Ein Soldat der ukrainischen Armee inspiziert Fragmente eines abgeschossenen Flugzeugs in Kiew, Ukraine, Freitag, 25. Februar 2022. 
Titelgeschichte

Blut und Wahn: Ist der russische Präsident noch zu stoppen?

Russland greift die Ukraine an und zerstört damit die europäische Friedensordnung. Wladimir Putin droht mit Atomwaffen. Die EU zeigt Hilflosigkeit.

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Wer ein fremdes Land unterwerfen will, muss dessen Führung beseitigen. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Telefonat mit Bundeskanzler Karl Nehammer vergangenen Donnerstag, 24. Februar, um elf Uhr vormittags. Und: „Ich weiß nicht, wie lange es mein Land noch gibt.“ 

Keine 24 Stunden später waren die Truppen des Feindes in der ukrainischen Hauptstadt. In Berlin verurteilte die frühere Kanzlerin Angela Merkel „den eklatanten Bruch des Völkerrechts“.

Mit der russischen Invasion gingen in Europa mehrere Gewissheiten verloren: dass die Zeit der großen Konfrontationen vorbei ist; dass die jetzige Generation die erste ist, die ohne Angst vor einem Krieg lebt; dass Friede und Freiheit nicht nur Zustände, sondern unverrückbare Errungenschaften auf dem Kontinent sind.

Wladimir Putin hat diese Gewissheiten zerschossen. Die Bürgerinnen und Bürger der EU müssen um den Wirtschaftsaufschwung nach der Pandemie bangen – die Einwohner von Charkow, Odessa oder Kiew um ihr Leben.

Wie lange kann sich die Ukraine wehren, und wird sie nach der Kapitulation zum dauerhaft besetzten Staat mit einer moskautreuen Marionettenregierung? Hat die Diplomatie des Westens versagt? Wird die EU endlich ihr geopolitisches Zwergen-Dasein überwinden? Und ist Putin überhaupt noch zu stoppen? Eine profil-Analyse.

Wie wird der Krieg verlaufen? 

Bevor der Feind ins Land eindrang, versuchte er, in die Köpfe seiner Gegner zu gelangen. Kurz vor der Invasion in den Morgenstunden des 24. Februar erhielten laut profil-Informationen Tausende ukrainische Soldaten Nachrichten auf ihre Mobiltelefone, in denen sie vor Tod und Verderben gewarnt wurden, würden sie nicht ihre Waffen niederlegen. Das Cyber-Manöver ist Teil der psychologischen Kriegsführung, um die Moral der gegnerischen Truppen zu schwächen. Schon vor der Invasion auf der Krim im März 2014 hatten ukrainische Soldaten derartige Drohungen auf ihren Handys erhalten. Die Halbinsel wurde den Russen kampflos überlassen.

Diesmal ist der Widerstand erbittert. Die Invasion der Russen ist mit keinem militärischen Konflikt in Europa seit 1945 vergleichbar. Es handelt sich laut dem Militärexperten Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies in London um einen „hochintensiven konventionellen Bewegungskrieg“, wie es ihn in Europa zuletzt im Zweiten Weltkrieg gab. Gady: „In der Ukraine herrscht ein Kampf der verbundenen Waffen mit todbringenden Systemen, die die Verluste schnell nach oben treiben. Die Geschwindigkeit solcher Gefechte ist enorm.“

Der Überfall lief wie aus dem militärischen Lehrbuch ab. Er begann mit landgestützten Raketen und Artillerie-Beschuss. Darauf folgten Luftlande-Operationen an neuralgischen Punkten, danach drangen 60 mechanisierte Verbände aus Panzern und gepanzerten Fahrzeugen mit bis zu 1000 Mann, sogenannte taktische Bataillonskampfgruppen, von Norden, Osten und Süden her in die Ukraine ein. Auf die Fahrzeuge waren große weiße „Z“ gepinselt. Russische Soldaten trugen ebenfalls weiße Markierungen um den Arm. Offenbar dienen die Zeichen dazu, sich vom ukrainischen Militär zu unterscheiden. Zum Wesen des Krieges zählt Unübersichtlichkeit.

Am ersten Tag drangen russische Einheiten tief auf ukrainisches Gebiet vor, wenn auch nicht so weit, wie es ursprünglich geplant gewesen sein dürfte. Das britische Verteidigungsministerium schätzt die russischen Verluste der ersten 24 Stunden auf 450 Mann. Einzelne Erfolge der Ukrainer wurden in den sozialen Medien gefeiert: abgeschossene russische Kampfflugzeuge und Hubschrauber oder der Kampf der Nationalgarde gegen eine Vorhut russischer Elite-Fallschirmjäger auf dem Gelände des Antonov-Flughafens Hostomel.

Der Widerstand mag tapfer sein, aber er scheint aussichtslos. Der ukrainische Luftraum war schon am ersten Tag größtenteils unter russischer Kontrolle. Früh wurden auch ukrainische Flugabwehrsysteme, Teile der Luftstreitkräfte und erst kürzlich von der Türkei gelieferte Kampfdrohnen zerstört. Ohne Luftunterstützung sind die ukrainischen Bodentruppen schutzlos. Militärexperte Gady: „Prinzipiell muss man sagen, dass die Ukraine schlicht zu groß ist, um gegen einen Zangenangriff eines quantitativ und qualitativ überlegenen Gegners auf Dauer verteidigt zu werden. Das Spektrum, wann dieser Krieg zu Ende sein wird, reicht also von einigen Stunden bis zu Tagen oder Wochen.“ 

Die Überlegenheit zeigte sich etwa auf der dem Donaudelta vorgelagerten Schlangeninsel. Die dort stationierten ukrainischen Grenzschützer wurden durch Raketen, abgefeuert von einem russischen Kriegsschiff im Schwarzen Meer, aufgerieben. Am Freitag verkündete das ukrainische Verteidigungsministerium schließlich, auch über 60-Jährige für das Militär zu rekrutieren – ein Beleg dafür, dass die Widerstandskraft der Ukrainer angesichts der Überlegenheit der Russen nachlässt.

Die Massivität des Angriffs überraschte selbst die europäischen Nachrichtendienste, obwohl diese mit einer robusten Invasion gerechnet hatten. Unklarheit herrschte bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe über die Lage in Kiew. Von einer gewaltsamen Einnahme der Hauptstadt dürften die russischen Truppen absehen, zu groß wären die Verluste an eigenen Soldaten und wohl auch ukrainischen Zivilisten.

Denkbar schien am Freitagabend allerdings eine Kommandoaktion im Regierungsviertel, um Staatspräsident Selenskyj und andere führende Politiker festzusetzen oder gar zu töten. „Targeted killing“ beziehungsweise „Enthauptungsschlag“ nennen das Experten. Nach der Ausschaltung ihrer Führung, so das Kalkül, werden auch die Streitkräfte kapitulieren. Eine derartige Aktion würde allerdings hohe Risiken bergen und wäre ohne intensive nachrichtendienstliche Aufklärung im Vorfeld kaum möglich.

Nach der Beseitigung des Präsidenten sowie der gewählten Regierung würde Putin wohl eine Marionettenregierung installieren. Beteuerungen der Russen, man würde Selenskyj als rechtmäßiges Staatsoberhaupt anerkennen, sind angesichts der Geschehnisse wenig glaubwürdig. Die Aussage von Außenminister Sergej Lawrow, „niemand“ plane „eine Besetzung der Ukraine“, klingt fast skurril. Dass sich die russischen Truppen nach der Invasion bald wieder zurückziehen, ist ausgeschlossen.

Im Gegenteil: Schon bald könnten ukrainische Eliten aus Politik, Beamtenschaft, Sicherheitskräften, Wirtschaft und Medien von den Besatzern systematisch ins Visier genommen werden. Eine dauerhafte Okkupation der Ukraine, das flächenmäßig so groß ist wie Deutschland und das Vereinigte Königreich zusammen, könnte die militärischen Kapazitäten der Russen allerdings überdehnen.

Zudem müssten sie mit einem gut organisierten Guerillakrieg durch Soldaten und Partisanen rechnen. Die ukrainischen Streitkräfte riefen die Einwohner dazu auf, Molotowcocktails vorzubereiten. 

Einziger Hoffnungsschimmer: Am Freitag bot Selenskyj Putin an, über einen zukünftigen neutralen Status der Ukraine zu verhandeln. Der Kreml zeigte sich zunächst gesprächsbereit. Doch Stunden später rief Putin die ukrainische Armee zum Putsch gegen Selenskyj und „dessen Bande von Drogenabhängigen und Neonazis“ auf.

Hat die Diplomatie des Westens versagt?

Mitte April vergangenen Jahres wandte sich der ukrainische Botschafter in Berlin mit einer dramatischen Warnung an die Medien. An der Grenze zur Ukraine seien 90.000 russische Soldaten zusammengezogen worden – in den Augen Andrij Melnyks nicht weniger als die Vorbereitung auf einen Angriff auf die Ukraine. „Es ist die größte Truppenbewegung Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt der Diplomat, es brauche nun mehr als „nette Worte“. 

„Der russische Truppenaufmarsch war eine vorgehaltene Pistole.“

Gerhard Mangott

Russland-Experte

Nicht nur Melnyk war besorgt. Der Aufmarsch der russischen Soldaten nährte Ängste des Westens vor einer Eskalation im Ukraine-Konflikt. Nach einem Gipfeltreffen Wladimir Putins mit US-Präsident Joe Biden zogen die Truppen allerdings wieder ab. 
Wie man heute weiß: nur vorübergehend.

Im Sommer 2021 beschrieb Putin in einem ausführlichen Essay, wie er sich die Zukunft der Ukraine vorstellt. Der Aufsatz, der rund ein Jahrtausend europäischer Geschichte umspannt, brachte die Ukraine und den Westen zum Schaudern. Putin stellte darin infrage, ob es sich beim zweitgrößten Land des Kontinents überhaupt um einen richtigen Staat handelte. Die verstörende historische Abhandlung war ein Vorgeschmack dessen, was noch auf Europa zukommen sollte. 

„Man hat unterschätzt, was Putin damals mit dem Truppenaufmarsch an den Grenzen signalisieren wollte“, sagt der Russland-Experte Gerhard Mangott. Die Minsker Verhandlungen über eine Friedenslösung im Donbass waren da schon länger ohne jeglichen Fortschritt dahingedümpelt. Die Ukraine, sagt Mangott, habe vieles blockiert, der ukrainische Präsident  Selenskyj habe selbst das Format infrage gestellt. 

Und so blieben die Fronten verhärtet. Selenskyj wiederholte sein Vorhaben, sein Land in EU und NATO zu führen. Und auch die NATO bleibt dabei: Im Sommer und Herbst wurde noch einmal betont, dass die Ukraine Mitglied in der Allianz werden solle.
Dabei war allen klar, dass das nicht geschehen wird. Die Ukraine wäre der NATO auf absehbare Zeit nicht beigetreten. 

„Der russische Truppenaufmarsch war eine vorgehaltene Pistole“, sagt Mangott, „da ist es schwer, Zugeständnisse zu machen.“ Nur: Die NATO habe ihre Politik der offenen Türen verteidigt, obwohl niemand die Ukraine aufnehmen wollte   – wissend, dass Moskau die militärische Eskalation androht. „War das sinnvoll für die Ukraine?“, fragt Mangott, „oder wäre die aufgezwungene Neutralität doch besser gewesen, als jetzt Opfer eines Angriffskrieges zu werden?“

Moskau versucht seit Jahrzehnten, die Osterweiterung der NATO zu stoppen. Genauso lange streitet man schon über die Frage, wer Schuld hat am Konflikt zwischen der NATO und Russland. Moskau beruft sich auf mündliche Zusagen des Westens aus dem Jahr 1990, wonach es nach einem NATO-Beitritt des wiedervereinigten Deutschlands keine Osterweiterung des Militärbündnisses geben werde. Der angebliche Verrat musste auch jetzt wieder als Rechtfertigung für das aggressive Vorgehen Russlands herhalten. „Wir wurden getäuscht“, sagte Putin vergangene Woche, „oder, um es im Volksmund zu sagen, einfach veräppelt“.

In den Augen Moskaus verletzte der Beitritt von Ländern des Baltikums und Osteuropas den Geist der Abmachungen von 1990. Zuletzt widersprach NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg: Es habe nie solche Versprechen gegeben, auch nicht im Hinterzimmer. 

Ganz so stimmt das zwar nicht, Belege für mündliche Zusagen der USA an die damalige Sowjetunion gibt es durchaus. Zentral war das Thema offenbar auch beim Treffen zwischen Vertretern Westdeutschlands, der Sowjetunion und den USA im Februar 1990. 
Damals versicherte der Außenminister der USA James Baker seinen Verhandlungspartnern aus Moskau, dass sich „die Zuständigkeit der NATO und ihrer Kräfte keinen Zentimeter nach Osten bewegen wird“. Wenig später bekräftigte BRD-Kanzler Helmut Kohl diese Zusage –  und Außenminister Hans-Dietrich Genscher sagte sogar öffentlich, dass sich die NATO nicht auf Osteuropa ausdehnen würde. Allerdings wurden die Staaten des ehemaligen Ostblocks nicht zum NATO-Beitritt gedrängt, sondern strebten diesen, vor allem aus Angst vor russischen Aggressionen, im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts aktiv an. 

Rechtlich bindend waren die Zusagen an die Sowjetunion, einen Staat, den es seit Dezember 1991 nicht mehr gibt, keinesfalls. Und den völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine rechtfertigen sie genauso wenig wie Putins skurrile historische Argumente für die vermeintliche Erfindung der Ukraine durch Russland in den 1920er-Jahren. 

Mit dem Angriff auf die Ukraine (und schon 2014 bei der Annexion der Krim) brach Putin eine ganze Reihe internationaler Vereinbarungen. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 ist das Recht aller Staaten auf territoriale Unversehrtheit festgeschrieben. Auch im Budapester Memorandum von 1994 hatte sich Russland (gemeinsam mit den USA und Großbritannien) verpflichtet, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten. 

Was kann die EU bewirken?

Die Ankündigungen der Europäischen Union waren dramatisch. Man werde die „härtesten Sanktionen aller Zeiten“ beschließen, hieß es vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend aus Brüssel. Doch was dann in der nächtlichen Sitzung beschlossen wurde, geht vielen nicht weit genug – allen voran der Ukraine, aber auch den baltischen Ländern, Slowenien und Polen. 

Geschäfte in der EU werden nun zwar auch privaten Banken aus Russland verboten, unterbunden wird zudem der Export von Technologien, die der Rüstung dienen können. Neu ist auch, dass reiche Russen nicht mehr als 100.000 Euro in der EU anlegen dürfen (mehr dazu auf Seite 18). Nur: Bis es so weit kommt, bleibt ihnen genug Zeit, ihr Geld aus der EU zu holen und anderswo unterzubringen. Gesichert bleibt deren Versorgung mit Gucci-Taschen, Edelsteinen und exklusiver Mode: Ein Exportverbot von Luxusgütern aus der EU nach Russland scheiterte schon im Vorfeld an Italien – und Belgien hat dafür gesorgt, dass weiterhin Diamanten an reiche Russen verkauft werden dürfen.

Immerhin eine Ankündigung kam vergangene Woche überraschend. Lange wurde über ein mögliches Ende des Pipelineprojekts Nord Stream 2 diskutiert, am Dienstag legte die deutsche Regierung die Pläne für die Finalisierung des milliardenschweren Vorhabens auf Eis. Aus der Sicht Berlins ist das ein großes Opfer. Moskau wird wohl schon damit gerechnet und die Verluste mit einkalkuliert haben.

Auch die vielleicht schärfste Option fehlte zunächst im Sanktionspapier. Bei der Frage, ob Russland aus dem weltweiten Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden soll, wie es die Ukraine und einige EU-Staaten fordern, herrschte zunächst Uneinigkeit.  Einzelne Länder fürchten, dass der Schritt der EU mehr schaden könnte als Putin. 

Russland wäre damit von fast allen internationalen Transaktionen abgeschnitten. Die Folgen für die Wirtschaft wären verheerend, nur: Das wären sie wohl auch für einige Mitgliedstaaten. Rund 40 Prozent des Gasbedarfs in der EU kommen aus Russland. Etliche Länder, darunter Österreich, sind von den Lieferungen abhängig. Bei einem Ausschluss aus Swift könnten diese nicht mehr bezahlt werden – und Moskau hätte einen weiteren Grund, den Gashahn abzudrehen. „Wir sollten nichts beschließen, was uns mehr schadet als Russland“, sagte ein mit der Sache vertrauter EU-Diplomat. 

Der Verzicht auf maximale Strafen hat aber auch taktische Gründe. Gemeinsam mit den USA, die bei Weitem nicht so viel mit Russland handeln wie Europa, aber ebenfalls zurückhaltend agieren, verfolgt die EU eine Art Stufenplan, bei dem jede weitere Aktion Russlands härtere Sanktionen zur Folge haben kann. Offenbar soll verhindert werden, dass man sich mit maximalen Strafen selbst schadet – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch, weil Putin dann nichts mehr zu verlieren hat. Oder, in den Worten des Diplomaten in Brüssel: „Wir dürfen nicht unser ganzes Pulver auf einmal verschießen.“ Ein Ausschluss aus Swift sei alles andere als vom Tisch. 

Am Freitagnachmittag wurde bekannt, dass auch Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow auf die Liste der Sanktionen kommen und ihr in EU-Staaten möglicherweise vorhandenes Vermögen eingefroren wird. Ein drittes Paket an Strafmaßnahmen, heißt es aus Brüssel, könnte es schon kommende Woche geben.

Bleibt die Frage, ob Sanktionen Putins Krieg gegen die Ukraine überhaupt noch aufhalten können. „Die Chance ist sehr gering“, sagt Mangott. 

Ist Putin noch zu stoppen?

Diplomatische Zurückhaltung schien der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock offenbar nicht mehr opportun zu sein. Nach der Invasion sprach sie davon, Waldimir Putin habe „eiskalt gelogen“ und warf dem russischen Präsidenten „menschenverachtende Wahnvorstellungen“ vor.

Tatsächlich narrte der russische „Diktator“ (der britische Premier Boris Johnson) die gesamte westliche Diplomatie. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz bat er für vermeintliche Verhandlungen im Kreml an einen grotesk 
anmutenden sechs Meter langen Tisch. Für die Öffentlichkeit inszenierte er ein bizarres Treffen seines nationalen Sicherheitsrates, dessen Mitglieder – darunter Außenminister Lawrow – wie Prüflinge auf Putins Fragen zu antworten hatten. Lawrow soll derzeit wenig Einfluss auf seinen Präsidenten haben, der Verteidigungsminister Sergej Schoigu, ein wahrer Falke, als Ratgeber bevorzugt.

Höhepunkt der Putin’schen Groteske war dessen Kriegserklärung via TV-Ansprache am Donnerstag zu Beginn der Invasion. Der Angriff sei eine Verteidigungsmaßnahme, um den „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung der Ost-Ukraine zu verhindern. Die „Kriegsmaschinerie“ der NATO bewege sich in Richtung Russland.

Die „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine sei notwendig. Und dann kam jener Satz, der international als Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen interpretiert wird: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“

In Brüssel fragen sich nun immer mehr Diplomaten hinter vorgehaltener Hand: „Ist Putin verrückt geworden?“ Zumindest Hybris macht sich in Moskau breit. Am Freitag drohte eine Sprecherin des russischen Außenamts Finnland und Schweden im Falle eines NATO-Beitritts „mit militärischen und politischen“ Konsequenzen.

Verhaltensauffällig war Putin seit jeher. Bei einem Treffen mit Angela Merkel brachte er seinen Labrador-Hund „Koney“ mit, wohlwissend, dass sich die deutsche Kanzlerin vor Hunden fürchtete. Merkel hatte in all den Jahren eine gute Gesprächsbasis zu Putin. Mit dessen Kriegserklärung an die Ukraine steht nun auch die Russland-Politik der Ex-Kanzlerin auf dem Prüfstand.

War sie zu nachgiebig gegenüber Putin? Schon macht der toxische Begriff des „Appeasement“ die Runde. Damit ist die beschwichtigende Haltung gemeint, die Europas politische Führung, allen voran der britische Premier Neville Chamberlain, dem aufstrebenden und immer aggressiver werdenden Reichskanzler Adolf Hitler entgegenbrachte – bis es zu spät war.

Der Vorwurf ist nicht neu. Schon im Mai 2015 hielt der mittlerweile verstorbene US-Senator und republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain Merkel vor, „töricht“ zu sein. Ihr Verhalten erinnere ihn an die 1930er-Jahre. Anlass für die Kritik war Merkels Widerstand gegen Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte, um diese im Kampf gegen moskautreue Aufständische in der Ostukraine zu unterstützen. McCains Warnungen von damals klingen dramatisch aktuell. Putins Ziel sei es, eine Landverbindung von Russland zur Krim zu schaffen. Der russische Präsident würde erst „dann aufhören, wenn er einen deutlich höheren Preis zu zahlen hat“.

Merkels Kurzzeitnachfolgerin als CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kritisierte, der Westen habe „historisch versagt“, weil „nichts vorbereitet worden war“, das Putin „wirklich abgeschreckt hätte“. Kramp-Karrenbauer muss wissen, wovon sie spricht. Unter Merkel diente sie als Verteidigungsministerin.

Aber gerade die Bundeswehr ist derzeit keineswegs eine Armee, die Putin „wirklich abschrecken“ könnte. Angesichts der Ukraine-Krise stellte ein hochrangiger General, Heeresinspekteur Alfons Mais, die Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte in Zweifel: „Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ 

Wird Russland Besatzungsmacht in der Ukraine, stehen seine Truppen an der Grenze zu drei weiteren NATO-Staaten: Rumänien, Ungarn, Slowakei. NATO-Vertreter zeigten sich entschlossen. Das Bündnis werde sein Territorium verteidigen – und verlegte erstmals Einheiten seiner schnellen Einsatztruppe. 

 

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.