Brühwarm

Brexit: Eine Anleitung in zehn Schritten

Brexit: Eine Anleitung in zehn Schritten

Drucken

Schriftgröße

1. Zuallererst sollte man sagen, dass man Tee trinken möchte. Der englische Satz "Let's have a cup of tea!" ist geeignet, eine Teestunde einzuleiten.

Ähnlich ist es mit dem Brexit. Die entsprechende Formulierung im Artikel 50 des Vertrags von Lissabon umfasst 250 Wörter und klingt etwas weniger jovial, doch sie ist nicht minder eindeutig. In Absatz 2 heißt es, ein Mitgliedsstaat, der die Europäische Union verlassen möchte, soll den Europäischen Rat von seiner Absicht in Kenntnis setzen. Die britische Regierung will dies bis Ende März dieses Jahres tun, nachdem die Wähler bereits am 23. Juni des Vorjahres in einem Referendum für den Austritt votiert hatten.

2. Als Nächstes sollte man entscheiden, welchen Tee man gern hätte. Grünen? Schwarzen? Weißen? Oolong?

Aus der EU auszutreten, ist noch viel komplizierter. Sollen alle vertraglichen Brücken abgerissen werden? Will Großbritannien weiterhin am Binnenmarkt der EU teilnehmen - und dafür vielleicht bezahlen? Nicht einmal die konservative Regierung unter Premier Theresa May ist sich einig.

May selbst hätte gerne einen Brexit mit einer sehr nahen Anbindung an den Binnenmarkt , weil dies für die britische Wirtschaft viel günstiger wäre. Auch Schatzkanzler Philip Hammond plädiert für Vorsicht. Handelsminister Liam Fox und Außenminister Boris Johnson hingegen wollen einen raschen, harten Austritt.

Premier Mays bisher offenste Auskunft lautete, sie wolle entsprechend den Farben des Union Jack einen „roten, weißen und blauen“ Brexit. Was ähnlich vielsagend ist, wie einen roten, weißen und blauen Tee zu bestellen.

3. Wie genau soll der Tee zubereitet werden? Dankenswerterweise hat die British Standards Institution, die mit Royal Charter versehene Normierungsanstalt, wesentliche Punkte des Rezepts festgehalten: Die Kanne sollte aus Porzellan oder glasiertem Steingut sein. Pro 100 Milliliter Wasser zwei Gramm Tee, Abweichung nicht mehr als plus/minus zwei Prozent. Frisch gekochtes Wasser.

Für den Brexit hingegen wird das passende Rezept noch gesucht. Das Institute for Government, ein Thinktank, der die Effizienz der Regierung steigern möchte, kritisierte in einem Bericht Mitte Dezember, dass die Ministerien im Dunkeln tappen, worauf sie sich eigentlich vorbereiten sollen.

Sollen sie bilaterale Freihandelsabkommen vorbereiten oder nicht? Verlässt Großbritannien die EU ohne Folgevertrag oder werden wesentliche Bestände der EU-Verträge übernommen? Die jeweiligen Folgen dieser Optionen sind immens, sich auf alle zugleich vorzubereiten, ist hingegen schier unmöglich.

4. Eine der umstrittensten Zutaten: Milch. Und wenn ja, zuerst die Milch oder zuerst den Tee in die Tasse gießen?

Was dem einen die Milch, ist Theresa May der freie Personenverkehr - bloß nicht! Schließlich stimmte die Mehrheit der Briten unter anderem für einen EU-Austritt, um zu verhindern, dass mehr Bürger vom Kontinent ungehindert auf die Britischen Inseln übersiedeln. Brexit-Minister David Davis hingegen möchte den freien Personenverkehr nicht so radikal kappen, dass es der britischen Wirtschaft schaden könnte. Also doch ein bisschen Milch? Derzeit leben rund 2,9 Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich.

5. Ach ja, der Zucker! 41 Prozent der Schotten genießen ihren Nachmittagstee mit Zucker, im Vergleich zu 26 Prozent im englischen Yorkshire.

Die Schotten lieben nicht nur Zucker mehr als die Briten, sie stehen auch unvergleichlich mehr auf die EU. "Ich bin Nationalistin", sagt die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon gerne und oft: "Und ich bin sehr proeuropäisch." Sollte ein sanfter Brexit nicht gelingen, dann droht die Schottin mit einem neuerlichen Unabhängigkeitsreferendum, damit Schottland als eigenständige Nation in der EU bleiben kann - 2014 endete eine Volksabstimmung mit einem "Nein". Der EU wäre dies nicht unrecht: Sie hätte dann mit Schottland und ohne Großbritannien wie bisher 28 Mitglieder.

6. Tee kann sehr, sehr dunkel sein, und in Irland trinkt man Tee so dunkel wie Kaffee. Diese Eigenheit geht zurück auf den Zweiten Weltkrieg, als Irland wegen strenger Exportgesetze der Briten darauf angewiesen war, Tee direkt aus Anbauländern zu importieren. Dunkle Teesorten aus Ostafrika erwiesen sich als die beliebtesten.

Ziemlich düster sind aus irischer Perspektive auch die Aussichten für den Brexit. Sollten sich die harten Brexiteers durchsetzen, dann droht das heikle Karfreitagsabkommen zu scheitern, das den Konflikt zwischen Nordirland, Irland und Großbritannien 1998 erfolgreich beendet hat. Bis jetzt, denn das Abkommen basiert auf der Idee einer grenzfreien Zone, die durch die Mitgliedschaft aller Beteiligten in der EU garantiert war. Wenn die Briten nun austreten, könnte es zwischen Nordirland (das zum Vereinigten Königreich gehört) und Irland Grenzbalken geben.

7. Tee trinkt man nicht bloß gegen den Durst, sondern oft zur Entspannung. Kräutertee und andere beruhigende Teesorten wird vor allem eine Europäerin im kommenden Jahr ausschenken müssen: Angela Merkel.

An der deutschen Kanzlerin hängen die Hoffnungen vieler Proeuropäer in Deutschland, in Großbritannien und in ganz Europa und der weiten Welt. Sie soll beim Brexit eine vermittelnde Rolle spielen, das hofft auch Theresa May, die darauf setzt, dass zwei Pastorentöchter am Ende einen friedlichen Weg finden werden. Ganz absurd ist diese Hoffnung nicht. Im Krieg mit den Briten zu scheiden, ist nicht in Merkels Interesse. Dennoch wird sie gleichzeitig auf die Einhaltung der Grundprinzipien der EU bestehen, um zu verhindern, dass Franzosen und Niederländer Appetit auf Frexit beziehungsweise Nexit bekommen. Keine leichte Aufgabe. Eleanor Roosevelt sagte: "Eine Frau ist wie ein Teebeutel - du kannst erst beurteilen, wie stark sie ist, wenn du sie ins heiße Wasser wirfst." Merkels Qualität im heißen Wasser ist hinlänglich erprobt.

8. Abwarten und Tee trinken ist eine nützliche Maxime, wenn der Handlungsspielraum allzu klein geworden ist.

So ergeht es wohl den konservativen, linken, liberalen und schottischen Abgeordneten im britischen Unterhaus, die vor dem Referendum eine breite Mehrheit gebildet hatten, um für einen Verbleib in der EU zu kämpfen. Sie haben heute eine Art "Hinterbänkler"-Komitee gegründet, in dem sie grübeln, welches die sanfteste Art wäre, nach dem Brexit zu landen. Viele der Pro-Europäer haben seit dem Referendum in ihren Parteien die Macht an die Brexit-Eiferer verloren. Zudem repräsentieren nicht wenige zu allem Überfluss Wahlbezirke, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben. Gerade im roten Norden ist dies vielen Labour-Politikern passiert. Die Abgeordneten respektieren wohl oder übel das Votum des Volkes, damit die rechtspopulistische Pro-Brexit-Partei UKIP ("United Kingdom Independence Party") ihnen nicht beim nächsten Urnengang den Garaus macht.

9. Wie lange soll man den Tee ziehen lassen? Das British Standards Institute sagt: sechs Minuten. Und um das herauszufinden, wurden Experten der Vereinigung der Britischen Teeproduzenten, des Tee-Handels-Komitees und des Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Lebensmittel befragt.

Wie lange dauert es, bis der Brexit ausverhandelt ist? Die offizielle Antwort lautet: zwei Jahre ab Ausrufung des Artikel-50-Prozederes. Die inoffizielle Antwort lautet hingegen: eher länger. Schatzkanzler Philip Hammond hat bereits öffentlich seine übereifrigen Ministerkollegen gewarnt, allzu große Eile würde die "finanzielle Stabilität" des Landes gefährden . Hammond plädiert für ein Übergangsabkommen und mehr Zeit für Verhandlungen.

10. Und wann ist der Tee trinkfertig? Die Temperatur sollte nicht mehr als 85 Grad Celsius, aber nicht weniger als 60 Grad Celsius betragen, um optimalen Geschmack und Empfindung zu gewährleisten.

Der Brexit-Vertrag jedoch bedarf noch der Zustimmung des Europäischen Parlaments und -möglicherweise -auch der des Parlaments in Westminster. Letzteres wird noch heftig debattiert werden.

Sollte die Zustimmung nicht erteilt werden, nachdem das britische Volk erst nach einem Brexit verlangt und Regierung und EU einen solchen ausverhandelt haben, dann empfiehlt sich die rasche Zubereitung eines sogenannten "Hot Toddy", eines Tees mit Whisky handgepflückte Teeblätter und feiner Single-Malt Scotch -, wobei in diesem speziellen Fall der Tee auch weggelassen werden kann.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz