Meinl-Reisinger: „Alle Hilfslieferungen nach Gaza zu blockieren, geht einfach nicht“
Außenministerin Beate Meinl-Reisinger mahnt Israel zur Einhaltung des Völkerrechts, warnt davor, Wladimir Putin bei einem Friedensschluss straflos davonkommen zu lassen, und sie will den Freiheitsbegriff wieder von den autoritären Kräften zurückerobern.
Frau Außenministerin, Sie haben in Ihrem Buch „Wendepunkt“, das Sie im vergangenen Jahr veröffentlichten, Europa eine „taumelnde Position“ bescheinigt und verlangt, dass es selbstbewusster auftreten muss. Sehen Sie da Fortschritte, oder haben Sie einfach die Perspektive gewechselt?
Meinl-Reisinger
Nein, ich habe überhaupt nicht die Perspektive gewechselt. Ich empfinde es als unglaubliche Ehre, aber auch als Auftrag, dass ich jetzt als Außenministerin meinen Beitrag leisten kann. Gestatten Sie, dass ich mir ausnahmsweise ein bisschen auf die Schulter klopfe: Ich habe damals fast schon prophetisch geschrieben, dass die Welt immer multipolarer wird und geopolitische Mächte versuchen, mithilfe des Gesetzes des Stärkeren ihre Interessen zu verfolgen.
Als Ihr Buch erschien, war Donald Trump noch nicht US-Präsident.
Meinl-Reisinger
Genau. Und dieser Entwicklung gegenüber hat Europa – und in noch größerem Maße Österreich – nur eine Chance: wenn es durch Einigkeit Stärke gewinnt. Im Handelskrieg mit den USA, in dem die Europäische Union sehr strategisch mit einer Stimme spricht, sieht man, was das bringt. In anderen Fragen lassen wir uns leider immer mehr auseinanderdividieren.
Etwa in der Frage, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden kann. Da versucht Europa, eine „Koalition der Willigen“ zu schmieden, die Friedenstruppen stellen soll, um im Fall eines Friedensschlusses mit Russland die Ukraine abzusichern. Dabei zeigt sich vor allem, wie viele EU-Staaten unwillig sind, da mitzumachen, nicht?
Meinl-Reisinger
Ich bewerte das durchaus positiver. Zunächst ist Europa sicherheitspolitisch definitiv aufgewacht und hat eingesehen, dass die Verlässlichkeit der USA als Garant für unsere Sicherheit verschwunden ist. Ich glaube, es ist nicht zu früh und hoffentlich auch nicht zu spät, dass wir uns selbst darum kümmern. Auch bei der Koalition der Willigen sehe ich positive Aspekte. Etwa, dass Großbritannien trotz des Brexits dabei ist und dass die Koalition auch Staaten außerhalb Europas wie die Türkei, Kanada und Norwegen einbindet. Die Botschaft lautet: Wir halten zusammen.
Auf der symbolischen Ebene wirkt das wie ein Erfolg. Bloß wenn es darum geht, Friedenstruppen für die Ukraine zu stellen, schrumpft die Koalition auf ein Minimum. Die Briten hatten erst ein Ziel von 64.000 Soldaten berechnet, das wurde auf 25.000 reduziert, aber auch das scheint nicht zu klappen.
Meinl-Reisinger
Ich halte die Symbolik für wichtig, und ich glaube, dass in dem Moment, in dem ein Friedensschluss realistisch erscheint, auch eine Dynamik entstehen wird. Alle Staaten haben verstanden, worum es in der Ukraine geht: um Friedenssicherung, Freiheitssicherung und Demokratieabsicherung für ganz Europa. Mehr als dass russische Panzer über unsere Staatsgrenzen rollen, befürchte ich, dass Russland die Destabilisierung unserer Demokratie von innen betreibt. Diese ist verwundbar.
Die Rolle Österreichs ist wie so oft verkorkst. Österreich findet die Koalition der Willigen eine gute Sache, kann oder will sich aber aufgrund seiner Neutralität nicht ernsthaft daran beteiligen.
Meinl-Reisinger
Österreich leistet seinen Beitrag zur EU-Verteidigungsunion, das ist kein Widerspruch zur Neutralität, sondern durch unsere Verfassung gedeckt. Ja, wir liefern keine Waffen an die Ukraine, aber unsere zivile, humanitäre und hoffentlich bald auch wirtschaftliche Unterstützung beim Wiederaufbau geht weiter. Und ja, sollte es zu einem Frieden kommen und der UN-Sicherheitsrat ein entsprechendes Mandat beschließen – was derzeit natürlich noch nicht realistisch scheint – dann ist auch eine österreichische Teilnahme an einer Friedensmission durchaus möglich.
Österreich hat es bisher mit Hinweis auf unsere Neutralität abgelehnt, ukrainische Soldaten zur Entminung auszubilden. Sie haben das einmal ein „Herumgeeiere“ genannt.
Meinl-Reisinger
Das war eine politische Entscheidung der Vorgängerregierung.
Ukrainische Soldaten werden weiterhin nicht in Österreich zur Entminung ausgebildet?
Meinl-Reisinger
Nein, aber wir finanzieren Entminungsaktivitäten in der Ukraine.
Wie soll eigentlich im Fall eines Friedensabkommens mit Russlands Staatspräsident Wladimir Putin umgegangen werden? Gegen ihn laufen Verfahren wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen beim Internationalen Strafgerichtshof. Halten Sie es für denkbar, dass man ihm im Gegenzug für einen Friedensschluss zusichert, dass er nicht verhaftet wird?
Meinl-Reisinger
Ich frage mich, welches Interesse wir daran haben. Als kleines Land pochen wir seit jeher auf die Einhaltung der Regeln des Völkerrechts, und wenn man sich die Kriterien für Kriegsverbrechen, insbesondere das Verbrechen der Aggression, ansieht, fragt man sich: Welches hat Wladimir Putin eigentlich nicht begangen? Unser Interesse muss sein, dass es entsprechende Konsequenzen gibt. Ich warne davor, dass man einen Friedensschluss zum Anlass nimmt, alles zu vergessen, was geschehen ist.
Kommen wir zum zweiten großen Konfliktherd: Gaza. Volker Türk, Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, fordert die Welt dringend auf, „den völligen Zusammenbruch der lebenserhaltenden Unterstützung in Gaza zu verhindern“. Fühlen Sie sich angesprochen?
Meinl-Reisinger
Ja, er hat recht. Das habe ich Israels Außenminister schon vor Wochen in unserem ersten Telefonat gesagt. Österreich hat eine geschichtliche Verantwortung gegenüber Israel und bekennt sich zu der Sicherheit aller Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt. Dazu stehen wir. Wir fordern weiterhin, dass alle Geiseln freigelassen werden, die von der Hamas entführt wurden. Aber alle Hilfslieferungen nach Gaza zu blockieren, geht einfach nicht. Israel muss das Völkerrecht einhalten. Das ist eine rote Linie.
Diese rote Linie überschreitet Israel seit mehr als zwei Monaten. Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen oder die Vereinten Nationen schlagen vergeblich Alarm. Was kann man tun?
Meinl-Reisinger
In der Außenpolitik ist es nun einmal so, dass wir öffentlich geschlossen Statements abgeben, appellieren und an politischen Lösungen arbeiten. Der Plan der arabischen Staaten bildet dafür eine gute Grundlage.
Israel muss das Völkerrecht einhalten.
Außenministerin Beate Meinl-Reisinger
An Sanktionen denken Sie nicht?
Meinl-Reisinger
Die EU hat Sanktionen gegen gewalttätige Siedler erlassen. Zu weiteren Sanktionen gibt es derzeit in der EU keine Einigung.
Ich zitiere noch einmal UN-Kommissar Türk
„Hunger gegenüber der Bevölkerung als Methode im Krieg einzusetzen, stellt wie alle Formen der kollektiven Bestrafung ein Kriegsverbrechen dar.“ Halten Sie die Blockade für ein Kriegsverbrechen?
Meinl-Reisinger
Das müssen die internationalen Gerichte untersuchen, wo ja Verfahren laufen.
Nach jüngsten Medienberichten plant die israelische Regierung, eine Zone im Süden von Gaza einzurichten, in der Lebensmittel verteilt werden sollen. Angeblich dürfen jedoch nur 60 Lastwagen pro Tag Hilfslieferungen heranschaffen. Das wären also 1800 pro Monat. In den bisherigen Kriegsmonaten durften meist mehr als 4000 Lastwagen nach Gaza, im Februar waren es über 16.000. Wie reagieren Sie auf diesen Plan?
Meinl-Reisinger
Ich teile die Sorge über die israelischen Pläne einer dauerhaften Besatzung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Teilen Gazas. Noch einmal: Israel ist in seinem Kampf gegen die Terrororganisation Hamas an das Völkerrecht gebunden. Wir werden unsere guten Kontakte zu Israel nutzen und auch Israel auffordern, das Völkerrecht einzuhalten. Aus unserer Sicht ist die Rückkehr zu Verhandlungen mit dem Ziel eines Waffenstillstands alternativlos – auch um endlich die verbleibenden Geiseln zu befreien.
Solange Joe Biden US-Präsident war, verfolgten die USA und die EU in den Konfliktherden Ukraine und Gaza weitgehend deckungsgleiche Pläne. Das hat sich unter Donald Trump geändert. Ist Europa jetzt an den Rand gedrängt?
Meinl-Reisinger
Ich sehe das ein bisschen anders. Es wird in der Ukraine eine Lösung gemeinsam mit Europa geben. Aber es herrscht mit Donald Trump ein neuer Zugang in der Weltpolitik, ein transaktionales Vorgehen, bei dem es um Deals geht und die Durchsetzung eigener Interessen. Das ist neu für Europa, das muss es erst lernen.
Soll Europa das auch so betreiben?
Meinl-Reisinger
Ja, ich glaube, dass auch Europa seine Interessen wesentlich stärker formulieren muss. Das heißt nicht, mittels militärischem Druck Dinge zu erpressen, aber wir müssen daran arbeiten, Verbündete zu suchen, die mit uns unsere Ziele verwirklichen.
Ein Beispiel?
Meinl-Reisinger
Der Westbalkan. Unser Interesse ist, dass dort kein Machtvakuum entsteht, das dann andere Mächte füllen – Russland, China oder auch die USA mit der eher unklaren Position von Trump. Europa muss verhindern, dass sich der gesamte multipolare Clash am Balkan abspielt. Eigentlich ist das ja unser Vorzimmer.
Vorzimmer klingt immerhin nicht so unfreundlich wie Hinterhof. Apropos unfreundlich: Möchten Sie sich zu den Ausführungen von Milorad Dodik, dem Präsidenten der Republika Srpska, äußern, der in der vergangenen profil-Ausgabe die sarkastische Frage stellte, ob Sie glauben, einer „höherwertigen Rasse“ anzugehören?
Meinl-Reisinger
So viel Aufmerksamkeit ist eine Form von Zuneigung. Die Aussagen richten sich von selbst. Es zeigt, dass wir mit dem Einreisehindernis gegen Dodik richtigerweise klare Kante gezeigt haben. Dodik betreibt den Zerfall des Staates Bosnien und Herzegowina und lädt den Konflikt religiös auf. Das ist nicht in unserem Interesse, denn wir wollen Stabilität, Frieden und eine europäische Perspektive für den gesamten Westbalkan.
Dodiks Kritik richtet sich vor allem gegen die Institution des Hohen Repräsentanten, der in Bosnien und Herzegowina als eine Art Oberaufsicht fungiert. Soll man diese Institution tatsächlich jahrzehntelang aufrechterhalten?
Meinl-Reisinger
Natürlich muss unser Wunsch sein, diese letztendlich abzuschaffen. Brüssel statt Dayton muss die Zukunft sein.
Sehen Sie die Abschaffung der Position des Hohen Repräsentanten am Horizont?
Meinl-Reisinger
Nein, derzeit herrscht eine tiefe politische Krise und eine tiefe Verfassungskrise, die zunächst in Bosnien und Herzegowina selbst gelöst werden muss, vor allem in der Republika Srpska.
Sie verbreiten als Politikerin meist Zuversicht, das gehört zu Ihrer Strategie, wohl auch zu Ihrem Wesen. Das schlägt sich auch in Ihrem Buch nieder.
Meinl-Reisinger
Ich vertraue darauf, dass wir Probleme lösen können. Auch wenn das Pendel derzeit in eine antipluralistische, antidemokratische Richtung ausschlägt, glaube ich, dass wir das wieder ändern werden. Zuversicht bedeutet auch, es muss etwas getan werden.
Ich halte an den USA als Partner fest.
Außenministerin Beate Meinl-Reisinger
Aber allein in den vergangenen acht Monaten hat in Österreich die FPÖ zum ersten Mal die Nationalratswahl gewonnen, Donald Trump zog ins Weiße Haus ein, die AfD wurde bei der Bundestagswahl Zweite und liegt in Umfragen zeitweise auf Platz eins, in Großbritannien schnitt die rechtspopulistische Reform-Partei bei Kommunalwahlen so gut ab, dass ihr Parteichef Nigel Farage als möglicher nächster Premierminister gehandelt wird, und in Rumänien gewann der Rechtspopulist George Simion überlegen die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Wie behalten Sie da die Zuversicht?
Meinl-Reisinger
Was wäre denn die Alternative zu Tatkraft und Zuversicht? Aufgeben? Sicher nicht. Die autoritäre, antiliberale Tendenz hat sozioökonomische Ursachen – das Aufstiegsversprechen gilt nicht mehr –, und sie wurzelt gleichzeitig in einer Art Kulturkampf. Es ist ja richtig, dass wir Jahre der Rezession erleben und dass es vielen zum Beispiel nicht mehr möglich ist, sich Eigentum zu erarbeiten. Deshalb brauchen wir wieder Wachstum durch Innovationskraft, Leistungsbereitschaft, Vollendung des Binnenmarktes, weniger und klügeres Regulieren …
Auch der Kulturkampf scheint verloren zu gehen. Etwa die Frage, die für Sie als Liberale zentral ist: Was ist Freiheit? In den USA wird es derzeit offenbar als befreiend empfunden, dass sich die Regierung der unabhängigen Universitäten entledigt, kultureller Institutionen, wissenschaftlicher Zeitschriften …
Meinl-Reisinger
Freiheit bedeutet Demokratie, offene Gesellschaft, Pluralität und Rechtsstaat. Wir müssen den Freiheitsbegriff zurückerobern. Das ist auch die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Die Antwort darf keinesfalls sein, dass wir uns einfach ins Privatleben zurückziehen. Demokratie braucht Engagement, öffentliche Aktivität. Wir müssen uns besser zur Wehr setzen, bessere Narrative entwickeln, vielleicht auch manches regulatorisch beinhart in den Griff bekommen, etwa, was die Verantwortlichkeit der Plattformen der sozialen Medien betrifft. Man darf Freiheit nicht mit Naivität verwechseln. Dass man von den Algorithmen eines Milliardärs abhängig ist, bedeutet nicht Freiheit, sondern Entmündigung. Wir müssen wachsam sein, wenn ausländische Akteure wie Russland uns mit den Mitteln unserer Freiheit schlagen wollen. Die gehen mit ihren Bots in die sozialen Medien hinein, haben Verbindungen zu Parteien, und sie schaffen es, mit infamen Lügen und Propaganda eine Stimmung zu generieren, die sich gegen unsere liberale Demokratie und unsere offene Gesellschaft richtet. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich glaube, jetzt müssen wir was tun. Demokratie muss wehrhaft sein. Kennen Sie den Comic-Band „Asterix bei den Briten“? Da trinken die Briten immer um fünf Uhr Tee, und weil die feindlichen Römer das wissen, greifen sie genau um diese Zeit an. So kultiviert und vielleicht naiv sind wir Europäer manchmal, und das gilt für den gesamten liberalen, demokratischen Westen.
Zählen Sie die USA noch zum liberalen, demokratischen Westen?
Meinl-Reisinger
Ja. Ich halte an den USA als Partner fest. Es liegt an den amerikanischen Institutionen, so stark zu sein, dass sie Trump überdauern. Und wir sollten gerade in diesem Jahr nicht vergessen, was wir den USA in den letzten 80 Jahren zu verdanken haben.