Patrisse Khan-Cullors, Mitbegründerin von "Black Lives Matter"

"Black Lives Matter:" Eine Schwester, die aufstand

Ihr Bruder wurde im Gefängnis schwer misshandelt, ihre Familie durch Rassismus fast zerstört. Ein Nachmittag mit Patrisse Khan-Cullors, Mitbegründerin der Bürgerrechtsbewegung "Black Lives Matter".

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Patrisse Khan-Cullors steht im Hinterhof des Wohnblocks in Van Nuys, einem der gesichtslosen Vororte von Los Angeles, in dem sie aufgewachsen ist. Aber Cullors, 32, Mitbegründerin der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter, war nie mehr hier, seit man ihre Familie Ende der 1990er-Jahre hinauswarf, weil der Vermieter lieber weiße Familien wollte. In der Mitte des Hofs befindet sich ein kleiner Pool, umgeben von einem Gitter. Nun hält sie sich an den Stäben fest wie schon in ihrer Kindheit, die jäh endete, als sie zwölf Jahre alt war und lernte, was es bedeutet, schwarz zu sein in Amerika.

Durch das Gitter hindurch sah sie damals, wie die Polizisten vorbeifuhren und sich ihre Brüder und deren Freunde vorknöpften: 14-jährige Teenager, die nur vor dem Haus saßen und dummes Zeug redeten. Sie wurden von den Cops täglich kontrolliert, an die Wand gedrückt, gedemütigt. "Manchmal nahmen sie einen von ihnen grundlos mit", erinnert sich Khan-Cullors. Schreie und Schüsse aus vorbeifahrenden Autos seien so alltäglich gewesen, dass man sie irgendwann gar nicht mehr wahrnahm, erzählt sie und schlendert gedankenverloren hinüber zur Waschküche. Sie legt ihre Hand auf den Trockner: "Wir mussten die Zehn-Cent-Stücke mit einem Hammer flachhauen, damit sie groß wurden wie Vierteldollarmünzen und wir die Maschinen damit füttern konnten. So arm waren wir."

Es gibt Biografien, in denen sich die Geschichte eines ganzen Landes widerspiegelt. Die Gewalt, das Machtgefüge, die systematische Unterdrückung von Schwarzen, all das schwingt mit, wenn Cullors über ihre Schulzeit spricht; über ihren abwesenden Vater; die Mutter, die frühmorgens aus dem Haus ging und erst spätabends hundemüde von der Arbeit wiederkam.

Wir mussten die Zehn-Cent-Stücke mit einem Hammer flachhauen, damit sie groß wurden wie Vierteldollarmünzen und wir die Maschinen damit füttern konnten. So arm waren wir.

Und doch erzählt Cullors von einem fremden Amerika, von dem selten die Rede ist, weil sonst mittelalte Schriftsteller, Journalisten und Historiker bestimmen, wie wir die Dinge zu sehen haben. Cullors' Blick ist ein anderer: Ihr Amerika ist ein Land der vergessenen Frauen.

Vor etwas mehr als zwei Jahren erschien ein schmales Buch des Journalisten Ta-Nehisi Coates über die rassistische Gewalt an Afroamerikanern seit der Sklaverei. Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der die Medien täglich über neue Fälle von Polizeigewalt an Schwarzen berichteten - über Jugendliche, zum Teil noch Kinder, die erschossen wurden, weil man sie für Einbrecher hielt, nur weil sie Kapuzenpullis trugen: Tamir Rice, Trayvon Martin, Michael Brown, Eric Garner und viele mehr. Es wurde über die Gewalt gesprochen, der junge afroamerikanische Männer täglich begegnen, nicht nur in Auseinandersetzungen mit der Polizei, auch untereinander. Doch über die Frauen, Mütter und Witwen und vaterlose Töchter, die sich fortan allein durchs Leben schlagen müssen, sprach kaum jemand.

Barack Obama besuchte 2015 als erster Präsident in der Geschichte des Landes ein Bundesgefängnis. "Es sitzen Menschen hinter Gittern, die nicht hinter Gitter gehören", sagte er anschließend. Die Zahl der Insassen hat sich seit 1980 landesweit vervierfacht, in Kalifornien sogar verfünffacht. Mehr als zwei Millionen Menschen sind derzeit in US-Gefängnissen in Haft - die USA, "Land of the Free", haben eine der höchsten Gefangenenraten der Welt. Ganze Wirtschaftszweige profitieren davon, weil es keine billigeren Arbeitskräfte gibt als Häftlinge: Sie verpacken Kaffee für Starbucks, stellen die Hälfte aller US-Flaggen her und nähen Unterwäsche für Victoria's Secret. Einen Großteil der Insassen stellen schwarze Männer. Viele von ihnen hätten für kleine Vergehen "viel zu drakonische Strafen erhalten", sagte Präsident Obama bei seinem Besuch, und er war sich sicher: "Wenn mein Leben ein wenig anders verlaufen wäre, dann hätte es auch mich treffen können."

Doch was ist mit den Frauen, welche die Lücken füllen mussten, die diese Männer hinterlassen? Was ist mit ihrer Trauer? Was mit der Scham und der Wut über ein verpatztes Leben? Was ist mit den Töchtern, die davon träumten, Ärztinnen zu werden, und stattdessen hinter dem Tresen von Kentucky Fried Chicken landen?

Das ist das Amerika, von dem Patrisse Khan-Cullors erzählt: ein Land, in dem zu viele Afroamerikanerinnen schweigen und trauern und hinter Fritteusen verschwinden, weil sie irgendwann keine mehr Kraft haben - so wie auch wie Cullors' Mutter Cherice.

Cullors steigt in ihren schwarzen Honda und fährt vom Wohnblock ihrer Kindheit zu ihrer alten Schule, wo sie bereits erwartet wird. Der Schuldirektor John Plevack hat sich für die Gründerin von Black Lives Matter extra eine Krawatte umgebunden und seine Haare geplättet. Er schenkt der Besucherin ein Jahrbuch aus den 1990er-Jahren, in dem sie gleich ihr Foto sucht. Mit dem Finger fährt Cullors über die Bilder junger Teenager und verharrt dann bei einem lächelnden Mädchen mit schulterlangen Haaren: "Und das hier, das bin ich."

Patrisse Cullors ist erst vor wenigen Tagen aus Australien zurückgekehrt, wo ihre Organisation Black Lives Matter mit dem Sydney-Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Nun sitzt sie im Gang ihrer Mittelschule, wo sie zum ersten Mal die Biografien von Gandhi und Martin Luther King studierte und ihre Lehrer über politischen Aktivismus reden hörte. Es ist ein langer Weg von hier bis zur Gründung einer weltweiten Bürgerrechtsbewegung, die unter Barack Obama erst gefeiert wurde und nun unter Präsident Donald Trump als Anti-Polizei-Bewegung und Terrororganisation abgestempelt wird.

Patrisse Cullors hat über diesen Weg ein sehr persönliches Buch* geschrieben, das jeden Leser, der kein Herz aus Stein hat, wütend zurücklässt -weil man vielleicht zum ersten Mal versteht, wie ungleich die Bedingungen in den USA sind, wie sehr die Unterdrückung der Schwarzen seit Jahrhunderten System hat und wie sich all das auf Frauen und Kinder auswirkt.

Cullors' Weg in den Aktivismus begann, als sie herausfand, wie die Behörden ihren Bruder Monte im Gefängnis behandelten. Schon als Teenager in den 1980er-Jahren war Monte immer wieder verhaftet und für Tage weggesperrt worden. Es war die Zeit, in der US-Präsident Ronald Reagan den bereits unter Richard Nixon begonnenen "war on drugs" wiederaufnahm, indem er die Polizei in den Städten noch stärker militarisierte. Die Maßnahmen, die später von Bill Clinton beibehalten wurden, ließen zwar die Kriminalität in vielen Städten sinken -dennoch halten die meisten Experten den Krieg gegen die Drogen heute nicht nur für gescheitert, sondern vor allem für rassistisch. Nach Cullors' Einschätzung war er nichts anderes als eine "ethnische Säuberung". Familien wurden aus ihren alten Vierteln vertrieben und an den Rand gedrängt: "Den Vätern und Söhnen raubte man die Zukunft, den Töchtern und Müttern die Hoffnung. Wir sind eine verlorene Generation."

Man rammte eine Taschenlampe in das Rektum eines Häftlings. Ein Mann wurde nackt ausgezogen, während man die Mithäftlinge in der Zelle aufforderte, ihn zu vergewaltigen.

Als sie ihren Bruder Monte nach einer seiner Entlassungen aus dem Gefängnis abholte und die blauen Flecken an seinem Körper bemerkte, begann Cullors, damals Mitte 20, sich immer stärker gegen Gewalt an Häftlingen einzusetzen. 2011 las sie in einem Bericht der Bürgerrechtsbewegung ACLU von den Foltermethoden eines Sheriffs in Los Angeles. Auf 70 Seiten berichteten Zeugen von Elektroschocks und vorsätzlichen Knochenbrüchen. "Man rammte eine Taschenlampe in das Rektum eines Häftlings. Ein Mann wurde nackt ausgezogen, während man die Mithäftlinge in der Zelle aufforderte, ihn zu vergewaltigen", hieß es in dem Bericht. Und weiter: "Der Sheriff zwang Häftlinge, aus dem Klo zu trinken."

Dieser Sheriff, Lee Baca, in Kalifornien ein angesehener Mann, sei im Mai 2017 zu drei Jahren Gefängnis und zu einer Geldstrafe von 7500 Dollar verurteilt worden, erzählt Cullors. Sie steht jetzt an einer Ampel und blickt -an Autogaragen und Taco-Restaurants vorbei -ins Leere. Es ist nicht nur die Gewalt an Häftlingen, die Cullors verzweifeln lässt, sondern ebenso die lächerliche Strafe, die dieser Sheriff erhielt: "Währenddessen verschwinden andere, nur weil sie zu schnell gefahren sind - und weil sie die falsche Hautfarbe besitzen."

Der Killer wird im ersten Anklagepunkt freigesprochen. Und dann in allen anderen. Es verschlägt mir den Atem. Das ist unmöglich.

2013 besuchte Patrisse Khan-Cullors gemeinsam mit zwei Freundinnen einen Häftling in einem Gefängnis im Norden Kaliforniens. Auf der Rückreise nahmen sie ein Motelzimmer und klappten den Laptop auf. Sie warteten gespannt auf die Urteilsverkündung im Prozess gegen George Zimmerman, der ein Jahr zuvor als Nachbarschaftswächter einer Siedlung in Florida den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. "Trayvon war einfach nur ein schwarzer Junge auf dem Heimweg. Unterwegs mit einer Dose Arizona-Eistee und einem Päckchen Skittles (eine in den USA bekannte Marke von Fruchtdragees, Anm.), die er für seinen kleinen Bruder gekauft hatte", erzählt Cullors in ihrem Buch. "Ich gehe auf meine Facebook-Site, weil dort alle updaten, was gerade passiert. Und dann geschieht es", schreibt sie über den Moment, der ihr Leben ein weiteres Mal verändert wird: "Der Killer wird im ersten Anklagepunkt freigesprochen. Und dann in allen anderen. Es verschlägt mir den Atem. Das ist unmöglich."

An diesem Abend las Cullors einen Facebook-Eintrag von Alicia Garza, einer Bekannten. "Mich überrascht immer noch, wie wenig schwarze Leben zählen", schrieb Garza, worauf Cullors mit einem Satz antwortete, der um die Welt geht: "Black Lives Matter" (Schwarze Leben zählen).

Es war keine gedankenlose Aneinanderreihung von Wörtern, die sie in ihren Laptop tippte, und auch keiner der unüberlegten Sätze, die man im Gefühlsüberschwang über Social Media verbreitet. Es war vielmehr die Quintessenz ihres Lebens, das mit dem Blick durch die Gitterstäbe bei ihrem Pool in Van Nuys begann. 30 Jahre in drei Wörtern: ein amerikanisches Leben.

Cullors tat sich mit Garza zusammen, aus dem berühmten Hashtag wurde bald eine landesweite Organisation. Black Lives Matter habe "Amerika verändert", meint Cullors. Viele dachten 2008, mit Barack Obama als Präsidenten hätten die USA die Rassenfrage überwunden. "Aber jahrhundertealte Unterdrückung lässt sich nicht einfach abstellen", sagt sie und hält jetzt wieder vor ihrem ehemaligen Haus an.

Man darf nicht aufhören, über Rassismus zu reden. Sonst wird er uns verfolgen, bis er uns alle umbringt.

Es ist spät geworden. Einen ganzen Nachmittag hat diese Reise zurück zu ihren Anfängen gedauert, die sie zu dem machten, was sie heute ist. Doch nun klingt sie nachdenklich, als stünde ihr lebenslanger Kampf auf der Kippe. Donald Trump, der Black Lives Matter als "Bedrohung" bezeichnete, habe in den vergangenen zwei Jahren die mediale Aufmerksamkeit ganz auf sich gezogen. Niemand spreche mehr über die Gewalt in den Gefängnissen und über den Rassismus, obwohl sich die Situation nicht gebessert habe.

"Die Anzahl der zivilen Todesopfer durch Polizeigewalt ist 2017 gestiegen", sagt Cullors und wirkt ratlos, zum ersten Mal an diesem Nachmittag: "Man darf nicht aufhören, über Rassismus zu reden. Sonst wird er uns verfolgen, bis er uns alle umbringt."

Die Black-Lives-Matter-Proteste von Dallas im Sommer 2016, bei denen fünf Polizisten erschossen wurden, hätten der Bewegung sehr geschadet. "Seither nennt uns die Rechte eine Terrororganisation, Fox News und Breitbart wollen uns zerstören", sagt Cullors und verstummt für Augenblicke, bis sie sich einen Ruck gibt, weil sie nicht enden will wie ihre Mutter und all die anderen Frauen ihrer Kindheit, die immer nur schwiegen und das Leben verpassten, während sie auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. "Es liegt noch so viel Arbeit vor uns", sagt Cullors, startet den Motor und fährt los.