Balkan-Reise von Van der Bellen: „Ihr gehört zur europäischen Familie“
Die Statue ist zwölf Meter hoch und zeigt eine Frau mit Fackel, an deren Spitze ein kommunistischer Stern eingelassen ist. Ein Überbleibsel der kommunistischen Ära, die Albanien vier Jahrzehnte lang vom Rest Europas isoliert hat. Zur Ironie der Geschichte gehört: Der Vater des amtierenden Premierministers Edi Rama, der Albanien in die EU führen will, ist einer der Architekten der Statue.
Diese Ära ist Vergangenheit. Das kleine Balkanland mit 2,8 Millionen Einwohnern ist Teil der NATO – und es will in die EU. Im Juli 2022 haben offiziell Beitrittsgespräche begonnen. Anders als zur Zeit der Diktatur, als der Westen als das ultimative Böse galt, kann das Albanien von heute gar nicht genug davon kriegen.
Ganz verschwunden ist das Erbe des Kommunismus aber nicht. Es gehört zum Protokoll, dass Staatsoberhäupter einen Kranz auf dem Partisanen-Friedhof niederlegen, der auf einer Anhöhe über der Hauptstadt Tirana thront. Heute, an einem verregneten Monat, ist Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen an der Reihe.
Ein österreichischer Präsident, der vor einem Partisanen-Denkmal Blumen niederlegt. Das sieht man auch nicht jeden Tag. Zumal in einem Land, das im Zweiten Weltkrieg von Hitler besetzt worden war. Eine heikle Mission für einen Österreicher? Nicht hier.
Ein bisschen Habsburger-Monarchie schadet nie
Denn eines muss man über Albanien wissen: Österreich steht hier hoch im Kurs.
Für Van der Bellen ist sein erster Staatsbesuch in dem Balkanland das, was ein Heimspiel im Fußball ist: Egal was passiert, es gibt Applaus. Das hat historische Gründe. Ohne die Habsburger wäre Albanien Anfang des 20. Jahrhunderts wohl von der Landkarte verschwunden. Dass sich Österreich-Ungarn damals für die Unabhängigkeit einsetzte, sei vielen „auch heute noch bewusst“, so Van der Bellen in seiner Rede am Montag im Parlament. Mitglieder seiner Botschaft erwähnen beim Mittagessen beiläufig, dass sie von Wildfremden umarmt werden, weil sie aus Österreich stammen. „Ihr seid die Einzigen, die wir nie als Invasoren wahrgenommen haben“, sagt ein albanischer Diplomat am Rande des Besuchs. Dass die Zeit, als die Großmächte auf dem Balkan noch die Grenzen gezogen haben, derart romantisiert wird, liegt wohl auch daran, dass die kommunistische Ära, die danach folgte, unglaublich brutal war und somit in der Erinnerungskultur alles in den Schatten stellt. Vor allem in der Stadt Shkodra im Norden, bekannt als Zentrum der katholischen Albaner, kommt Österreich bis heute gut an. Wenige Stunden, nachdem die Austrian-Airlines Maschine in Tirana landete, war Van der Bellen bereits dorthin unterwegs, um eine HTL für IT-Fachkräfte zu besuchen, die einzige österreichische Auslandsschule auf dem Balkan.
Die Straßen sind holprig, das Wetter gut: Blauer Himmel, 20 Grad. Die Polizisten sperren für Van der Belle die Straße und salutieren ehrfürchtig am Wegrand. Unterwegs noch Mittagessen auf einem Weingut auf dem Land, ein Blick auf die Käselaibe des stolzen Besitzers und generell viel Gemütlichkeit: Als Van der Bellen aus dem Konvoi steigt, wird er von hunderten aufgeregten Gänsen umringt.
EU-Zuspruch mit 90 Prozent extrem hoch
In Albanien gilt: Über die Vergangenheit streitet man, aber auf die Zukunft kann man sich einigen. Das Land gilt als innerlich polarisiert – zwei Parteien stehen einander verfeindet gegenüber – aber außenpolitisch gibt es wohl kein Land auf dem Balkan, dass sich derart einig ist. „Ich finde ja im Übrigen, dass Sie in Albanien sich betreffend EU-Integration in einer beneidenswerten Lage befinden“, so Van der Bellen in seiner Rede im Parlament, „Denn laut Umfragen sind stets um die 90 Prozent oder mehr der albanischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt.“ Solche Werte habe es in Österreich nie gegeben.
Damit spielt er auf das Phänomen an, dass die EU von außen betrachtet (und insbesondere auf dem Balkan) oft übermäßig angehimmelt werde, während es im Inneren Mitglieder wie Ungarn gibt, die sich immer weiter davon entfernen. Und während Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán den Rechtsstaat abbaut, will Albanien ihn stärken. Eine von der EU angestoßene Justizreform gilt als Herzstück des Integrationsprozesses. Van der Bellen kam deshalb in Begleitung von Justizministerin Alma Zadić, die eine Vereinbarung zur verstärkten Kooperation im Bereich der Rechtsstaatlichkeit mit ihrem albanischen Amtskollege Ulsi Manja unterzeichnete.
Justizreform: 60 Prozent mussten gehen
„Die Korruptionsbekämpfung ist entscheidend dafür, dass Menschen hierbleiben“, so Zadić gegenüber Journalisten. Seit der Wende habe fast eine Million Menschen Albanien verlassen. Die Abwanderung ist ein massives Problem. Sie reicht von gut ausgebildeten Ärztinnen und Krankenpflegern bis zu jungen Männern, die nach Frankreich flüchten, um von dort auf Schlauchbooten nach England überzusetzen, wo sie nicht selten auf dem Bau, aber auch auf Indoor-Cannabis-Plantagen, arbeiten. Die Menschen gehen nicht nur wegen der niedrigen Löhne, meint Zadić, sondern auch, weil die Korruption im Alltag so allgegenwertig ist. Ein schwacher Trost ist die Justizreform (Vetting Prozess), die 2016 in Gang gesetzt wurde und Richterinnen und Staatsanwälte auf fachliche Eignung sowie Vermögen überprüft. 60 Prozent bestanden den Test nicht. Doch die Reform hat nicht nur Fortschritt, sondern auch Stillstand gebracht, wie Zadić im Gespräch mit ihrem Amtskollegen in Tirana zum Thema machte. Der Vetting-Prozess führte zu einem solchen personellen Kahlschlag, dass zwischenzeitlich der Verfassungsgerichtshof funktionsunfähig war. Das wiederum war ein Grund, warum die Niederlande die Eröffnung von EU-Beitrittsgespräche blockierte.
Russland: „Kein Vakuum entstehen lassen“
Präsident Van der Bellen zeigt sich „vorsichtig optimistisch“, dass diese Veto-Politik nun ein Ende habe. Was war passiert? Frankreich hatte – ebenso wie die Niederlande – das Eröffnen von Beitrittsgesprächen mit Albanien blockiert. Dann, als Paris den Weg freigab, blockierte Bulgarien den Nachbarn Nordmazedonien. Tirana musste zuerst von Skopje „entkoppelt“ werden, damit es Beitrittsgespräche eröffnen konnte. Kurzum: Alles wurde sehr kompliziert und technokratisch. Die EU stand nicht mehr für das Ziel, sondern für den Bremsblock.
„Es ist jetzt Zeit, die Geschwindigkeit zu erhöhen“, so Van der Bellen. Albanien gehöre längst „zur europäischen Familie“. Zwar könne er kein Datum für einen EU-Beitritt Albaniens nennen, „aber es wird hoffentlich nicht länger dauern, als es seinerzeit gedauert hat zwischen Österreich und der EU.“ Mit der Prognose ist er zu optimistisch. Österreich konnte seine Verhandlungen in weniger als zwei Jahren abschließen. Die Länder des Westbalkans (Nordmazedonien, Kosovo, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Albanien) warten de facto seit 20 Jahren.
„Die EU-Staaten sollten es sich nicht leisten, hier ein Vakuum entstehen zu lassen“, war einer der zentralen Sätze Van der Bellens in Tirana. Neu ist dieser Satz nicht. Er wird seit Jahren Mantra-artig wiederholt, ohne dass von Seiten der Politik erklärt wird, was damit konkret gemeint ist. Die Folgen sind nämlich längst sichtbar: China kauft sich seit über zehn Jahren mit Krediten in Südosteuropa ein, durch die vor allem in Belgrad auch politische Abhängigkeiten entstanden sind. Die Türkei knüpft an das neo-osmanische Erbe an, etwa durch den Bau von Moscheen und Universitäten in Albanien. Und Russland bleibt der Destabilisierungsfaktor Nummer Eins in der Region, was sich durch Desinformationskampagnen in Nordmazedonien und dem Kosovo bemerkbar macht.
Ukraine Krieg als Momentum
Der Ukraine-Krieg hat eine neue Dringlichkeit geschaffen, dieses „Vakuum“, dass Van der Bellen zum Motto seiner Reise macht, zu füllen. Gleichzeitig ist der Krieg schon jetzt ein Test, der offenlegt, ob die Länder des Westbalkans die europäische Sicherheits,- und Außenpolitik mittragen. „Wir müssen gemeinsam und solidarisch auf Seite einer unabhängigen Ukraine stehen!“, appelliert Van der Bellen im Parlament. Auch mit dieser Botschaft wird er bei den Albanern keinen Widerspruch ernten. Pro-russische Proteste, wie sie in Belgrad und Wien stattfinden, fehlen hierzulande völlig. Die Straße, in der die russische Botschaft steht, wurde kurzerhand in „Freie Ukraine“ umbenannt – um die Diplomaten aus Moskau jeden Tag zu erinnern, auf welcher Seite man stehe. „Albaniens Haltung ist exemplarisch. Sie haben nicht nur alle Sanktionen und Maßnahmen der EU umfassend mitgetragen, sondern sind auch auf diplomatischer Ebene, etwa als Nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, besonders engagiert“, so Van der Bellen in Tirana.
Kritik an „goldenen Pässen“
Kritik gab es an einem umstrittenen Projekt von Premier Edi Rama, der seit 2013 an der Macht ist und im April 2021 mit seiner Sozialistischen Partei eine dritte Amtszeit gewonnen hat. Dieser wollte wohlhabenden Ausländern im Gegenzug für Investitionen die albanische Staatsbürgerschaft und damit die visafreie Einreise in die EU anbieten. Dieses Projekt der „goldenen Pässe“ wurde von der EU-Kommission vehement kritisiert, vor allem in Bezug auf Geldwäsche und Sicherheitsbedenken. Rama scherzte in der Vergangenheit, dass er den Plan trotz Warnungen durchsetzen werde. Dazu kommt es jetzt doch nicht. Der Grund: Die EU erwog, die Visafreiheit seiner Landsleute einzuschränken.