Kann dieser Mann Europa retten?
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Von Siobhán Geets
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Friedrich Merz war in seinem Leben schon vieles: Mitglied der Jungen Union, Jus-Student und Rechtsanwalt, Aufsichtsratsvorsitzender in etlichen Unternehmen, Abgeordneter im EU-Parlament und später im Bundestag, Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Regiert hat er noch nie, weder in Berlin noch in seiner Heimat, dem Sauerland in Nordrhein-Westfalen.
Und bald ist Friedrich Merz einer der mächtigsten Männer Europas.
Am vergangenen Sonntag hat der 69-jährige CDU-Chef die Bundestagswahlen gewonnen, jetzt soll er deutscher Bundeskanzler werden. Er wird das größte Land der EU führen, die weltweit drittgrößte Volkswirtschaft lenken.
Einfach wird das nicht, denn Merz steht unter Druck, von innen wie von außen, von rechts und links. Innenpolitisch treibt ihn die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD vor sich her, und das Problem wird jetzt, wo die Partei mit 20,8 Prozent auf dem zweiten Platz gelandet ist, kaum verschwinden.
Außenpolitisch lauert im Osten Russlands Präsident Wladimir Putin, im Westen dessen Amtskollege Donald Trump. In neuer Harmonie vereint, werden die beiden zu einer ungeheuren Herausforderung für Europa.
Ist Friedrich Merz der Mann, der Deutschland einen und Europa zu neuer Stärke verhelfen kann?
Parteichef beim dritten Versuch
Unter der letzten Regierung hat sich die AfD verdoppelt, Merz wird in den kommenden Jahren dafür sorgen müssen, dass sie wieder schrumpft. Und er wird jenen, die noch an die liberale Demokratie glauben, ein Angebot machen müssen, auch wenn sie ihn nicht gewählt haben.
Ausgerechnet Merz.
Der Mann kennt sich aus mit Niederlagen. Seit mehr als 20 Jahren will er Bundeskanzler werden, immer wieder scheiterte er an Parteikollegen. Im Jahr 2002 verlor Merz den Machtkampf gegen Angela Merkel. Die damalige CDU-Parteichefin löste ihn als Fraktionsvorsitzende ab, Merz wurde zum Stellvertreter degradiert.
Beste Feinde
Fraktionsvorsitzender Merz mit seiner jahrelangen Rivalin, der damaligen CDU-Chefin Angela Merkel, auf dem Parteitag im Jahr 2001.
Für den Konservativen dürfte die Niederlage gegen eine kinderlose Frau aus dem Osten Deutschlands besonders hart gewesen sein. Merz zieht sich in die Privatwirtschaft zurück, wird Partner bei einer auf Wirtschaftsrecht spezialisierten US-Kanzlei und übernimmt Posten in etlichen Aufsichtsräten, unter anderem beim weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock.
Als das Ende der politischen Karriere Merkels absehbar ist, wittert Merz seine Chance. Im Jahr 2018 kehrt er auf die politische Bühne zurück, versucht, CDU-Parteichef zu werden – und scheitert. Das erste Mal 2018 gegen Merkels Vertraute Annegret Kramp-Karrenbauer, 2021 gegen Armin Laschet.
Doch Merz ist geduldig. Im Jahr 2022 klappt es schließlich beim dritten Versuch, seither ist Merz Parteichef. Als solcher versuchte er, das konservative Profil der CDU zu schärfen. Das ist die freundliche Auslegung. Die kritische Interpretation lautet, dass er seine Partei nach rechts geführt hat. Merz will die Abkehr von der Merkel-Ära, verspricht, alles anders zu machen, vor allem in der Migrationspolitik.
Dafür ist er auch bereit, Tabus zu brechen.
Weidels Werk und Merz’ Beitrag
Die Zäsur erfolgt nach dem Messerangriff von Aschaffenburg Ende Jänner. Ein 28-jähriger Afghane hat in einem Park auf eine Gruppe Kleinkinder eingestochen und einen Zweijährigen sowie einen Passanten getötet, der versuchte, ihn zu stoppen.
Ab da gibt es im Wahlkampf nur noch ein Thema: Migration.
Keine 24 Stunden nach dem brutalen Angriff kündigt Merz größtmögliche Härte beim Thema Einwanderung an, darunter die Zurückweisung aller Asylsuchenden und die Inhaftierung ausreisepflichtiger Flüchtlinge – und das bereits ab dem ersten Tag seiner Amtszeit. Eine Mehrheit im Bundestag findet Merz für diese Forderungen mit den Stimmen der AfD. Deren Abgeordnete jubeln, Parteichefin Alice Weidel spricht von einem „Sieg für die Demokratie“.
Erstmals kommt in der Bundesrepublik damit eine Mehrheit dank der extremen Rechten zustande. Es ist ein Tabubruch.
Die CDU ist zwar auf Linie, selbst Merz’ ehemals schärfsten Kritiker schweigen. Doch von allen anderen Seiten hagelt es Kritik. Merz will seine Pläne unbedingt durchsetzen, Kompromisse werde es da nicht geben, sagt der CDU-Chef. Sonst werde man eben nicht mitregieren, heißt es aus der Partei.
Schreitet Merz in seinem harten Migrationskurs voran, wird ihm das bei Jungen weiter schaden.
Anna-Sophie Heinze
Politikwissenschaftlerin
Nach den Wahlen klingt das alles anders. Natürlich könne man nicht alle Grenzen schließen, nicht alle ausreisepflichtigen Einwanderer einsperren, räumte Merz zuletzt ein. Doch genau das stand in dem Antrag, den Merz für so wichtig hielt, dass er ihn mithilfe der AfD durch den Bundestag brachte.
Wozu also das Ganze?
Ein härterer Kurs sei nötig, um der AfD in der Migrationspolitik das Wasser abzugraben, so oder so ähnlich lautet die Argumentation der deutschen Konservativen. Um die AfD zu schwächen, nahm Merz also ihre Unterstützung in Kauf? Es ist ein Widerspruch, der Merz wohl noch lange verfolgen wird.
Messbar geholfen hat der Rechtsruck den Konservativen aber offenbar nicht. An den Umfragen änderte sich wenig, und am Ende verfehlte die Union ihr erklärtes Ziel von 30 Prozent um 1,5 Prozentpunkte. Laut Wählerstromanalysen verlor die CDU fast eine Million Menschen an die AfD. „Das war ein Nullsummenspiel, reines Wahlkampfkalkül“, sagt die Politologin Anna-Sophie Heinze von der Universität Trier. Die Aktion habe der Linken geholfen, ihrerseits zu mobilisieren. Das sei gelungen, vor allem unter jungen Leuten.
Gäbe es die älteren Wählergruppen nicht, dann wäre die demokratische Mitte in Deutschland beinahe ganz verschwunden. Hätten ausschließlich 18- bis 24-Jährige gewählt, dann läge die Linke mit 25 Prozent auf dem ersten Platz, gefolgt von der AfD mit 21 Prozent. In den nächsten Altersgruppen, den 25- bis 44-Jährigen, hat die AfD sogar am besten abgeschnitten.
Die Union hat nur gewonnen, weil Menschen ab 45 sie zu mehr als 30 Prozent gewählt haben. Richtig stark ist die CDU nur bei über 70-Jährigen (43 Prozent).
An der Universität Trier forscht Heinze auch zum Wahlverhalten junger Menschen. „Diese erreicht die CDU kaum“, sagt die Politikwissenschafterin. „Schreitet Merz in seinem harten Migrationskurs voran, wird ihm das bei Jungen weiter schaden.“
Soziale Gerechtigkeit, Bildung, Wohnraum, Mobilität und psychische Gesundheit, das seien die Themen, die junge Menschen in Deutschland bewegten. Mit den Plänen von Friedrich Merz passt das nicht zusammen. Der CDU-Chef will das Bürgergeld abschaffen, er will ein wiedererstarktes Deutschland, „in dem sich Fleiß wieder lohnt“, ist gegen eine Legalisierung von Cannabis und für Einsparungen im Sozialstaat. Die Verhandlungen mit der SPD dürften schwierig werden.
Eine Zweierkoalition unter Beteiligung der SPD geht sich nur aus, weil das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die liberale FDP den Einzug in den Bundestag verpasst haben. Doch auch zu zweit dürfte es schwierig werden.
Friedrich Merz hat einen aggressiven Wahlkampf geführt, er schoss gegen „Grüne und linke Spinner“ und versprach, wieder Politik für die Mehrheit der Menschen zu machen, für jene, die „noch alle Tassen im Schrank“ haben.
Im Bundestag wird es ungemütlich
Merz gilt schon lange als einer, der seine Impulse nicht immer unter Kontrolle hat, der alles persönlich nimmt, reizbar ist und herablassend. Kinder mit Migrationshintergrund nannte er „kleine Paschas“, Einwanderern warf er vor, Deutschen Arzttermine wegzunehmen, ukrainischen Flüchtlingen unterstellte er „Sozialtourismus“ (und entschuldigte sich später dafür).
Dabei soll Merz viel Wert auf gutes Benehmen legen.
Merz mit Ehefrau Charlotte
Seit 40 Jahren verheiratet, drei Kinder, sieben Enkel: konservativer Archetypus.
Seine Biografie liest sich wie die Beschreibung des konservativen Archetypus: Eintritt in die CDU mit 17, Jus-Studium, katholisch, drei Kinder, sieben Enkel, seit 40 Jahren verheiratet. Im Arbeitsalltag pocht Merz auf Tugenden wie Pünktlichkeit, lässt sich selbst von engen Mitarbeitern siezen.
Und er gilt als nicht gerade volksnah.
Viel Spott brachte dem Millionär die Eigenbeschreibung als Mitglied der „gehobenen Mittelschicht“ ein. Der Hobbypilot fliegt gerne mit seinem Privatflugzeug – die Erfüllung eines „Jugendtraums“, wie er sagt.
Sieht so der Mann aus, der das Land vor der AfD bewahren kann?
Je stärker die AfD, desto mühsamer wird es, Mehrheiten zu finden.
Anna-Sophie Heinze
Politikwissenschaftlerin
Deutschlands rechter Rand hat zuletzt historische Erfolge eingefahren. Bei den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern erreichte die AfD jeweils rund 30 Prozent der Stimmen. Weil die anderen Parteien eine Koalition mit der AfD ablehnen, gestaltete sich die Regierungsbildung in Thüringen, Sachsen und Brandenburg schwierig.
„Je stärker die AfD, desto mühsamer wird es, Mehrheiten zu finden“, sagt Politologin Heinze. Das gilt ab sofort auch für den Bundestag, für den Parteichefin Alice Weidel eine „Jagd auf die CDU“ angekündigt hat.
Rechts zu wählen, ist kein Naturzustand. Es gibt immer ein Zurück.
Katja Salomo
Sozialwissenschaftlerin
Im Bundestag werden bald auch NS-Verharmloser sitzen. Der künftige AfD-Abgeordnete Matthias Helferich bezeichnete sich selbst als „das freundliche Gesicht des NS“. Und der bisherige EU-Mandatar Maximilian Krah hatte sich in einem Interview dermaßen verharmlosend über die SS geäußert, dass es sogar dem extrem rechten Rassemblement National zu viel wurde – und Marine Le Pen die Zusammenarbeit mit der AfD im EU-Parlament aufkündigte.
Zu rechts für Le Pen
Der bisherige EU-Abgeordnete Maximilian Krah ist sogar dem extrem rechten Rassemblement National zu radikal.
„Im Bundestag wird es noch ungemütlicher“, sagt Heinze. Gemeinsam mit der Linken kann die AfD Entscheidungen blockieren, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, darunter eine Reform der Schuldenbremse und höhere Verteidigungsausgaben. Die gestärkte AfD-Fraktion werde immer etwas finden, was sie kritisieren kann – unabhängig vom Kurs der Regierung, so Heinze. „In der Migrationspolitik werden sie ihre Forderungen immer weiter hochschrauben.“ Der AfD kann es nicht rechts genug sein.
Im neuen Bundestag hat die AfD-Fraktion künftig sehr viel mehr Macht, mit 152 Abgeordneten (134 Männer, 18 Frauen) verfügt sie über mehr personelle Ressourcen, mehr Redezeit, mehr staatliche Förderungen und deutlich mehr Mitarbeiter. Auch in ihrer strategischen Ausrichtung werde die AfD stärker werden, sagt Heinze. „Die Tendenzen, die wir jetzt schon sehen, darunter professionelle Social-Media-Kampagnen, werden noch sichtbarer werden.“
Die „letzte Patrone der Demokratie"
Die Strategie der AfD ist langfristig ausgelegt, die Parteispitze rechnet damit, weiter zu wachsen. Ziel ist eine Regierungsbeteiligung nach den nächsten Wahlen, also spätestens 2029.
Die Angst vor der AfD wird Merz und seine CDU weiter begleiten.
Schon jetzt ist die Panik groß, aus der Partei kommen dramatische Appelle. Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl sei ein „letztes Warnzeichen“ an die „Parteien der Mitte“, sagte Merz am Montag in Berlin. CSU-Chef Markus Söder spricht gar von der „letzten Patrone der Demokratie“.
Jubel bei AfD
Parteichefin Weidel konnte die Stimmen für die AfD verdoppeln.
Ist der Aufstieg der AfD unaufhaltbar, können aus 20 Prozent bald 25 werden, 30 oder sogar 40?
„Rechts zu wählen, ist kein Naturzustand“, sagt Katja Salomo vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, „es gibt immer ein Zurück.“ Die Soziologin befasst sich mit der Frage, warum Menschen die AfD wählen: Angst vor Migration und Überfremdung, aber auch der Eindruck, dass andere in Deutschland viel besser leben als man selbst. Salomo begreift das Wahlverhalten als eine Reaktion auf Missstände, die nicht oder zu wenig angegangen wurden: „In Ostdeutschland, wo besonders viele Menschen die AfD gewählt haben, leben 55 Prozent der Bevölkerung am Land, da gibt es viel Abwanderung und einen Mangel an Grundversorgung und Verkehrsinfrastruktur, aber auch an Cafés und Bars, an Schwimmbädern und Jugendtreffs.“ Die Polemik der AfD funktioniere im Osten besonders gut, und die Partei mache den Menschen auch konkrete Angebote: Sie lädt zu Sport- und Kinderfesten, betreibt Jugendtreffs und gründet Heimatvereine. „Die Menschen nehmen diese parallele Infrastruktur dankend an, und es ist sehr schwierig, sie zurückzugewinnen.“
Stark im Osten
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke mit Anhängern im ostdeutschen Gera: Im strukturschwachen Osten funktioniert die Polemik der AfD besonders gut.
Nur noch über Migration zu sprechen, wie das im Wahlkampf der Fall war, spiele der AfD weiter in die Hände.
Dabei gibt es genügend andere Herausforderungen.
Wirtschaftsrezession, Energiewende, Bundeswehr – die Liste der Probleme auf der Baustelle Deutschland ist lang, und mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump steht auch die Sicherheit Europas auf dem Spiel.
Europas starker Mann?
In Europa hängt viel von Deutschland ab. Was in Berlin geschieht, das strahlt aus.
Mit dem Wegfall der USA als verlässlicher Partner steht Europa allein da, und Deutschland kommt eine noch wichtigere Rolle zu. Bisher hat Berlin ganz auf die transatlantischen Beziehungen gesetzt – und den Appellen Frankreichs, die europäische Sicherheitspolitik zu stärken, immer wieder Absagen erteilt. Das könnte sich nun ändern.
Nach der ersten Hochrechnung am vergangenen Sonntag kritisierte Merz die Regierung in Washington scharf. Die Wahlkampfeinmischung durch US-Vizepräsident JD Vance und Tech-Milliardär Elon Musk, die sich für die AfD eingesetzt hatten, sei „letztlich nicht weniger dramatisch, drastisch und unverschämt“ als die Interventionen aus Moskau. Der Trump-Regierung sei das Schicksal Europas „weitgehend gleichgültig“, Europa müsse schrittweise verteidigungspolitisch unabhängig von den USA werden, so Merz unter Beifall aus Brüssel. Dort sind die Erwartungen an Deutschlands neuen Bundeskanzler hoch.
Der letzte deutsche Kanzler, der die europäische Integration wirklich vorantrieb, was Helmut Kohl (1982–1998). Das ist lange her.
Im Wahlkampf hat die Positionierung Europas in der Welt und Deutschlands in Europa keine Rolle gespielt, das lag auch an Merz. Die AfD machte Migration und Klimaschutz als größte Übel der Gesellschaft aus, dem hat Merz nicht widersprochen. Wird er jetzt, wo der Wahlkampf vorbei ist, die Weichen stellen, damit Europa sich in absehbarer Zeit ausreichend selbst verteidigen kann? Will Deutschlands Bundeskanzler gar eine Führungsrolle in Europa übernehmen?
Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird.
Friedrich Merz
Die eigene Wehrhaftigkeit würde Europa unglaublich viel Geld kosten, laut Schätzungen etwa 250 Milliarden Euro jährlich. Investieren müsste allen voran Deutschland – und das wird ohne eine Lockerung der Schuldenbremse kaum möglich sein. Eine solche hat Merz bisher ausgeschlossen, in Brüssel hofft man dennoch, dass er offen ist, auch für eine gemeinsame Verschuldung in der EU.
Nach Jahrzehnten in der zweiten Reihe ist Friedrich Merz ganz oben angekommen. Maximal 40 Tage sollen die Koalitionsverhandlungen mit der SPD dauern, so steht es in einem internen Fahrplan, der profil vorliegt. Bis Ostern soll die Regierung stehen, damit Merz Anfang Mai als Bundeskanzler vereidigt werden kann.
„Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird“, sagte er in einem ersten Statement nach den Wahlen am Sonntagabend – und meinte damit die Koalitionsverhandlungen. Einfach wird es aber auch für die künftige Regierung nicht.
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Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.