Regierungschefs Europas, Kanadas und der Türkei in London. Dort wurde Selenskyj herzlich empfangen, weitere Unterstützung wurde zugesagt.
Doch der britische Premier Keir Starmer betonte, dass die weitere Beteiligung der USA für die Ukraine unerlässlich sei. Das weiß auch Selenskyj.
Deshalb versuchte der ukrainische Präsident, sich vergangene Woche wieder an Trump anzunähern und erklärte sich bereit, Friedensverhandlungen mit Russland zu beginnen. Auf X bedankte er sich erneut für die US-Unterstützung und schlug erste Schritte vor. Denkbar sei die Freilassung von Gefangenen und ein Waffenstillstand in der Luft und zur See. Der Vorschlag deckt sich mit dem Friedensplan, den Frankreich und Großbritannien am Wochenende präsentiert hatten – und den Russland ablehnt.
Das von Trump als Bedingung für Sicherheitsgarantien eingeforderte und zunächst geplatzte Rohstoffabkommen zwischen der Ukraine und den USA könnte nun doch rasch unterzeichnet werden, unklar ist jedoch, ob darin auch tatsächlich Sicherheitsgarantien für die Ukraine enthalten sein werden. Auf solche hatte Selenskyj bisher bestanden, damit Russland sein Land nicht zu einem späteren Zeitpunkt erneut angreift. Doch damit will Trump lieber nichts zu tun haben.
Die beste Sicherheitsgarantie wäre laut J.D. Vance ohnehin das bloße Rohstoffabkommen. Den Amerikanern „wirtschaftliche Vorteile in der Ukraine zu verschaffen“ würde sicherstellen, dass Putin nicht wieder einmarschiert, so Vance im US-Sender Fox News. Das sei effektiver als Truppen aus „irgendeinem Land, das seit 30 oder 40 Jahren keinen Krieg mehr geführt hat“.
Gemeint ist eine europäisch geführte Friedenstruppe, die im Fall eines Waffenstillstands für Sicherheit sorgen soll. Geschätzte 150.000 Soldatinnen und Soldaten bräuchte es dafür, doch bisher zeigen sich nur Australien und Kanada sowie eine Reihe europäischer Staaten (darunter Frankreich und Großbritannien) bereit, Truppen in die Ukraine zu schicken. Deutschlands designierter Bundeskanzler Friedrich Merz möchte sich nur beteiligen, wenn auch die USA mitmachen.
Koste es, was es wolle
Unabhängig davon, wie es in der Ukraine weitergeht: Auf die USA unter Trump ist kein Verlass mehr. Noch sind rund 100.000 amerikanische Soldaten in Europa stationiert – die Versicherung, dass die USA Europa im Fall des Falles zu Hilfe eilen würden. Doch US-Verteidigungsminister Pete Hegseth hat bereits angekündigt, dass die militärische Präsenz seines Landes nicht „für immer“ währen würde – und damit bei den alten Verbündeten auf dem Kontinent Panik ausgelöst. In Europa ist die Sorge groß, dass Trump einen Teil der hier stationierten Soldaten abziehen könnte. Sogar den Austritt aus der NATO hat er ins Spiel gebracht.
Oberster EU-General Brieger
Es brauche eine "rasche politische Willensbildung in der EU".
General Robert Brieger, der Vorsitzende des Militärausschusses der Europäischen Union und als solcher oberster EU-Militär, gibt sich gegenüber profil zweckoptimistisch: „Selbstverständlich ist nach wie vor davon auszugehen, dass Bündnispartner ihren eingegangenen Beistandsverpflichtungen nachkommen. Aktuell stellt sich die Frage, wie sich beide Organisationen die Auftragslast zukünftig aufteilen werden. Die Rolle und Relevanz der EU-Mitgliedstaaten wird dabei drastisch zunehmen. Dies gilt auch innerhalb des Verteidigungsbündnisses NATO.“
Soll sich der Kontinent zukünftig auch ohne die Unterstützung Amerikas verteidigen können, muss Europa aufrüsten, und zwar massiv. General Brieger: „Insgesamt ist festzustellen, dass eine zügige Kompensation eines verringerten US-Engagements in Europa eine rasche politische Willensbildung in der EU erfordert.“
Wir wollen Frieden durch Stärke.
Ursula von der Leyen
EU-Kommissionspräsidentin
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug vor, im Sinne einer „Wiederaufrüstung“ Summen von bis zu 800 Milliarden Euro zu mobilisieren. Ihr Plan umfasst eine Lockerung der Schuldenregeln, damit EU-Mitgliedstaaten mehr für Verteidigung ausgeben können. Ein Fonds von 150 Milliarden Euro soll EU-Länder zudem bei Investitionen in die Verteidigung unterstützen. Anders als in den USA entscheidet in der EU aber eine sehr diverse Gruppe von 27 verschiedenen Regierungen über ihre jeweiligen Verteidigungsausgaben.
Um diese Bemühungen zu koordinieren, lud EU-Ratspräsident Antonio Costa am Donnerstag zu einem außerordentlichen Treffen der Staats- und Regierungschefs nach Brüssel. Dort einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf mehr Geld für die Verteidigung Europas.
„Wir wollen Frieden durch Stärke“, erklärte Ursula von der Leyen bei dem Gipfel, in dessen Erklärung auch festgehalten wurde, dass es „keine Verhandlung über die Ukraine ohne die Ukraine“ geben könne – dagegen erhob Ungarns Premier Viktor Orbán freilich Einspruch.
In Berlin war die wesentliche Weichenstellung zu diesem Zeitpunkt schon erfolgt. Deutschlands designierter Bundeskanzler Friedrich Merz brach mit fast allem, was er bisher vertreten hatte, und schnürte gemeinsam mit der SPD ein Finanzpaket von historischem Ausmaß. Für Infrastrukturmaßnahmen sollen in den kommenden zehn Jahren 500 Milliarden Euro freigemacht werden, den Verteidigungsausgaben sind gar keine Grenzen gesetzt. Für sie soll sogar die verfassungsmäßige Schuldenbremse gelockert werden, und zwar rasch. Im Bundestag braucht es dafür eine Zweidrittelmehrheit, möglich wäre das mit der Zustimmung der Grünen.
Die Sicherheit Europas auf eigene Beine zu stellen, wird jedenfalls Unmengen an Geld kosten. Um einem Angriff standzuhalten, wäre laut einer Analyse des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ein jährliches Verteidigungsbudget von rund 250 Milliarden Euro nötig. Das ist zwar weniger, als während der Coronapandemie mobilisiert wurde. Aber immer noch ein riesiger Brocken.
Aufgestellt werden müssten rund 50 zusätzliche Brigaden, 1400 neue Kampfpanzer und 2000 Schützenpanzer – mehr, als sich derzeit in den Beständen der deutschen, französischen, italienischen und britischen Armeen finden. Zudem müssten jährlich rund 2000 Langstreckendrohnen produziert werden. Laut der Analyse braucht es geschätzte 300.000 Soldatinnen und Soldaten – was ohne die Wiedereinführung der Wehrpflicht vor allem in Deutschland kaum machbar wäre.
In der Praxis kommt das Problem der militärischen Koordination dazu. Anders als die US-Streitkräfte sind Europas Armeen auf 28 nationale Heere (EU und Großbritannien) verteilt. Sie müssten im Ernstfall, sollte Europa tatsächlich angegriffen werden, erst einmal miteinander abgestimmt werden. Das könnten derzeit nur die USA, sagt der Militärexperte Franz Stefan Gady gegenüber profil: „Nur sie verfügen in Europa über die notwendigen Strukturen, Kommandozentren, Führungssysteme und die dazugehörigen Stäbe.“ Derzeit sei kein europäisches Land in der Lage, ohne amerikanische Unterstützung einen Großverband wie ein Korps zu führen, geschweige denn eine ganze Armee. Praktische Erfahrungen gibt es nicht, und auch gemeinsame Übungen europäisch geführter NATO-Korps haben bisher nur in der virtuellen Welt stattgefunden – in Computersimulationen.
Diskussionen über die Souveränität Europas prallen auf die harte militärische Realität.
Franz Stefan Gady
Militärexperte
Bis Europa in der Lage ist, seine vielen verschiedenen Armeen miteinander zu koordinieren, werden Jahre vergehen. Und es stellt sich die Frage, welches Land dabei die Führung übernimmt. Anspruch darauf stellt Deutschland, doch auch Frankreich, Großbritannien und Polen wollen mitreden.
„Diskussionen über die Souveränität Europas prallen auf die harte militärische Realität“, fasst Gady das Dilemma zusammen.
In seinem Buch „Die Rückkehr des Krieges“ zeichnet der Militäranalyst zwei Szenarien für einen Angriff Russlands auf Europa. Im ersten greift Russland die baltischen Staaten an und versucht in einem Abnutzungskrieg, die NATO zu zerschlagen. Im zweiten Szenario nehmen russische Truppen die Hauptstadt Litauens ein – und erpressen den Westen mit der Geiselnahme von Vilnius und der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen.
Würden die USA Europa zur Hilfe eilen? Solange US-Truppen in Europa stationiert sind, sei die Bündnistreue Amerikas glaubwürdig, sagt Gady. Im Falle eines nuklearen Angriffs auf NATO-Mitglieder sind die USA verpflichtet, Vergeltungsschläge durchzuführen. Doch allein der Zweifel an der Bündnistreue der USA mache eine nukleare Erpressung durch Russland wahrscheinlicher.
„Ohne den Integrator USA droht das ganze europäische Verteidigungskonstrukt zu kollabieren“, sagt Gady.
Auf die Frage, was es für die strategische Autonomie Europas bräuchte, schickt Gady eine lange Liste von Abwehr- und Aufklärungssystemen, Munition und Kriegsgerät sowie Langstrecken- und Präzisionswaffen. Allein für den Schutz der NATO-Verbände im Baltikum wären 70 bis 90 Langstrecken-Flugabwehrsysteme nötig – mehr als doppelt so viel, wie derzeit in Europa vorhanden sei.
Ist Europa überhaupt in der Lage, die nötige Ausrüstung zu produzieren? Nach den jüngsten Botschaften aus dem Weißen Haus sind die Auftragsbücher europäischer Rüstungshersteller gefüllt, die Aktienkurse im Höhenflug. Doch es fehlt an Fachkräften und an Zeit: Von der Bestellung bis zur Lieferung eines einzelnen Flugabwehrsystems liegen in der Regel zwischen zwei und vier Jahre.
Um Russland wirklich abzuschrecken, seien die Arsenale von Europas Atommächten Frankreich und Großbritannien zu schwach, sagt Gady. „Soll eine von Moskau und Washington unabhängige Politik verfolgt werden, wird Deutschland wohl oder übel eigene Kernwaffen entwickeln müssen.“
„Danke, Mr. Präsident“
In der Woche nach dem Rauswurf Selenskyjs aus dem Weißen Haus überwog in Europa die Solidarität mit der Ukraine, nur einer scherte wie gewohnt aus: Viktor Orbán. „Starke Männer sorgen für Frieden, schwache Männer führen Krieg“, schrieb er auf X. Donald Trump wäre mutig für den Frieden eingetreten, auch wenn das für manche schwer zu verdauen sei: „Danke, Mr. Präsident“.
In Trumps zweiter Amtszeit sitzen die Fürsprecher von Europas Rechtsextremen und Rechtspopulisten im Weißen Haus, umgekehrt ist Orbán auf dem besten Weg, so etwas wie Trumps Botschafter in Brüssel zu werden.
Für Donald Trump und seinen Vize J.D. Vance ist – glaubt man ihren öffentlichen Aussagen – nicht Russland die größte Bedrohung, sondern die vermeintliche Einschränkung der Meinungsfreiheit in Europa. Bei einer Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz düpierte Vance seine europäischen Partner mit der Behauptung, auf dem alten Kontinent würden kritische Stimmen (nämlich jene der Rechtspopulisten) zensiert. Im deutschen Wahlkampf machten Vance und Musk Werbung für die AfD, und auf Musks Gesprächskanal auf X durfte AfD-Chefin Alice Weidel unwidersprochen behaupten, Hitler wäre ein Linker gewesen.
Die USA sind unter Donald Trump zum Unterstützer radikaler Kräfte in der EU geworden, womöglich mit dem Ziel, sie zu zerstören. Ein loser Staatenbund in Europa wäre einfacher zu beeinflussen – auch vonseiten Russlands.
„Wir sollten weniger Zeit damit verbringen, uns über Putin Sorgen zu machen“, schrieb Trump auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social, „und mehr Zeit damit verbringen, uns über Vergewaltigungsbanden, Drogenbarone, Mörder und Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen zu sorgen, die in unser Land kommen – damit wir nicht wie Europa enden!“
Orbán mit Kickl
In Trumps zweiter Amtszeit sitzen die Fürsprecher von Europas Rechtspopulisten im Weißen Haus.
Ungarns Premier Viktor Orbán oder AfD-Co-Chef Tino Chrupalla hätten es kaum anders formuliert.
Nimmt Europa die Bedrohung aus Russland ernst, muss es in den kommenden Jahren Hunderte Milliarden Euro in Aufrüstung investieren. Das wiederum wird Europas Rechtspopulisten mehrere Angriffsflächen bieten: Zum einen werden sie darauf beharren, dass es für diese Milliarden bessere Verwendungsmöglichkeiten gäbe. AfD-Chefin Weidel bezeichnete das geplante deutsche „Sondervermögen“ für Bundeswehr und Infrastruktur auch schon als „rechtswidrige Megaschulden auf Kosten nachfolgender Generationen“ sowie als „dreisten Wahlbetrug“.
Zum anderen erklären etwa die AfD, Ungarns Viktor Orbán oder auch der slowakische Regierungschef Robert Fico die europäische Militärhilfe zugunsten der Ukraine ganz grundsätzlich zur Kriegstreiberei. In den rechten Social-Media-Bubbles wird die militärische Unterstützung von Kyiv längst als kriegsverlängernde Maßnahme gegeißelt. Frieden sei nur möglich, wenn die Ukraine ihre Selbstverteidigung aufgebe. Es ist die Trump-Perspektive: Putins Russland ist gar nicht der eigentliche Feind und außerdem in vielen Belangen dem dekadenten Europa mit seinen linksgrünen Sorgen sogar vorzuziehen.
Während die USA mit Präsident Trump Friedensinitiativen forcieren und jetzt auch die Militärhilfe für die Ukraine eingestellt haben, setzen die EU-Eliten um von der Leyen weiter auf Waffenlieferungen sowie Kriegsrhetorik.
Herbert Kickl
FPÖ-Chef
FPÖ-Chef Herbert Kickl ließ unmittelbar nach der Ankündigung von Ursula von der Leyens Aufrüstungsplan eine Aussendung verschicken. Darin beklagte er das „brandgefährliche Weiterdrehen an der Aufrüstungs- und Eskalationsspirale“ und erklärte: „Während die USA mit Präsident Trump Friedensinitiativen forcieren und jetzt auch die Militärhilfe für die Ukraine eingestellt haben, setzen die EU-Eliten um von der Leyen weiter auf Waffenlieferungen sowie Kriegsrhetorik.“
Es wird viel politisches Geschick brauchen, um diese Haltung einzufangen. Rational ist ihr kaum zu begegnen. Im politischen Meinungskrieg flirren die Fronten: Heimattreue Nationalisten tendieren zur Unterwerfung, friedensbewegte Linksparteien propagieren die Aufrüstung. Man könnte fast den Überblick verlieren. Ein Funktionär der rechtspopulistischen Partei Vox aus Spanien klagte dem Nachrichtenportal „Reuters“ jüngst sein Leid: „Trumps Unvorhersehbarkeit hat uns verwirrt: Greifen wir Putin jetzt an oder gehen wir auf Trumps Putin-Kurs?“

Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Sebastian Hofer
schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.

Franziska Tschinderle
schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.

Laura Schatz
seit Februar 2025 Volontärin im Digitalteam und im Auslandsressort.