Bisher unveröffentlichter Missbrauchsfall: Der Vatikan wankt
Die katholische Kirche versteht es, Moral von sehr weit oben herzuleiten, aus nicht geringerer Höhe als von Gott selbst, und hienieden in simple, eingängige Botschaften zu verpacken: eine Steintafel mit zehn Geboten. Zum Beispiel das achte: Du sollst nicht lügen.
Jetzt steht der Verdacht im Raum, der Mann, der an der Spitze der Kirche stand, habe gegen dieses Gebot verstoßen: Benedikt XVI., 94 Jahre alt, mit bürgerlichem Namen Joseph Ratzinger, von 2005 bis 2013 Papst, heute in kirchenrechtlicher Grauzone in einer Art Ruhestand. Der Ex-Pontifex-Maximus sollte einer Münchner Rechtsanwaltskanzlei, die vom Erzbistum München und Freising beauftragt ist, Fälle von sexuellem Missbrauch zu untersuchen, Auskunft geben. Ratzinger war dort von 1977 bis 1982 Erzbischof und wird beschuldigt, nichts dagegen unternommen zu haben, dass Priester, die sich sexueller Übergriffe schuldig gemacht hatten, bloß versetzt wurden. Ratzinger behauptete zunächst etwa, er habe an einer Sitzung im Jahr 1980, in der eine solche Versetzung beschlossen worden war, gar nicht teilgenommen. Das erwies sich rasch als Falschaussage. Benedikt musste dies vergangene Woche eingestehen und sich korrigieren.
Die Verdachtsmomente: der Papst habe in seiner Vergangenheit Mitverantwortung für die verantwortungslose Praxis, Sexualtäter nicht aus der Seelsorge abzuziehen, auf sich geladen. Damit ist der Missbrauchsskandal unmittelbar auf der höchsten Hierarchieebene der katholischen Kirche angelangt.
profil fügt dieser Entwicklung in der Story „Sieben dunkle Jahre“ einen weiteren Aspekt hinzu. Ein ehemaliger Pfarrer dokumentiert anhand eines bisher unveröffentlichten Briefwechsels mit Ratzinger einen Vorfall aus seiner Zeit im Priesterseminar. Er sei damals vom Sekretär Ratzingers sexuell bedrängt worden, und weil er dem Drängen nicht nachgab, habe er Nachteile erlitten, so der heute 70-Jährige.
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