Autos und Küchenmesser: die perfide neue Strategie des IS
Es braucht keinen ausgeklügelten Plan, um einen Terroranschlag zu verüben. Es braucht auch keinen Sprengstoff, keine Biowaffen oder sonstige Behelfsmittel aus den Arsenalen des Schreckens. Es reicht schon ein Nissan Altima, Baujahr 2000.
Am Montag vergangener Woche hatte der 25-jährige Martin Couture-Rouleau seinen beige-metallic-farbenen Mittelklasse-PKW bereits um neun Uhr früh auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in der Nähe von Montreal abgestellt und damit begonnen, nach Opfern Ausschau zu halten. Mehr als drei Stunden später fand er sie: drei kanadische Soldaten aus einer nahegelegenen Kaserne.
Couture-Rouleau, der zum Islam konvertiert ist, sich seither Ahmed nennt und bereits unter Beobachtung der Behörden stand, startete den 158 PS starken Wagen, gab Gas und raste in die Menschengruppe. Danach wählte er die Notrufnummer 911 und bekannte sich im Namen Allahs zu seiner Tat. Wenig später wurde er auf der Flucht von der Polizei erschossen.
Der Anschlag, bei dem einer der Uniformierten das Leben verlor, sorgte außerhalb von Kanada nur für wenig Aufmerksamkeit. Er steht im Schatten eines weitaus spektakuläreren Attentats, das zwei Tage später in der Hauptstadt Ottawa verübt wurde: Am Mittwoch ermordete der 32-jährige Michael Joseph Hall dort erst die Ehrenwache an einem Kriegerdenkmal und ballerte dann im Parlamentsgebäude um sich, bis ihn eine Polizeikugel tödlich traf.
Hall, Kriegername Michael Zehaf-Bibeau, war ebenfalls zum muslimischen Glauben übergetreten. Beiden waren abgesehen von einschlägigen Sympathien zunächst jedoch keine konkreten Kontakte mit dem Islamischen Staat (IS) nachzuweisen. Aber gerade das macht sie zur Personifizierung der tatsächlichen Bedrohung, die von der Terrormiliz für den Westen ausgeht.
Attentate von Möchtegern-Dschihadisten
In Syrien und im Irak ist der von Abu Bakr al-Baghdadi geführte IS im Begriff, die Schreckensherrschaft seines Kalifats zu festigen, das vom Gouvernement Aleppo bis zu den Vororten von Bagdad reicht. Während die Welt wie gebannt auf den symbolträchtigen Kampf um die kurdische Grenzstadt Kobane starrt, machen die ultraradikalen Islamisten im Hinterland weitgehend unbemerkt Terrain. Unterstützt werden sie dabei von tausenden ausländischen Kämpfern, viele davon aus Europa und Nordamerika.
Hunderte dieser Dschihadisten sind inzwischen in ihre Heimatländer zurückgekehrt, mehr als 60 sollen es allein in Österreich sein: manche frustriert, andere traumatisiert, wieder andere wohl komplett radikalisiert. Auf sie fokussieren sich die Befürchtungen von Politik, Behörden und Öffentlichkeit im Hinblick auf ein mögliches Übergreifen des IS-Terrors auf den Westen.
Das wahre Problem liegt aber vermutlich anderswo. Um Anschläge zu verüben, braucht der Islamische Staat vorerst gar keine hartgesottenen Kämpfer mit Fronterfahrung zumal ihm diese in Syrien und im Irak fehlen würden. Die Strategie besteht vielmehr darin, Attentate von Sympathisanten erledigen zu lassen idealerweise Möchtegern-Dschihadisten, die auf eigene Faust handeln, keine offenkundige Verbindung zum IS haben und umso schwerer zu entdecken sind.
Im vergangenen September wandte sich Scheich Abu Mohammed al-Adnani, der offiziöse Sprecher der Terrormiliz, mit einer auf Englisch, Französisch und Hebräisch übersetzten Botschaft an Spontan-Terroristen: Töte einen ungläubigen Amerikaner oder Europäer, speziell die dreckigen Franzosen, oder einen Australier, oder einen Kanadier. Töte ihn, egal auf welche Art und Weise. Du brauchst niemanden um Rat oder Urteil zu fragen. Töte den Ungläubigen, egal, ob er Zivilist oder Soldat ist. Wenn Du dir keine Bombe oder Patrone beschaffen kannst, dann
schlag ihm mit einem Stein den Schädel ein, oder erstich ihn mit einem Messer, oder überfahre ihn mit deinem Auto, oder stürze ihn irgendwo hinunter, oder erwürge ihn, oder vergifte ihn.
Al-Adnani reagierte damit auf den Beginn der US-Luftangriffe gegen Stellungen des IS in Syrien und im Irak. Die Idee, Terroranschläge ohne Einsatz von Waffen zu begehen, wurde aber bereits vor Jahren von Inspire, einem professionell gemachten Hochglanz-Magazin aus dem Umfeld von Al Kaida, propagiert; man erreichte damit jedoch nur ein begrenztes Publikum. Inzwischen wird sie vor allem über soziale Netzwerke massenhaft verbreitet und immer detaillierter ausgeführt. Die Süddeutsche Zeitung zitiert einen deutschen Islamisten, der von Syrien aus dazu aufruft, Männer, Frauen, Greise und Kinder zu attackieren: Verteilt Autoreifen oder andere Hindernisse auf der Autobahn; werft große Steine oder andere schwere Gegenstände von der Brücke auf Fahrzeuge und/oder Fußgänger, schreibt der Mann und nennt als weitere Schauplätze für Anschläge unter anderem Busse, Züge, Bahnhöfe und sogar Schulen oder Kindergärten.
Albtraum jeder freien Gesellschaft
In die Tat umgesetzt wurden Ratschläge wie dieser bereits mehrfach: so etwa 2013 in London, als zwei Islamisten einen Soldaten mit dem Auto rammten und den Schwerstverletzten anschließend mit Messern und einem Fleischerbeil niedermetzelten; oder erst am Freitag vergangener Woche, als ein Mann vier Polizisten in New York mit einer Hacke attackierte. Auch dieser Angreifer soll einschlägige extremistische Motive gehabt haben.
Es ist der Albtraum jeder freien Gesellschaft, in ihrem öffentlichen Raum jederzeit mit terroristischen Gewalttaten rechnen zu müssen. Allein der Gedanke daran säht Misstrauen und Angst. Um die ohnehin schon gereizte Stimmung gegenüber Muslimen überkochen zu lassen, sind keine monströsen Anschläge wie jene von 9/11, Madrid (2004) oder London (2005) nötig: Das lässt sich mit den von al-Adnani beschriebenen Methoden viel einfacher bewerkstelligen.
Doch gerade darin liegt das perverse Kalkül des Islamischen Staats. Es speist sich nicht zuletzt aus apokalyptischen Heilserwartungen (siehe Artikel hier). Alle Islamisten sind sich einig, dass die kommende Revolution das islamische Weltreich errichten wird, schreibt der liberale US-Publizist Paul Berman (Terror und Liberalismus und Was man über den Islamismus nicht sagen darf) in der deutschen Zeit.
Und der Weg dorthin führt nach Meinung vieler über die Aufwiegelung der Mehrheitsbevölkerung gegen die Muslime damit sich diese wiederum, so die krude Überlegung, so unterdrückt, marginalisiert und an den Rand gedrängt fühlen, dass sie gewaltsam zu rebellieren beginnen.
Dazu wird es klarerweise nicht kommen. Viele der europäischen Muslime 574.000 leben derzeit in Österreich mögen ein verstörend reaktionäres Gesellschaftsbild haben. Dennoch wird niemand annehmen, dass sie sich für die Errichtung eines Kalifats an einem Massenaufstand beteiligen werden, den der IS herbeifantasiert.
Aber selbst optimistischere Gemüter bei den hiesigen Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass Attentate wie jene in Montreal und Ottawa auch in Österreich nur eine Frage der Zeit sind. Und dann kann das Kalkül des IS In beschränktem Ausmaß durchaus aufgehen: dass ein Teufelskreis aus Verdacht, Ablehnung, Entfremdung und noch mehr Radikalisierung in Gang gesetzt wird, der weitere Attentäter vom Schlag eines Michael Zehaf-Bibeau hervorbringt.
Den kanadischen Behörden war es völlig entgangen, dass der Mann vom obdachlosen Kleinkriminellen mit Drogenproblemen, Wahnvorstellungen und entsprechendem Vorstrafenregister zum selbst ernannten Islamisten mutierte. Auch davon, dass er geplant hatte, nach Syrien zu reisen und sich dort am Dschihad zu beteiligen, erfuhr die Polizei erst von seiner Mutter.
Am vergangenen Freitag erklärte Kanadas Außenminister John Baird, Zehaf-Bibeau habe keine direkten Verbindungen mit dem Islamischen Staat gehabt. Das Gleiche gilt für Martin Couture-Rouleau, den Attentäter von Montreal auch er war zwar ein Sympathisant des IS, aber keineswegs in das Terrornetzwerk eingebunden.
Und das ist in Wahrheit eine schlechte Nachricht.
Mitarbeit: Anna Giulia Fink, Milena Jovanovic