„Aufwiegeln, Stichworte geben, Mobilisieren“

Lateinamerika-Experte Günther Maihold über den Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilien, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Sturm auf das Kapitol vor zwei Jahren und die Herausforderungen des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva.

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Vorige Woche erlebte die Welt eine Art Déjà-vu. Gekleidet in den brasilianischen Nationalfarben stürmten Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro den Kongress, den Regierungssitz und den Obersten Gerichtshof in Brasilia. Bei den Randalen wurden Hunderte Computer zerstört, Kunstwerke gestohlen und Akten vernichtet. Der Schaden ist enorm.

Die Zerstörungswut erinnerte an den Sturm auf das Kapitol in Washington vor zwei Jahren. Tatsächlich verbindet die Anhänger Bolsonaros einiges mit jenen Donald Trumps – und auch die beiden ehemaligen Präsidenten haben viele Gemeinsamkeiten. Doch es gibt auch wesentliche Unterschiede. Im Interview mit profil spricht Günther Maihold von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik über die Gefahr für die Demokratie durch Aufstände antidemokratischer Gruppen, gemeinsame Feindbilder und die Herausforderungen für den neuen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva.

Als Anhänger des rechtsradikalen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro vor einer Woche das Regierungsviertel in Brasilia stürmten, erinnerte das viele an den Sturm auf das Kapitol in Washington vor zwei Jahren. Hat der Mob in Brasilien sich die Anhänger Donald Trumps zum Vorbild genommen?
Maihold
Klar ist, dass eine ähnliche Strategie eingesetzt wurde, auch die Positionen Bolsonaros und Trumps waren ähnlich: Die Nichtanerkennung von Wahlergebnissen, der starke Feindbildcharakter, eine von Emotionen geleitete Politik. Diese Elemente haben sich in den USA wie in Brasilien zusammengefügt und zu Gewaltausbrüchen geführt. Ob der Einzelne, der in Brasilia mitmarschiert ist, die Bilder aus den USA vor Augen hatte, ist aber schwer zu sagen.
Bolsonaro behauptet, nichts mit dem Sturm auf das Regierungsviertel zu tun zu haben. Ist das glaubwürdig?
Maihold
Ich halte das nicht für glaubwürdig. Bolsonaros Verhalten während des Wahlkampfs war eindeutig: aufwiegeln, Stichworte geben, mobilisieren. Er hat seine Positionen nie aufgegeben und konnte daher auch keine Niederlage anerkennen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bolsonaro in Miami saß und keine Ahnung von den Ereignissen daheim hatte. Ich gehe davon aus, dass er über Familienmitglieder und bestimmte Gruppen wie die Evangelikalen dabei geholfen hat, diese Netzwerke zu aktivieren.
Vermuten Sie, dass er von dem Plan der Stürmung des Regierungsviertels informiert war?
Maihold
Es war eine angemeldete Demonstration, der Übergang in den Vandalismus muss nicht geplant gewesen sein. Das wurde von bestimmten Personen vorangetrieben oder hat sich ergeben, weil die Leute mit ihrer Frustration nach den verlorenen Wahlen nicht umzugehen wussten und sich dieser Frust entladen hat. Widerstand war aber zu erwarten. Viele gingen auch davon aus, dass es am Tag der Amtseinführung zu Kundgebungen kommen würde. Die Tatsache, dass das an einem Sonntag stattfand, an dem Brasilia leer ist, weil die Bürokraten nicht arbeiten, ist einer der Unterschiede zu den Ereignissen in Washington vor zwei Jahren. Da wurde die Auseinandersetzung mit Abgeordneten gesucht, Leute wurden verfolgt.
Ein weiterer Unterschied ist, dass in Brasilia niemand getötet wurde. Welche Unterschiede sehen Sie noch?
Maihold
In Brasilia standen drei Institutionen im Visier, man machte keinen Unterschied zwischen dem Obersten Gericht, dem Parlament und dem Präsidentenpalast. Das hat einerseits damit zu tun, dass in Brasilia alle drei Gewalten auf einem Platz versammelt sind, liegt aber auch an der Frustration und der Ablehnung des etablierten institutionellen Gefüges. Es war nicht mehr möglich zu differenzieren, der Gewaltexzess wurde ausgelebt. In den USA galt der Oberste Gerichtshof als Trumps Hochburg, er stand daher nicht im Visier.
In Brasilien hat der Oberste Gerichtshof Lula die Wiederkandidatur durch einen Freispruch ermöglicht.
Maihold
Genau. Und das Oberste Wahlgericht hat alle Einsprüche gegen das Wahlergebnis und das Wahlverfahren abgelehnt.

Die Ereignisse in Brasilia sind weit vom Putsch entfernt.

Günther Maihold

Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Trump und Bolsonaro und auch deren Anhängern, etwa die Ablehnung demokratischer Institutionen. Auch wurden beide von Steve Bannon, dem ehemaligen Vorstand der rechtspopulistischen Online-Plattform „Breitbart News“, beraten. Welche Rolle spielt das?
Maihold
Eine starke Gemeinsamkeit ist die Rolle von Feindbildern. Bolsonaro hat sich während seiner Amtszeit auf die Konstruktion des Feindbildes Lula konzentriert. Er hat vieles in ihn hineininterpretiert: Kommunismus, Vaterlandsverrat, Korruption, Familienfeindlichkeit. Diese Gemengelage hat Trump genauso bedient: Das Individuum muss sich verteidigen können und Zugang zu Waffen haben, der Staat ist nicht in der Lage, die Sicherheit zu gewährleisten, deshalb die Rückbesinnung auf die gloriose Vergangenheit. Bei Bolsonaro war es das Militärregime von 1964 bis 1985, in dem er die wahren Werte des Vaterlandes verortet. Das liegt sehr nah an dem Cocktail, den Bannon auch für Trump zusammengemixt hat.
Bolsonaro bezog sich auf die Militärdiktatur, Trumps Slogan war „Make America Great Again“ –  auch der Flirt mit einer romantisierten Vergangenheit ist den beiden gemein.
Maihold
Ja, die Werte des Vaterlandes verorten beide in der Vergangenheit – die gilt es wiederzubeleben. Das ist mit extremen Emotionen belegt und hat einen massiven mobilisierenden Charakter entwickelt.
In Deutschland hat eine Gruppe von sogenannten Reichsbürgern geplant, die Regierung zu stürzen. Ist das etwas ganz anderes oder sehen Sie hier Gemeinsamkeiten zu den USA und Brasilien?
Maihold
Die Gemeinsamkeit ist die Entfremdung vom institutionellen Apparat. Diese Menschen meinen, innerhalb der gegebenen Ordnung keinen Platz mehr für ihre Interessen zu finden. Auch in der konspirativen Denkweise gibt es Ähnlichkeiten. Die Idee ist, dass man die Welt nur durch Selbsthilfe retten kann. In Brasilien gibt es die Gruppe der Evangelikalen, die alles mit Gott legitimieren, und die paramilitärischen Gruppierungen, die sich im Amazonas oder anderswo zurückziehen und den Klimaschutz als Feindbild sehen. Das sehe ich bei den Reichsbürgern nicht. Das dürften eher gescheiterte Individuen sein, die sich zusammenfinden, aber keinen so starken Gruppencharakter haben.
In den USA, in Brasilien, aber auch in anderen westlichen Ländern bringen Menschen ihren Unmut über die Politik oder über Wahlergebnisse zuletzt durch Angriffe auf demokratische Institutionen zum Ausdruck. Wie gefährlich ist das für die Demokratie?
Maihold
Das hängt davon ab, was als symbolischer Rahmen gewählt wird. In Brasilien liefen die Demonstranten in den Trikots der Nationalmannschaft herum. Der Bezugsrahmen ist bei den Reichsbürgern ein anderer. Der symbolische Rahmen, den unsere Gesellschaften zur Verfügung stellen, ist offenbar für diese Menschen nicht ausreichend. Damit beginnt eine Suche nach anderen Bezügen. Wahrscheinlich erfassen viele, die mit der Reichsfahne herumlaufen, ihre Bedeutung gar nicht richtig. In Brasilien verkörpert die Nationalmannschaft eine kollektive Identität, der man sich einfach bemächtigen kann. Darin gehen die Identitäten auf.
Ist das eine ernst zu nehmende Gefahr für die Demokratie?
Maihold
Es ist ein Signal, dass das, was wir als repräsentative Demokratie verstehen, für viele Menschen an Bindungswirkung verliert. Deswegen werden alternative Angebote gesucht, die größere Akzeptanz finden. Das hat damit zu tun, dass ein zentraler Akteur der Demokratie, nämlich die Parteien, massive Probleme hat. Parteien werden immer stärker auf- und abgelöst durch unterschiedliche Bewegungen.
Ist der Übergang von Bewegungen unter dem Slogan „not my government“ zu Rebellionen bis hin zum Putsch fließend?
Maihold
Die entscheidende Frage ist, was ein Putsch ist. Die lateinamerikanische Sicht darauf ist, dass das Militär oder andere bewaffnete Gruppen die Regierung stürzen und die Kontrolle übernehmen. Es gab in Lateinamerika eine Zeit lang Volksputsche, wo bestimmte Gruppen Präsidenten aus dem Amt hoben, etwa in Ecuador. Die Militärs haben dabei eine marginale Rolle gespielt. In den USA und in Brasilien hat das Militär keine Rolle gespielt. Selbst die Sympathisanten Bolsonaros innerhalb der Sicherheitsorgane haben keine aktive Rolle gespielt und nicht etwa versucht, Politiker anzugreifen oder die Macht zu übernehmen. Das war vielmehr ein Ausbruch von Volkszorn und Frustration. Dabei hatten die Leute in den Protestcamps das Militär aufgefordert, etwas zu tun. Insofern sind die Ereignisse in Brasilia weit vom Putsch entfernt. Die Machtübernahme stand nicht auf der Tagesordnung.
Man kann also nicht von einem Trend hin zu Putschversuchen sprechen?
Maihold
Nein. Ein Putsch müsste so angelegt sein, dass jene, die ihn durchführen, Herrschaft über das ganze Land ausüben können. Das war weder in den USA noch in Brasilien der Fall. Auch in Washington gab es keine Beteiligung des Militärs. Die Aufständischen wären nicht in der Lage gewesen, Macht auszuüben – selbst wenn es ihnen gelungen wäre, die Anerkennung der Wahl Bidens momentan zu stoppen.
Nichtstaatliche Gewalt zählt zu Ihren Forschungsschwerpunkten. Welche Möglichkeiten haben Staaten, Angriffe durch wütende, bewaffnete Bürger zu verhindern?
Maihold
Das ist eine nachrichtendienstliche Angelegenheit. In Brasilien wird gerade diskutiert, wieso der Nachrichtendienst die Aufrufe über Telegram nicht ernst genommen hat. Das war eine angemeldete Demonstration, es waren Absperrgitter aufgebaut. Es ist nicht zu erkennen, dass man von einem solchen Exzess ausgehen hätte müssen. In Lulas Regierung gab es Spannungen zwischen dem Justizminister, der keine große militärische Präsenz wollte, um das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit von Bolsonaros Leuten nicht einzuschränken, und dem Innenminister, der robuster auftreten wollte. Das war für die Regierung ein schwieriger Balanceakt: Wenn die Polizei wie wild losgeprügelt hätte, wäre Lula gleich zu Beginn seiner Amtszeit vorgeworfen worden, dass er seine Gegner unterdrückt.
Der brasilianischen Militärpolizei, die als Bolsonaro nahestehend gilt, wird vorgeworfen, nicht rasch genug eingegriffen zu haben. Muss der Staat künftig mehr auf antidemokratische Tendenzen achten – auch innerhalb des eigenen Sicherheitsapparats?
Maihold
Während Bolsonaros Regierungszeit sind 6000 bis 7000 Offiziere im aktiven Dienst oder Ruhestand in die öffentliche Verwaltung eingerückt, die Politik der harten Hand Bolsonaros trifft bei den Sicherheitsorganen auf Zustimmung, und man darf nicht vergessen, dass auch auf bundesstaatlicher Ebene Bolsonaros Anhänger Gouverneure stellen, die dieser Ideologie folgen. Die Militarisierung hat zugenommen, daher muss Lula nun darauf achten, dass klare Grenzen für politisches Handeln von aktiven Mitgliedern der Streitkräfte gezogen werden.
In Brasilien glauben viele, die Wahl wäre gestohlen worden. Wie hat diese Erosion des Vertrauens begonnen?
Maihold
Das hat viel mit den elektronischen Wahlautomaten in Brasilien zu tun. Bolsonaro hat behauptet, dass damit massiv betrogen wird. Daraus wurde die Story gestrickt, dass, weil es keine Papierwahlen gibt, im Hintergrund an den Zahlen gedreht wird. Bei den Wahlen hat Bolsonaro das Militär aufgefordert, die Rechtmäßigkeit der Wahlen zu überprüfen – nicht das Wahlgericht, sondern das Militär! Dieses Narrativ der getürkten Wahlen, das auch Trump erzählte, ist systematisch an den elektronischen Wahlautomaten hochgezogen worden.
Sowohl Trump als auch Bolsonaro kamen durch demokratische Prozesse an die Macht. Einmal im Amt, versuchten sie, das Vertrauen der Menschen in ebendiese Prozesse abzubauen. Was muss geschehen, um das Vertrauen wiederherzustellen?
Maihold
Vor dieser Aufgabe steht Lula nun. Grob die Hälfte der Bevölkerung ist auf das Feinbildnarrativ Bolsonaros eingestiegen und wird das nicht so schnell ablegen. Lula muss versuchen, ein Brasilienbild der Zukunft zu schaffen, das die Polarisierung überwindet. Verschiedene Studien befassen sich mit der Frage, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die Polarisierung zu überwinden. Eine Hypothese ist, dass ein Gegennarrativ geschaffen werden muss, das außerhalb der bestehenden Debatte verortet ist. Das beste Beispiel dafür ist Nelson Mandela, der in Südafrika aus einer massiven Polarisierung heraus ein unerwartetes Versöhnungsmodell entworfen und die Polarisierung aufgebrochen hat.
Es braucht also eine positive Erzählung?
Maihold
Ja, und einen visionären Zugang: Es ist nicht alles auf der Welt in zwei Lager aufteilbar. Es braucht eine Art Narrativ, das den etablierten Mustern entgegenläuft. US-Präsident Joe Biden ist es gelungen, bei den Zwischenwahlen ordentlich abzuschneiden – und das, obwohl er als schwache Figur gilt. Gelingt es, die etablierten Muster ins Leere laufen zu lassen, dann kann die Polarisierung aufgebrochen werden.
Zu den einflussreichsten Anhängern Bolsonaros gehören die Evangelikalen. Sie legen die Bibel oft wörtlich aus, sind bewaffnet und bewegen sich in einer Art Parallelwelt. Wie kann Lula diese Menschen erreichen?
Maihold
Zentral und sehr präsent ist der Bezug auf die Nation. Diesen Nationalismus kann man in unterschiedliche Bahnen lenken: Auf die isolationistische, souveränitätsorientierte, wie Bolsonaro das getan hat, oder auf die Bahn der internationalen Anerkennung. Das hat Lula versucht, der die Fußball-WM und die Olympischen Spiele ins Land geholt hat und sich als Führer der BRICS-Staaten feiern ließ. Es gibt durchaus Möglichkeiten, den nationalen Kern in andere Positionen zu integrieren. Lula verkörpert den Mythos des sozialen Aufstiegs, er ist der arme Metallarbeiter vom Land, der in die Stadt kam und hier aufstieg. Das hat er mit dem eben verstorbenen Fußballer Pelé gemeinsam: Er kommt aus armen Verhältnissen und hatte Erfolg. Dieser Mythos ist ein Muster für Identifikation. Er ist durchaus geeignet, alte Narrative auszuhebeln, wie jene der religiösen Prediger.
Im Parlament steht Lula einer oppositionellen Mehrheit gegenüber, nur zehn von 27 Gouverneuren sind seinem Lager zuzurechnen. Was kann er tatsächlich bewegen?
Maihold
In seiner Rede bei der Amtseinführung war der alte Lula spürbar: Er werde sein Programm gegen den Hunger wiederaufnehmen, gegen die Armut kämpfen und so weiter. Das klang, als müsse man die Amtszeit Bolsonaros schlicht abwickeln, und dann wäre alles wie früher. Das ist ein falscher Zugang. Lula ist auf die Unterstützung anderer angewiesen und wurde vor dem Hintergrund einer extrem heterogenen Versammlung von politischen Kräften gewählt. Seine Wählerschaft ging weit in die Mitte hinein – und hier liegt auch die Chance: Lula kann diese Kräfte der Mitte aktivieren, solange er nicht auf das Narrativ des alten Lula setzt. Er wird versuchen müssen, sich Richtung Mitte zu öffnen. In seinem Kabinett spielen unterschiedliche Kräfte eine Rolle, sie kommen aus der alten Sozialdemokratie wie aus der Öko-Ecke und aus der indigenen Bevölkerung. Letztere sollten nun Protagonisten der neuen Regierung sein und nicht Lula selbst. Er muss sich stärker zurücknehmen und vom Volkstribun zum „Ermöglicher“ werden. Ob er das schafft, weiß ich nicht, aber das wäre ein sinnvoller Weg. Lula muss sich neu erfinden.
Was bedeutet Lulas Sieg für den Regenwald, dessen wirtschaftliche Ausbeutung Bolsonaro vorangetrieben hat? Was kann er nun rasch ändern und verbessern?
Maihold
Lula könnte dafür sorgen, dass die Ausbeutungsinteressen und die dahinterstehenden Unternehmen wieder stärker kontrolliert werden. Bolsonaro hat die Umweltbehörde systematisch ausbluten lassen. Lula könnte eine stärkere internationalisierte Amazonas-Politik betreiben. Bisher hat er jedoch stets darauf hingewiesen, dass der Amazonas einen Eigentümer habe. Der Diskurs über den Regenwald als Entwicklungsressource für die Zukunft des Landes ist in Brasilien stark verwurzelt, das müsste man drehen und der Welt mitteilen: Wenn ihr den Amazonas als globales öffentliches Gut behalten wollt, müsst ihr einzahlen. Lula müsste bestimmte Maßnahmen anbieten. Der kleine Amazonienfonds für Wald- und Klimaschutz müsste breiter aufgestellt und mehr auf die Nachbarn ausgerichtet werden, die auch Amazonas-Anrainer sind. Man kann Amazonas-Politik nur betreiben, wenn man sie internationaler auslegt.
Was kann die EU tun, um die Rettung des Regenwalds zu unterstützen? Zuletzt rieten etwa Wissenschafter, mehr Soja in der EU anzubauen, damit nicht mehr so viel importiert werden muss.
Maihold
Die Frage ist, wie das Exportmodell Brasiliens künftig aussehen soll. Das Land exportiert hauptsächlich Primärgüter – Soja, Eisenerz, Fleisch. Man hat sich mit dem neuen Partner China auf eine Rolle eingelassen, die stark auf diese Primärgüter ausgerichtet ist, und sich nicht auf Weiterverarbeitung konzentriert. Da könnte man viel bewegen. Sehen Sie sich das Mercosur-Handelsabkommen zwischen der EU und Lateinamerika an. Sobald nicht nur Rinderfell exportiert wird, sondern auch Schuhe, schlägt die EU entsprechende Zölle auf. Da könnten wir uns sehr viel offener zeigen. In Österreich ist die Bereitschaft, das Abkommen zu ratifizieren, nicht besonders groß. Es wird uns also noch in Zukunft beschäftigen.
Es geht also um gerechteren Handel?
Maihold
Ja. Das betrifft auch den Handel mit Wasserstoff. Sind wir bereit, in eine Wasserstoffökonomie mit den Ländern Lateinamerikas einzusteigen, ohne die klassischen Nord-Süd-Muster zu reproduzieren? Alles verlangt nach grünem Wasserstoff – und die Produktionsbedingungen dafür sind in Lateinamerika sehr gut. Erstens ist der Kontinent weltweit einer der größten Wasserspeicher, zweitens könnte man Kraftwerke durch Entsalzung betreiben, ohne die Wasserversorgung der Bevölkerung zu beeinträchtigen. Ob Solar- oder Windenergie: Die Möglichkeiten zur erneuerbaren Stromgewinnung sind gegeben. Die Frage ist, ob wir Europäer bereit sind, ein Signal an Lateinamerika zu senden, dass es für uns als Partner für diese neue Technologien infrage kommt, oder ob wir das alles in Nordafrika und Nahost betreiben. Letztere liegen zwar geografisch näher, und hier mag es bereits entsprechende Pipelines geben. Doch Lateinamerika ist uns traditionell näher – auch was unsere langjährigen Beziehungen betrifft.

Günther Maihold

ist stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zuvor lehrte er unter anderem an der Freien Universität Berlin und am Ibero-Amerikanischen Institut ebendort. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Lateinamerika, Europa und nichtstaatliche Gewalt.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.