Bericht aus Kiew: „Ich glaube nicht, dass man sich an Krieg gewöhnen kann“
Mein Name ist Kristina Nikolaenko, und ich bin gerade in Kiew. Es ist der 16. März 2022, der 21. Tag des Krieges. 21 Tage sind seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vergangen. 21 Tage sind drei Wochen. Man sagt, dass ab dem 21. Tag eine Gewohnheit entsteht. Das kann sein. Aber ich glaube nicht, dass man sich an Krieg gewöhnen kann.
Ich bin 26. Ich bin Studentin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ich lebe seit 2013 in Wien, aber die letzten zwei Jahre verbringe ich großteils zuhause in der Ukraine. Meine Familie wohnt hier. Ich wohne mit meinem Verlobten und unseren Haustieren in Kiew.
Am 24. Februar um 5 Uhr morgens rief mich meine Mutter an und sagte: „Steh auf! Der Krieg hat begonnen!“ Ich habe geschlafen, eine Stunde lang lag ich im Bett und konnte es nicht glauben. Meine Mutter lebt in Nikolajew, im Süden der Ukraine. Um 6 Uhr hörten ich und mein Freund die Sirenen schon in Kiew. Da hat der Krieg auch für uns begonnen.
Die erste Woche war schrecklich, wir schauderten bei jedem Geräusch. Wir versteckten uns in einem Keller auf dem Universitätscampus. Es war kalt und feucht. Dann haben wir realisiert, dass uns dieser Bunker bei einem Angriff nicht schützen wird, sondern eine tödliche Falle sein kann. In der Nähe gibt es eine U-Bahn-Station, dort kann man sich auch verstecken. Aber unser Zuhause ist aktuell der sicherste Ort. Die Hauptsache ist, die Zwei-Wände-Regel einzuhalten, um sich vor einem Raketenangriff so gut wie möglich zu schützen.
An die ersten vier Tage erinnere ich mich nicht. Alles war wie in einem Albtraum. Wir haben kaum geschlafen, haben die Nachrichten gelesen, wurden vor Angst geschüttelt und haben alle unsere Optionen durchdacht. Die Anspannung und Angst war groß, aber langsam begannen wir, uns daran zu gewöhnen. Außerdem weiß ich bereits, wie man Geräusche von verschiedenen Geschützen unterscheidet. “Bam-bam-bam” ist höchstwahrscheinlich Luftverteidigung, was bedeutet, dass wir beschützt werden, alles okay. Buuuuum (oder noch schlimmer: Pfeifen) ist eine Rakete oder Bomben des Gegners, also habe ich 2 Sekunden Zeit, um mich zu verstecken. Ich hatte Glück, dass ich nie ein Pfeifen gehört habe, anders als die Menschen in Mariupol und Kharkiv…
Die zweite und dritte Woche bestehen aus Murmeltier-Tagen. Jeder Tag ist gleich. Emotionen auf Null. Du bist wie eine ausgequetschte Zitrone: Man spricht wenig, man sperrt sich ein, es gibt keine Panik mehr, es gibt nur Müdigkeit. Ich persönlich konnte mich nur noch auf die Nachrichten konzentrieren. Mir macht nichts mehr Freude. Ich trauere um die ermordeten ukrainischen Soldaten. Jeden Tag nach dem Aufwachen lese ich die Nachrichten, um zu sehen, welchen Schaden Russland uns in dieser Nacht zugefügt hat. Ich schreibe meinen Verwandten in der Ukraine, ob sie noch leben. Können Sie sich das vorstellen? Und dann sehe ich Beerdigungen, Beerdigungen, eine weitere Beerdigung in allen Städten der Ukraine. In Mariupol werden Menschen in Massengräbern begraben! Kinder sterben. Jeden Tag. Mein Herz bricht vor Schmerz. Ich weine um Menschen, die ich nie kannte, und sie sind gestorben, um mich gegen den russischen Terrorismus zu verteidigen! Ich verdanke ihnen mein Leben! Ich weine morgens. So beginnt jeder Tag, seit 21 Tagen.
In der letzten Woche hat die ukrainische Armee russische Truppen aus Kiew zurückgedrängt. Putin mag es nicht, Niederlagen zu erleiden, also entschied er sich dafür, sich an den Zivilisten zu rächen. Kiew wird von Raketenangriffen erschüttert. Wir schlafen auf dem Boden hinter der Wand, weit weg von den Fenstern. Manchmal kann man die Sirene nicht hören, wenn wir schlafen. Aber heute wurde eine Rakete in der Nachbarstraße abgeschossen. Ich wachte auf, als unser Haus erschüttert wurde und die mächtigste Explosion ertönte, für eine Sekunde schien es, als wäre die Rakete direkt in unser Haus eingeschlagen. Wir hatten Glück. Aber in diesem Moment, als ich diese schreckliche Explosion hörte, fühlte ich, dass der Tod nie weit weg ist. Ich bete zu Gott, dieses Gefühl nie wieder zu erleben.
Wochentags
Die Situation in Kiew ist kontrolliert, hier sind genügend Sicherheitskräfte der Ukraine konzentriert, und ebenso viele Freiwillige haben sich in den Reihen der territorialen Verteidigung angemeldet. Da ich nicht kämpfen kann, beschloss ich, den Zivilisten zu helfen.
Meine Alltagsrituale in der Kriegszeit:
1. Ein ordentliches Frühstück: Du weißt nie, was in der nächsten Stunde mit dir passiert. Daher ist es notwendig, ausgewogen zu essen. Ich koche für alle. Das beruhigt mich.
2. Haustiere: Ich weiß nicht, ob ich es einen Spaziergang nennen kann, aber ich laufen morgens mit unseren beiden Hunden zehn Minuten um das Haus. Sie reagieren nicht mehr auf Schüsse.
3. Freiwilligenarbeit: Meine Freunde und ich haben verschiedene Social-Media-Chats abonniert, und wenn wir etwas für Bedürftige tun können, dann machen wir das.
4. Einkaufen: In der ersten Kriegswoche gab es kein Brot zu kaufen. Normalerweise esse ich gar keines. Aber nach einer Woche ohne Brot wurde mir bewusst, wie sehr ich es liebe. Jetzt habe ich begriffen, dass der Mensch zum Glück wenig braucht: Brot und einen friedlichen Himmel über dem Kopf.
5. Hobby oder Arbeit: Beim Krach der Artillerie ist es schwierig, sich zu konzentrieren, aber es ist notwendig, um das Nervensystem zu entspannen. Deshalb versuche ich zu arbeiten, zu lesen, und im Studium voranzukommen. Das ist nicht einfach, aber es ist unerträglich, nur zu warten.
Fünf glückliche Minuten
Die Medikamente wurden wegen der vorübergehenden Schließung aller Geschäfte und Apotheken knapp. An einem Tag mussten meine Freundin und ich zehn Kilometer laufen, um zwei Stunden in der Schlange zu stehen, damit wir Medikamente für die territoriale Verteidigung unseres Bezirks kaufen konnten. Es war beängstigend, durch die Stadt zu gehen. Da die russischen Truppen die Stadt umzingeln und einnehmen wollten, hörten wir permanent Kampfgeräusche. Ich erinnere mich, dass wir in einer langen Schlange direkt auf der Straße stehen. Die Stille. Die Leute weinen. Und plötzlich sehen wir eine Kolonne von Militärs auf dem Weg zu einem Hotspot in Kiew. Sie kamen an uns vorbei.
Die ganze Warteschlange begrüßte unsere Verteidiger. Ich winkte und klatschte in die Hände. Ich habe geweint. Aber ich war in diesem Moment sehr glücklich. Ich sah, wie unsere Krieger aussahen. Es waren Männer und Frauen, deren Mut man nur beneiden kann. Sie waren wie Cyborgs ausgestattet. Sie winkten uns zu und lächelten, während sie auf Panzern und riesigen Fahrzeugen mit Waffen saßen. Ich sah die Kraft ihres Geistes in ihren Augen. Ich habe meine Beschützer gesehen. Es war magisch. Ich erinnere mich immer noch an diese 5 Minuten. Sie gaben mir Hoffnung. Wir werden gewinnen. Wir haben bereits gewonnen.
Warum gehst du nicht?
Ich werde oft gefragt, warum ich die Stadt oder überhaupt das Land nicht verlassen würde. Immerhin bin ich Studentin an der Wirtschaftsuniversität in Wien. Ich hätte längst an einem sicheren Ort sein können. Aber das kann ich nicht. Ich weiß, dass ich mich selbst einer enormen Gefahr aussetze, aber ich kann nicht anders. Das ist mein Land, und ich werde es verteidigen. Ja, ich sitze jetzt zu Hause, aber wenn es nötig wird, werde ich aufstehen, einen Molotov-Cocktail nehmen und die Besatzer bekämpfen. Außerdem schieße ich gut. Ich mache keinen Witz.
Meine Mutter ist in Nikolajew. Die Leute dort sind Helden, sie leisten Widerstand und verhindern, dass der Feind weiter in Richtung Odessa gelangt. Meine Familie hat dort ein Möbelhaus. Es ist ein Familienunternehmen. Während des Krieges haben wir umgeschult. Jetzt produziert das Unternehmen Panzerabwehrigel, groß und klein. Vor kurzem fiel eine Rakete in der Nähe des Unternehmens – wir haben noch immer keinen Strom. Sobald alles repariert ist, werden wir Möbel für die Armee herstellen und versuchen, in den Export zu gehen, um die Wirtschaft der Ukraine anzukurbeln. Ich arbeite auch mit. Meiner Mutter spendete mehrmals Blut für die Krieger. Sie half auch dabei, Molotov-Cocktails zu machen. Eines Tages, als sie mit einem Hund in einem Wäldchen in der Nähe des Hauses spazierte, entdeckte sie seltsame Markierungen an den Bäumen. Mit Hilfe der Nachbarn haben sie alle Markierungen gesucht und gelöscht. Es waren feindliche Markierungen, die im Dunkeln leuchten. Ich bin stolz auf meine Mutter. Wie kann ich gehen und sie zurücklassen? Sie hat Angst. Ich auch. Wenn alle gehen, wird niemand unsere Häuser beschützen.
Mein Vater ist ein Seemann. Er bat das Büro, ihn nach Hause zu schicken. Die Nachricht vom Krieg hat ihn in Brasilien erreicht. Übrigens, in 5 Tagen wird er schon in Nikolajew sein. Dad sagt, er hatte einmal einen Albtraum, über den Krieg, schwarze Tage in unserer Geschichte. Er sagt, es war ein Albtraum und wenn er nicht in den Krieg geht dann wird es nie enden. Und wissen Sie, ich glaube nicht, dass mein Vater ein Zauberer ist oder die Zukunft vorhersagen kann. Ich weiß, dass er Patriot ist, er ist Ukrainer. Wenn ein ungebetener Gast in Ihr Haus kommt - verteidigen Sie Ihr Haus. Schützen Sie Familie, Heimat, und das wichtigste - Zukunft! Ich habe Angst, ihn im Kampf zu verlieren, ich fürchte um meine Familie. Aber ich wage es nicht, es meinen Eltern auszureden und sie zu bitten, die Stadt zu verlassen. Das ist ihr Wille. Das ist ihre Entscheidung. Sie tun alles aus reinem Herzen und deshalb werden wir gewinnen. Es geht bei diesem Krieg nicht um Territorien, es geht um Menschen!