Brasilien: Beten für Bolsonaro
Am Rande des brasilianischen Regenwaldes schnürt Jackson Souza, Mittvierziger und Polizist außer Dienst, seine Militärstiefel und zieht sich eine Sturmhaube über. Es ist ein Freitagabend. Souza bringt sich vor einer Baracke in Stellung und wartet darauf, dass auf der Lehmstraße die ersten Gestalten erscheinen. Sie gehen an den Fackeln vorbei, die er und seine Kameraden zuvor aufgestellt haben, kommen näher, zaghaft, wie zusammengetriebene Schafe. Wer hier rein will, muss an Souza vorbei.
Doch das ist nicht so einfach. Nur wenigen ist es gelungen, in die Welt einzutauchen, die Souza vor Fremden abschotten will: die Welt der Evangelikalen, einer Gruppe zutiefst gläubiger und radikaler Christen, die in Bolsonaro ihren Messias sehen.
Ich will vorbereitet sein, das Volk Gottes zu verteidigen
Theoretisch kann sich ihnen jeder anschließen, immerhin will die Gruppe expandieren. Nur der Presse misstraut man. Dem brasilianischen Fotografen Ian Cheibub ist es gelungen, Zugang in die Szene zu bekommen. Für das Projekt "Golgota" hat er Evangelikale über Jahre begleitet. Als er mich in diesem Sommer in eines der Camps mitnehmen wollte, wurde uns der Zugang verwehrt. Diese Reportage basiert auf Szenen, die Cheibub bereits im Jahr 2021 dokumentiert hat. Sie geben Antworten auf eine Frage, die bis heute aktuell ist: Was macht Brasiliens rechtsradikalen Präsident Bolsonaro bei fundamentalistischen Christen so beliebt? Und was hat all das mit dem Regenwald zu tun?
Die Antwort liegt hinter der Baracke, vor der Souza Wache steht. Hier beginnt die Welt des "Comando Golgota",einer militarisierten Gruppe aus der Stadt Imperatriz im nordbrasilianischen Bundesstaat Maranhão. Zwei Stunden von Imperatriz entfernt haben Jackson und seine Kameraden ein Trainingscamp mit Baracken aus Holz und Schlafzelten eingerichtet. Sie tragen Uniformen, als wären sie tatsächlich Soldaten und keine Bauern oder Polizisten wie Jackson Souza, der im richtigen Leben anders heißt. Niemand soll wissen, dass er hier am Wochenende Militärübungen abhält. Was bisweilen wie ein Theater wirkt, ist Training für den Ernstfall: "Falls unser Land in einen biblischen Krieg geht, will ich vorbeireitet sein, das Volk Gottes zu verteidigen", sagt Souza.
Dieser Krieg hat längst begonnen. Am kommenden Sonntag, dem 30. Oktober, findet er mit dem Showdown der Präsidentenwahl (siehe Kasten) einen weiteren Höhepunkt. Die Frontlinien der Schlacht sind klar: Bolsonaro leugnet den menschengemachten Klimawandel, Lula kämpft dagegen an. Bolsonaro will den Regenwald weiter abholzen, Lula ihn besser schützen. Unter Bolsonaro verschwand mit 31.000 Quadratkilometern Regenwald eine Fläche von der Größe Belgiens, während die Abholzung unter seinem Vorgänger Lula um 83 Prozent zurückgegangen war.
Was Umweltschützer als Katastrophe sehen, ist für die Kämpfer des Comando Golgota Teil einer evangelikalen Vision-die Zivilisierung Amazoniens. Als radikale Freikirchler zählen sie zur wichtigsten Wählergruppe Brasiliens. Jedes Jahr werden in Brasilien 14.000 neue evangelikale Kirchen gegründet. Spätestens 2032 könnte Brasilien das größte evangelikale Land der Welt sein, mit Millionen von Anhängern, die die Bibel wörtlich nehmen und die letzten indigenen Stämme bekehren wollen. In Jair Bolsonaro sehen sie eine Art irdischen Vertreter von Jesus Christus.
In Rollenspielen, Gebeten und langen Märschen bereiten sich die Mitglieder auf den Ernstfall vor: ein Brasilien ohne Bolsonaro.
So wird diese Wahl nicht bloß über die Zukunft Brasiliens entscheiden, sondern auch über den größten CO2-Speicher der Erde. Laut Brasiliens führendem Regenwald-Ökologen Carlos Nobre steht der größte Regenwald der Welt vor dem tipping point-jenem Punkt, an dem seine Verwandlung in eine Savanne unaufhaltbar und unumkehrbar wird. Laut Schätzungen sind bereits 20 Prozent des Amazonasbeckens zerstört. Eine weitere Amtszeit Bolsonaros würde den Regenwald wohl an den von den Forschern prognostizierten Kipppunkt bringen.
Souza lebt in Imperatriz, einer Stadt, die rund zwei Stunden vom Camp entfernt liegt. Er ist verheiratet, arbeitet dort als Polizist. "Wieso bist du hier?", ruft er dem ersten Mann zu, der bei seinem Kontrollposten vor der Baracke Einlass ins Camp verlangt. Es ist der Auftakt eines Rollenspiels an diesem Freitagabend, eine Art Training in psychologischer Kriegsführung. Die Teilnehmer tragen Gebetsketten um den Hals und auf der Brusttasche ein Band mit dem Davidstern, der in Brasilien als Symbol der Evangelikalen gilt. Nun wird die für sie schlimmste aller Möglichkeiten gespielt: ein Brasilien unter Lula da Silva, in dem die Evangelikale Kirche verboten ist und dieses Camp als geheimer Zufluchtsort gilt. Seit einigen Jahren verbreitet die brasilianische Rechte diese Erzählung: Die Linke möchte die Kirche verbieten.
"Bist du etwa Christ?", will Souza wissen. "Hier gibt es keine Christen, und so lange ich hier stehe, wird es auch keine geben! "Es ist eine Fangfrage, denn Souza gibt vor, ein Feind des Evangeliums und Anhänger Lulas zu sein. "Ich bin ein Schüler von Jesus Christus", sagt er stotternd, worauf Souza ihn in die Baracke zieht, auf den Lehmboden setzt und flüstert: "Warte hier, gleich geht es weiter."
In den vergangenen Jahren hat sich die evangelikale Bewegung Brasiliens radikalisiert. Es gibt Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Gruppen wie das Comando Golgota, die mehrmals im Monat Trainings-Camps durchführen. "Zur Unterhaltung",sagt der Leiter Sebastião, ein evangelikaler Pastor mit schwarzem Hut und langer Robe, der die Teilnehmer nach dem Test um ein großes Feuer in der Campmitte auf die Anstrengungen in den nächsten 48 Stunden einstimmt: Nachtwanderungen und Überlebenstrainings, Rollenspiele und Drillübungen. So wollen sie sich gegen Kommunisten, Sozialisten und Umweltschützer wappnen, alles Feinde des Evangeliums, die sich Bolsonaros "Zivilisierung" des Regenwaldes in den Weg stellen.
Bolsonaro, 67, ein ehemaliger Fallschirmjäger-Offizier, wurde vor vier Jahren von einer Koalition ins Amt gewählt, die in Brasilien als Bíblia, Boi e Bala bekannt ist-Bibel, Rinder, Munition. Auf diesen drei Worten gründet die Ideologie, mit denen Bolsonaro eine regelrechte Frontierstimmung im Amazonas-Regenwald ausgerufen hat: Die Bibel steht für die bancada evangélica, die gottestreuen Evangelikalen, die Rinder für die bancada ruralista, die Großgrundbesitzer, Rinderzüchter und Sojafarmer. Und die Munition steht für Militär und freien Waffenzugang.
Diese Ideologie hat Bolsonaro durch vier Gesetze unantastbar gemacht, die heute als "Paket der Zerstörung" bekannt sind: Sie erlauben Waldrodung, Goldschürfen und Bergbau in indigenen Gebieten, machen Umweltzonen wirkungslos und sprechen Indigenen de facto jegliche Landrechte ab. Zwei Drittel der Abgeordneten der Regionalparlamente stimmten für diese Gesetze.
Laut einer Studie des IPAM, einer Umwelt-NGO, sind die Abholzungen und Brandlegungen im brasilianischen Regenwald während Bolsonaros Amtszeit im Vergleich zu den vier Jahren zuvor um 56,6 Prozent gestiegen. Laut INPE, dem zuständigen Bundesinstitut, hat die Zerstörung des Dschungels von 2019 bis 2022 um 21,97 Prozent zugenommen. Die Zahl der Brände ist heute nahezu doppelt so hoch wie vor Bolsonaros Präsidentschaft.
Den Wandel sieht man zum Beispiel in Imperatriz, über 2000 Kilometer von Rio entfernt. Die Stadt hat eine Viertelmillion Einwohner, einer davon ist Jackson Souza. Vor 30 Jahren war seine Heimat noch von Regenwald umgeben, heute ist die Region komplett gerodet. Imperatriz gilt als regionales Zentrum für Rinderzucht, Sojaanbau und Evangelikalismus. In den Straßen wechseln sich die Geschäfte für Futtermittelanbau mit evangelikalen Kirchen ab. Wahrzeichen ist der Templo Central, eine "Megachurch" der Assembléia de Deus, der größten freikirchlichen Gemeinde der Welt.
Hier steigen Souza und die anderen Uniformierten am Freitagmittag in den Bus, um ins Camp des Comando Golgota zu fahren. Zwei Stunden durch das Grenzgebiet von Regenwald und Savanne in die Kleinstadt Grajaú. Sie singen aus einem Gesangsbuch, Souza kennt viele der Lieder auswendig. Vor ein paar Jahren hörte er in seiner Kirchengemeinde vom Comando Golgota und nahm an drei Camps teil. Das Training ist eine Mischung aus Glauben und Fitness. Geübt wird im Wasser und im Wald. Geschlafen wird nicht, denn es gilt, den Körper ans Limit zu bringen. Jeden Tag lief Souza zehn Kilometer mit schwerem Rucksack-diese Verbindung von Militär und Religion gefällt ihm. "Im Moment der größten Erschöpfung ist man Gott am nächsten", sagt er.
Souza sagt dieselben Sätze, die hier alle sagen-die Männer und Frauen, die im echten Leben entweder bei den Sicherheitskräften oder in der Landwirtschaft arbeiten. Viele Pastoren von Freikirchen sind selbst Landbesitzer. Sie sehen die Ausbeutung der Natur als ebenso legitimen Teil ihres Glaubens, wie die Kirchen ihre Messen mit Plakaten bewerben: Für mehr Geld, Beförderung im Job, die Kraft, eine eigene Firma zu gründen-Wohlstandsevangelium nennt sich die Doktrin, nach der Geld ein Zeichen von Gottes Gunst ist. Während die katholische Kirche oft von Befreiungstheorie und Soziallehre geprägt ist, predigen viele evangelische Kirchen den Kapitalismus: Wer reich ist, steht Gott näher. Wer stark im Glauben ist, häuft Geld an. Auf der Suche nach Reichtum steht Gott an der Seite der Suchenden. Bis "kein Zentimeter" wirtschaftlich ungenutzt bleibt.
"Evangelikale haben begonnen, sich gegen den Schutz der Umwelt zu wenden", sagt Renan William dos Santos, Soziologe an der Universität São Paulo: "Sie haben die Idee entwickelt, dass Umweltschutz das trojanische Pferd ist, mit dem Kommunisten und internationale Eliten Brasilien den Amazonas stehlen wollen."
Dabei steht die Natur in Brasilien vielerorts unter Schutz-theoretisch. Allein in Amazonien gibt es 116 Nationalparks, die Umweltgesetze im Land sind-zumindest auf dem Papier-vorbildlich. Rund 50 Kilometer vom Camp des Comando Golgota liegt das Schutzreservat "Extremo Norte".Hier leben Tausende sogenannter extrativistas, also Menschen, die nachhaltig wirtschaften, ohne die Natur zu zerstören. Sie arbeiten als Kokosnussknackerinnen und als Sammler von Pará-Nüssen oder Kautschuk. Im Wahlkampf hat Bolsonaro versprochen, solche Schutzflächen zu "prüfen",denn in seinen Augen sind sie bloß "unproduktives Land". Große Weideflächen können nur durch Rodungen gewonnen werden.
Als Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde, versammelten sich Hunderte evangelikale Bauern am Rand des Reservats. Sie marschierten voller Euphorie mit Kettensägen und von Traktoren begleitet über die Schotterstraßen und feierten den Beginn eines neuen Zeitalters.
Einer von ihnen ist Carlos Augusto, genannt Seu Baixinho, "der Kleine",wegen seiner geringen Körpergröße. "Vor 20 Jahren kam ich mit nichts außer ein paar Haaren auf meinem Kopf hierher", sagt er. "Heute habe ich 500 Rinder und eigenes Land. Mir geht es gut." Augusto war einer von Tausenden Bauern, die hierher ins Reservat kamen, weil sie vom Staat Anreize erhielten, zum Zwecke der "Modernisierung" des Landes. Früher war diese Region Regenwald. Heute ist sie Savanne.
Für Seu Baixinho wiederholt sich mit Bolsonaros "Zivilisierung des Regenwaldes" die Geschichte. Auch er glaubt an eine blühende Zukunft Amazoniens, als Treiber der brasilianischen Wirtschaft. "Wir ernähren das Land mit Fleisch, Bohnen, Reis",sagt er, "von Kokosnüssen kann keiner leben."
Vor 20 Jahren bekamen die Farmer Land zugeteilt, es gehört ihnen aber oft nicht. Wie viele Rinderfarmer und Sojabauern in ganz Amazonien befürchtet auch Seu Baixinho, dass eine Regierung unter Lula ihnen das Land wieder wegnehmen könnte, während Bolsonaro es mit allen Mitteln schützt.
Am frühen Samstagmorgen, dem zweiten Tag im Trainingscamp, knien rund ein Dutzend Teilnehmer in der Mitte des Lagers auf dem Boden, betend, einige weinen, darunter auch Souza. Vor ihnen predigt der Leiter des Camps, Sebastião. In einer Hand hält er die Bibel, mit der anderen fährt er über die Köpfe der Betenden, segnet sie. Es ist die Vorbereitung für den zentralen Teil des Wochenendes: die caminhada, der Weg. Eine zwölfstündige Wanderung im Regenwald mit schweren Rucksäcken, bei Temperaturen von bis zu 40 Grad.
Die Teilnehmer teilen sich in kleinere Gruppen auf. Sie tragen Camouflage, stehen Spalier und salutieren. Dann geht es los. Die Sonne steht hoch, es ist schwül. Die Leiter führen ihre Gläubigen durch den Regenwald, vorbei an Babaçu-Palmen, durch die Amazonia desmatada, das abgeholzte Amazonien mit seiner Flora, die hier so alltäglich ist, dass sie einen eigenen Namen hat.
Die Uniformierten, die sich durch die Hitze kämpfen, sehen jedoch kein bisschen Schaden an der Umwelt. Wenn es ein Problem gibt, dann sind es die Ungläubigen mit ihren linken Ideologien, unterhalten von "ausländischen Organisationen". So gibt es inzwischen Hunderte von Frontier-Dörfern im Regenwald, die immer tiefer in den Dschungel vordringen und missionieren. Wenn es sein muss, dann darf das Ziel auch mit Gewalt umgesetzt werden: Amazonien hat heute eine um 38 Prozent höhere Mordrate als der Durchschnitt Brasiliens. Zehn der 30 gewalttätigsten Städte des Landes liegen in Amazonien. Seit Bolsonaro an der Macht ist, wurden 5725 Landkonflikte registriert, es ist der höchste Wert seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985. In den allermeisten Fällen sind Rinderzüchter, Holzfäller oder Goldschürfer involviert. Sie dringen in geschützte Gebiete ein und holen sich, was Bolsonaro ihnen versprochen hat.
Kurz vor Sonnenuntergang kommen die Gruppen nach und nach wieder im Camp an-schmutzig und müde, durstig und hungrig. "Jesus ist gekommen!", ruft Pastor Sebastião, "im Körper aller, die seine Schmerzen heute spüren". Einige der Teilnehmer brechen zusammen, beginnen zu weinen und zu schreien: "Seht! Jesus ist gekommen!"Hier, am Rande des Amazonas, hat Bolsonaro längst gewonnen.
von Ian Cheibub und Fabian Federl
Die Recherche wurde unterstützt vom Pulitzer Center.