Bloggerin oder Agentin? Albaniens bizarre Spionage-Affäre
Die Angeklagten tragen noch immer die Outdoor-Kleidung, die sie im Reisegepäck hatten. Svetlana T., 33 Jahre, kakifarbenes T-Shirt. Mikhail Z., 22 Jahre Wanderhosen, Fedir A., 23 Jahre, Camouflage-Bermudas. Jetzt sitzen sie in einem Glaskasten. Justizwachen nehmen ihnen die Handschellen ab, hinter der Scheibe drängeln sich die Fotografen.
Wenige Minuten später flimmern ihre Gesichter über die Fernsehbildschirme in ganz Albanien. Alle wollen wissen, wie der Russe, die Russin und der Ukrainer aussehen, die am vergangenen Wochenende Schlagzeilen machten, weil sie versuchten, in eine alte Militärfabrik einzudringen – angeblich nur, um Fotos für Instagram zu machen. Doch der Einbruch ist zum Fall für die nationale Sicherheit geworden. Das liegt daran, dass Mikhail, der Jüngste, die Soldaten mit einem chemischen Spray angegriffen hat. Und an seinem russischen Pass.
Reicht das aus, um jemanden als Spion anzuklagen? Und sollte sich der Vorwurf erhärten: Was hatten die Drei auf dem Gelände einer Fabrik zu suchen, die seit 30 Jahren keine Waffen mehr herstellt?
Der Vorfall ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Krieg in der Ukraine Europa verändert hat. Das gilt für den Balkan im Besonderen. „Wenn uns diese Geschichte etwas zeigt, dann wie vulnerabel die Region ist“, sagt ein Diplomat aus Tirana im Hintergrundgespräch. Aus Angst vor einer Destabilisierung durch Russland bekommen vermeintlich banale Ereignisse deutlich mehr Aufmerksamkeit als sonst.
Albanien: Drehscheibe für die NATO
Die Staatsanwaltschaft äußert den Verdacht, dass die Drei, getarnt als Blogger, im Dienste des Kreml nach Albanien gekommen seien. Für Albanien, seit 2009 in der NATO, wäre das eine große Sache. Moskau, zur Zeit des Kommunismus der Alliierte, gilt heute als feindlich gesinnter Staat. Kein Balkanland stellt seine Solidarität mit der Ukraine dermaßen offen zur Schau. In Tirana wurde die Straße, in der die russische Botschaft ihren Sitz hat, in „Freie Ukraine“ umbenannt, der Bürgersteig in den Nationalfarben blau und gelb gestrichen. Aufgrund seiner strategischen Lage im Mittelmeer – unweit des Nahen Ostens und Schwarzen Meers – wird Albanien für das westliche Verteidigungsbündnis immer wichtiger. In Kuçova, eine Stadt, die früher nach Josef Stalin benannt war, eröffnet 2023 eine NATO-Luftwaffenbasis, die das Bündnis 50 Millionen Dollar gekostet hat. Die albanische Regierung ist in Verhandlungen mit der NATO über einen Marinehafen an der Küste.
„Albanien ist eines der pro-westlichsten Länder auf dem Balkan und entwickelt sich zu einer Drehscheibe und zu einem wichtigen Übungsplatz für die NATO“, sagt Agon Maliqi, der als Analyst für Sicherheitsfragen in Tirana arbeitet. „Geheimdienste haben natürlich ein Interesse daran zu erfahren, wie weit militärische Projekte fortgeschritten sind. Das gilt auch für kritische Infrastruktur, zum Beispiel Staudämme für die Energiegewinnung.“ Russland verfüge zwar über keine militärische Präsenz auf dem Balkan, habe aber andere Mittel, um die Länder zu destabilisieren. Ein Sprecher der NATO bestätigt das auf profil Anfrage: „In den letzten Jahren hat Russland versucht, sich in alliierte Wahlen einzumischen, Cyberangriffe sowie illegale und zerstörerische Aktivitäten russischer Spione auf alliiertem Territorium durchgeführt.“
In Montenegro scheiterte 2016 ein angeblich durch russische Agenten orchestrierter Putschversuch. Ziel war es, eine mittlerweile erfolgte Aufnahme des kleinen Landes in die NATO zu verhindern. Auch der NATO-Beitritt Nordmazedoniens war von russisch beeinflussten Desinformationskampagnen begleitet. Russland soll dort gezielt Informanten für seinen Militärgeheimdienst angeworben haben. Albanien wurde Mitte Juli Ziel einer massiven Cyber-Attacke. Zwar wird der Iran dahinter vermutet, der Vorfall zeigt aber, wie anfällig die öffentliche Verwaltung für die hybride Kriegsführung ist.
Könnte das Grund dafür sein, Spione in das Balkanland einzuschleusen?
Die Gruppe will mit alledem nichts zu tun haben.
„Niemand von ihnen arbeitet für einen Geheimdienst. Sie sind passionierte Fotografen“, sagt der Anwalt von Fedir A., dem ukrainischen Staatsbürger.
„Mein Mandant ist Student. Er hat den Soldaten mit einem Pfefferspray angegriffen, wie man ihn in jedem Supermarkt kaufen kann. Er hat sich bedroht gefühlt und hatte Angst“, sagt der Anwalt von Mikhail Z., dem russischen Staatsbürger.
„Sie wusste nicht, dass es sich um ein Militärgelände handelt. Sie hat sich am Angriff auf den Soldaten nicht beteiligt“, sagt der Anwalt von Svetlana T., der 33-jährigen Russin.
Was ist Urbex?
Auf Instagram ist T. unter dem Namen „Lana Sator“ aktiv und hat eine Viertelmillion Follower. Sie ist Teil einer Szene, die sich „Urbex“ nennt. Das Kürzel steht für „Urban Exploration“. Gemeint sind Erkundungstouren an verlassene Orte, meist architektonische Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges: Unterirdische Bunker, alte Militärbaracken, Partisanendenkmäler.
All das gibt es in Albanien zuhauf. Bis 1991 war das Land eine stalinistische Diktatur. Egal ob in Osteuropa oder auf dem Balkan: Urbex ist eine rechtliche Gratwanderung. Im Gespräch mit profil erzählt ein Mitglied der Szene, dass es gängig sei, nicht nach einer Genehmigung zu fragen, sondern auf eigene Faust in Gebäude einzudringen. Manche Mitglieder gehen auf Nummer sicher und besuchen nur Orte, die ungesichert sind. Es sei üblich, einen Pfefferspray mit sich zu tragen, um sich vor wilden Tieren zu schützen. Angriffe auf Soldaten gelten jedoch als Tabu.
Sator gilt als eine der bekanntesten Urbex-Fotografinnen Russlands. Sie hat eine Webseite, ihre Bilder aus dem post-sowjetischen Raum waren in Büchern, Magazinen und Galerien zu sehen. 2018 sagte sie in einem Interview mit dem US-Magazin „Vice“: „Ich brauche Urbex, um glücklich zu sein. Es ist wie eine Droge.“
2011 gelang es ihr, sich in eine russische Raketenfabrik in der Nähe von Moskau zu schleichen. Damals äußerten sich sogar Regierungsvertreter und rügten in aller Öffentlichkeit die unachtsamen Wachen.
Ihren 30. Geburtstag feierte Sator 2019 in einer albanischen Munitionsfabrik. Ein Foto zeigt, wie sie mit ihrer Hand in eine Box voller Patronenhülsen greift, als wären es Süßigkeiten.
Hat diese Frau jahrelang Orte für den Kreml ausgekundschaftet? Oder hat sie einfach ein sehr ungewöhnliches und leichtsinniges Hobby? Was ist so interessant an der Fabrik, die sie unbedingt von innen sehen wollte?
Die alte Militärfabrik
Das kleine Dorf Çekin liegt an einem Stausee, 80 Kilometer südlich von Tirana. Auf der Hauptstraße wiehert ein Pferd,
Dorfbewohner kommen mit beladenen Eseln von den Feldern zurück. Mais, Wein, Feigen, Granatäpfel: Die Felder reichen bis an die Ränder der Fabrik. Ein Schornstein ragt in den Himmel, die Scheiben der Baracken sind eingeschlagen, die Mauern überwuchert. Die Natur holt sich das Industriegelände zurück.
Früher, zur Zeit des Kommunismus, wurden in der Fabrik Kalaschnikow-Gewehre für die Armee hergestellt. Mehr als 2.000 Menschen arbeiteten auf dem Areal. Heute sind nur noch 800 Bewohner übriggeblieben. „Es gibt keine Jobs und die Preise steigen und steigen“, beschwert sich Ndricim, der Bürgermeister und zündet sich seine Zigarette mit einem Streichholz an. „Früher musste niemand das Dorf verlassen, weil es genug Arbeit in der Fabrik gab. Heute gehen die Jungen ins Ausland.“ Den Job als „Dorfrepräsentant“ macht Ndricim nebenbei. Er ist pensionierter Landwirt, seine Hände dreckig von der Arbeit auf dem Feld. Dass sein Dorf jetzt weltweit Aufmerksamkeit bekommt und die Regierung eigens eine Pressekonferenz dazu einberufen hat, nimmt er gleichgültig, ja fast gereizt hin. Sonst interessiert sich niemand für diesen Ort.
Svetlana T. und ihre zwei Reisebegleiter haben sich für Çekin interessiert. Genauer gesagt: Für seine verfallene Fabrik.
Laut Dorfbewohnern hat sich die Gruppe drei Tage lang in Çekin aufgehalten und in der Gegend gecampt. Jetzt liegt ihr Reisegepäck bei der Staatsanwaltschaft: Drohnen, Nachtsichtgeräte, sechs Telefone, Sim-Karten, Campingausrüstung und ein roter Chevrolet. „Das Auto ist im Dorf sofort aufgefallen“, sagt Pellumbi, ein Bewohner und pensionierter Polizist, „die Kinder haben es fotografiert, weil sie so etwas nur selten hier sehen.“ Lana Sator sei einmal an der Bar vorbeigegangen und habe die Bewohner begrüßt. Gesprochen hätten sie aber nicht.
„Willst du die Fabrik sehen?“, fragt Pellumbi grinsend. Kein Problem, er habe dort früher als Wächter gearbeitet und sei auch danach noch manchmal hin. Er trinkt seinen Espresso aus und führt zur Fabrik, um die sich dieser Tage Gerüchte ranken, wie der Efeu auf der Backsteinmauer. Die albanischen Medien spekulieren: Hütet die Fabrik ein Staatsgeheimnis? Tüftelt die NATO hier an neuen Waffen? Alles falsch, versichert das albanische Verteidigungsministerium gegenüber profil: „Wir haben dort nichts zu verstecken“, sagt er, „die Fabrik hat die Produktion 1992 eingestellt.“ In den Folgejahren wurde auf dem Areal alte Munition aus der Zeit des Kalten Krieges zerstört. Ein Sprecher der NATO bestätigt das. Die Fabrik sei zuletzt 2014 von der NATO benutzt worden – eben um alte Waffen unbrauchbar zu machen.
Der Staatsanwalt
Warum also die ganze Aufregung?
„Weil das kein gewöhnlicher Fall ist“, sagt Kreshnik Ajazi, der ermittelnde Staatsanwalt. Es komme nicht oft vor, dass Ausländer in ein Militärgelände einbrechen, für das man eine Genehmigung braucht und dort Soldaten angreifen. Ob es sich um einen gewöhnlichen Pfefferspray handelt oder nicht, kann der Staatsanwalt noch immer nicht sagen. Die Dose werde derzeit in einem Labor untersucht. Die Soldaten jedenfalls sind wohlauf und bereits aus dem Krankenhaus entlassen.
Es ist Donnerstagnachmittag, sechs Tage nach der Festnahme. Der Staatsanwalt trägt bequeme Sportschuhe und sitzt in einem gepolsterten Sessel in seinem klimatisierten Büro, die Jalousien zugezogen. Unten am Eingang wartet sein Bodyguard. Ajazi steht unter Personenschutz, weil er gegen die organisierte Kriminalität in der Stadt Elbasan ermittelt, berüchtigt für seine kriminellen Gangs, die sich gegenseitig bekämpften. Jetzt ermittelt Ajazi gegen drei vermeintliche Backpacker.
„Ich hatte in meiner Karriere noch nie so einen Fall“, gibt er zu. Über den Rest hält er sich bedeckt: Eine finale Anklage liege noch nicht vor, die Beweise sind unter Verschluss. Einige Monate werde sich die Verhandlung noch ziehen. Den Dreien drohen zwischen drei und zehn Jahre Haft.
Die Freundin
„Als Lana festgenommen wurde, war ich schockiert. Das hätte jedem in der Urbex-Szene passieren können, auch mir“, sagt Maria Passer. Die 28-Jährige spricht schnell und aufgeregt in die Videokamera. Sie stammt – wie Sator auch – aus Moskau, lebt derzeit aber in Bangladesch. „Lana und ich haben uns vor acht Jahren auf einer Party kennengelernt“, sagt sie. Seitdem sind die Beiden immer wieder gemeinsam auf Reisen gegangen: Armenien, Georgien, Bulgarien, Kroatien und 2018 zum ersten Mal per Autostopp und Rucksack durch Albanien. Die beiden Frauen steigen unter anderem in einen alten, sowjetischen U-Boot-Stützpunkt an der Küste ein. Damals habe es keine Probleme gegeben, erzählt Passer. Einmal seien sie auf die Polizeistation eskortiert, dann aber wieder freigelassen worden. Manchmal hätten die Wachen ihnen bereitwillig eine Tour gegeben.
Schon als Teenager habe sich Lana Sator für verlassene Orte interessiert. „Sie war fasziniert von der Schönheit und dem Charme von Gebäuden, die der Mensch zurückgelassen hat“, sagt Passer. Mit elf Jahren stieg sie auf dem Schulweg nach Hause in ihre erste Fabrik ein. Später studierte sie an einer technische Universität und führte einen Blog mit Fotos von ihren Urbex-Erkundungen. „Als Magazine anfingen, ihre Fotos zu kaufen, kündigte sie ihren Job, machte ihr Hobby zum Beruf und bereiste die ganze Welt.“ Im Februar 2022, mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, zog Sator nach Georgien. In den sozialen Netzwerken hat sie den Krieg kritisiert. Jetzt, glaubt ihre Freundin Maria Passer, wurde sie zum Opfer der internationalen Ereignisse. „Noch vor ein paar Jahren wäre der Einbruch in die Fabrik keine große Sache gewesen“, glaubt sie.
In Çekin wird es langsam dunkeln. Pellumbi, der Dorfbewohner, steht vor den Toren der Fabrik. Hinter den grünen Eisenstangen sitzen mehrere Soldaten in einer Laube und stehen sofort auf, als er näherkommt. Was man hier wolle? Keine Fotos! Am Rückweg pflückt Pellumbi Beeren von den Sträuchern, dann zeigt er auf einen losen Maschendrahtzaun, den man ohne große Mühe übertreten könnte. „Das Gelände ist nicht gut gesichert“, sagt er, „überhaupt nicht.“
Diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Freitagnachmittag, kurz vor Redaktionsschluss. Ein Anruf aus Moskau. Am anderen Ende der Leitung ist eine weitere Freundin von Sator. Auf Twitter ist sie mit einem Fake-Profil aktiv, um ihre Meinung frei äußern zu können. Über Sators Anwalt in Russland habe sie erfahren, dass ein Gericht in Moskau einen internationalen Haftbefehl gegen die Fotografin erlassen hat und ihre Auslieferung fordert. Angeblich, weil sie während ihrer Urbex-Touren in Russland Fotos von Dingen oder Orten gemacht hat, die als Staatsgeheimnis klassifiziert sind.
"Jetzt", sagt die Freundin, "hält sie also nicht nur Albanien für eine Spionin, sondern auch Russland."