Bunt ist die Hoffnung: Afghanistans Normalität unter Taliban
Von Ali Latifi, Kabul
Am Freitagabend vor zwei Wochen verspürten Afghanen im In- und Ausland Gefühle, die in den letzten zwei Jahrzehnten immer seltener geworden sind: Freude, Stolz und sogar ein kurzes Aufflackern der Hoffnung.
Auslöser dieser Emotionen war die eine Sache, die dem afghanischen Volk immer wieder den Anschein von Glück und Zusammenhalt zu geben vermochte, einem Volk, das zwei Jahrzehnte lang unter ausländischer Besatzung und einer Taliban-geführten Regierung gelitten hat: Sport.
An diesem Freitag, dem 24. März, siegte die nationale Cricket-Mannschaft zum ersten Mal gegen Pakistan. Damit schaffte Afghanistan die Qualifikation für die Weltmeisterschaft – und das Volk jubelte.
Als die Taliban im August 2021 die Macht wieder an sich rissen, wurde die Mannschaft schnell zum Symbol einer Kultur und Geschichte, die Millionen von Afghanen zu verlieren fürchteten. Doch so weit ist es nicht gekommen: Die Spieler tragen weiterhin die schwarz-rot-grüne Trikolore der Vorgängerregierungen. Bei ihren Länderspielen stimmen sie stolz die Nationalhymne an.
Das mag für eine Nationalmannschaft nicht unüblich erscheinen. Doch die Afghanen klammern sich inmitten der Verbote so vieler Aspekte der afghanischen Identität durch die Taliban an jeden Anschein von Normalität. Für sie waren es tiefgreifende und kraftvolle Signale einer ansonsten unpolitischen Mannschaft. Einer Mannschaft, die sich weigerte, ihre nationale Identität loszulassen.
An diesem Ramadan-Abend, kurz nach dem Fastenbrechen, gelang der afghanischen Cricket-Mannschaft der entscheidende Schlag gegen einen langjährigen regionalen Rivalen. Das Nachbarland Pakistan wird seit Langem beschuldigt, die Taliban zu unterstützen – selbst als diese tödliche Selbstmordattentate verübten, Landminen legten und Kontrollpunkte im ganzen Land errichteten.
Die Bedeutung dieses Moments ist auch den Jugendlichen des Landes nicht entgangen.
Die Melodie Afghanistans
Der 19-jährige Arsala Popal verfolgte das Spiel daheim bei seiner Familie in Kabul. Im Haus herrschte große Vorfreude und Spannung, auch seine beiden Schwestern jubelten mit. Die eine geht in die sechste Klasse und wird demnächst wahrscheinlich ihr letztes Schuljahr beginnen; die andere kann wegen der Beschränkungen des islamischen Emirats für Frauen nicht wie geplant die Universität besuchen. Alle drei haben in den vergangenen eineinhalb Jahren miterlebt, wie ihre Eltern – ein Regierungsbeamter und eine Angestellte in einer Privatschule – mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den eingeschränkten Rechten zu kämpfen hatten, die mit der Rückkehr des Islamischen Emirats einhergingen.
Doch an diesem Abend konnten sie alle ihre Sorgen kurz beiseiteschieben und sich freuen, dass das Cricket-Team Geschichte schrieb.
In einer Welt, die immer enger zu werden scheint, weckte der Sieg plötzlich ein Gefühl der Hoffnung. „Nach diesem Spiel freuen wir uns auf einen Sieg bei der Weltmeisterschaft, denn wir wissen, dass jetzt die Zeit für Afghanistan gekommen ist“, sagt der junge Amateur-Cricketspieler.
Arsala Popal ist mit seinem Enthusiasmus nicht allein.
In den sozialen Medien feierten alle den Sieg ihrer Mannschaft, von ehemaligen Regierungsbeamten und Ex-Abgeordneten über Aktivisten und Medienschaffenden bis hin zu jungen Influencern. Für sie war der Moment wie eine kurze Verschnaufpause in einem Land, das mitten in einer humanitären Krise steckt.
Die Sängerin Aryana Sayeed, einer der größten Popstars des Landes, die fliehen musste, als die Taliban in Kabul einmarschierten, twitterte: „Lang lebe Afghanistan!“
Ein ehemaliger Regierungssprecher teilte einen Clip mit den Worten: „Die Melodie eines jeden Afghanen.“ In dem Video weht die dreifarbige Flagge, während die Nationalhymne, ein weiteres kulturelles Symbol, das die Taliban verboten haben, durch das Stadion hallt.
Jugend im Widerstand
Seit ihrer Rückkehr an die Macht haben die Taliban Frauen den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen verwehrt. Untersagt ist ihnen auch die Ausübung der meisten Jobs; sogar ein Spaziergang allein durch einen Park oder das Trainieren in einem Fitnessstudio ist Frauen verboten. Doch die Restriktionen treffen längst nicht nur Frauen. So ist Männern, die getrennt von Frauen feiern müssen, Musik bei Hochzeiten verboten; auch das traditionelle Shisha-Rauchen in Restaurants und verschiedene Unterhaltungsprogramme im Fernsehen sind untersagt.
Doch so sehr die Taliban auch versuchen, grundlegende Freiheiten zu beschneiden und das gesellschaftliche Leben einzuschränken – die afghanische Bevölkerung findet immer wieder Wege, sich kleine Freiräume zu nehmen.
An Nouruz, dem persischen Neujahrs- und Frühlingsfest, haben kleine Gruppen in Kabul die Traditionen des jahrhundertealten Brauchs hochleben lassen. In den Städten widersetzt sich die afghanische Jugend den Beschränkungen des Islamischen Emirats, um den Anschein eines normalen Lebens zu wahren.
Unter den Taliban ist es schon riskant, als Frau allein spazieren zu gehen oder sich als Mann in Jeans und T-Shirt zu zeigen. Doch viele, vor allem junge Leute, gehen dieses Risiko ein.
Auch die 19-jährige Marzia, die eigentlich anders heißt, will sich den restriktiven Vorstellungen der Taliban nicht beugen. Allein das Ausgehen ohne männliche Begleitung hat Marzia in Gefahr gebracht. Die Schergen des Regimes, allen voran des „Ministeriums für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters“, sind bekannt dafür, Leute auf der Straße anzuhalten und zu verhören, wenn diese den Verdacht erwecken, sich nicht im Sinne der strengen Auslegung des Islam zu verhalten.
Doch Marzia bleibt standhaft.
„Wir müssen sie wissen lassen, dass wir viele sind und dass die jungen Menschen in Afghanistan nicht tatenlos zusehen werden, wie sie uns einsperren“, sagt sie. Zusammen mit gleichaltrigen Freundinnen vertreibt Marzia sich die Zeit damit, sorgfältig inszenierte Fotos für ihre Instagram- und Snapchat-Stories zu machen.
Die Teenagerin sagt, dass sie das Selbstvertrauen, in einer goldbestickten Abaya (Überkleid) herumzulaufen, von all den anderen jungen Menschen hat, die ähnliche Risiken eingehen, um sich auszudrücken. Bunte oder großzügig verzierte Kleider verstoßen gegen die Bestimmungen des Emirats, wonach Frauen und Mädchen ihre Körper und Gesichter mit schwarzen oder blauen Stoffen bedecken müssen.
Marzia erinnert sich an den Moment Anfang 2022, als sie zum ersten Mal Frauen und Mädchen in farbenfrohen Kleidern sah: „Ich sah, dass andere Leute schon weiter gegangen waren, also beschloss ich, mich auch wieder normal zu kleiden.“
Das Emirat hat Marzias soziales Leben massiv eingeschränkt. Früher ging die junge Frau ins Fitnessstudio und hatte sogar einen Personal Trainer. Sie stand kurz vor dem Eintritt in die zwölfte Klasse, doch die Restriktionen des Emirats haben all dem ein Ende gesetzt.
Verbotene Spaziergänge
Die junge Frau und ihre Freunde gehören zu einer Generation, die die Grenzen der Hegemonie des Islamischen Emirats durch ihre bloße Existenz austestet. Sie sind zu jung, um die erste Herrschaft der Taliban (1996 bis 2001) erlebt zu haben. Sie haben Videos davon gesehen, wie Frauen auf der Straße verprügelt und Männer im Fußballstadion hingerichtet wurden. Doch sie versuchen immer noch, so zu leben wie vor jenem Tag im August 2021, als die Taliban in Kabul einmarschierten.
„Ich kann nicht zulassen, dass sie mich den ganzen Tag zu Hause einsperren. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, mit meinen Freundinnen rauszugehen“, sagt Marzia. Die jungen Leute in den Städten Afghanistans versuchen, so lange wie möglich ein normales Teenagerleben zu führen.
„Wir sind nicht naiv. Wir sehen, dass sie jeden Tag strenger werden. Doch genau deshalb sollen sie sehen, dass es unser Leben ist und dass es nichts Schlimmes ist, einfach die Straße entlangzulaufen oder in ein Geschäft zu gehen.“
Die Schwestern, Lina, 19, und Elaha, 21, sehen das ähnlich. Auch sie weigern sich, zu Hause zu bleiben. Jeden Tag gehen die beiden zu ihren Vorlesungen an einer privaten Universität in Kabul oder machen sich auf den Weg in eines der vielen Einkaufszentren der afghanischen Hauptstadt, um die Geschäfte nach bunten Kopftüchern, gefälschten Louis-Vuitton-Taschen und extravaganten High Heels zu durchstöbern.
„Wenn ich zu Hause sitze und mich abschotte, haben die Taliban gewonnen“, sagt Lina, während sie mit ihrer Schwester in Kabul spazieren geht. Dem Erlass des Islamischen Emirats zum Trotz, wonach alle Frauen schwarze Niqabs oder blaue Chadaris (Burkas) tragen müssen und nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen dürfen, kleiden sich die beiden weiterhin, wie sie wollen – und bewegen sich frei in der Stadt.
Bisher haben Marzia, Lina und Elaha Glück gehabt. Noch ist keine von ihnen auf feindliche Taliban gestoßen. Die drei betonen, dass sie bereit sind, dieses Risiko einzugehen, um ihre Ziele zu erreichen. „Sie spielen keine Rolle“, sagt Elaha über die Taliban, „sie können mich töten, wenn sie wollen, aber ich werde meine Hoffnungen und Träume nicht für sie aufgeben.“
Sollten sie ihre Träume von Bildung und Arbeit verfolgen können, sagen die Schwestern, wären sie auch bereit, einen Niqab oder Chadari zu tragen. Bis es so weit ist, sind sie stolz darauf, dass so viele junge Frauen bereit sind, große Risiken einzugehen, um auf ihre Rechte zu pochen.
„Wenigstens sind wir nicht wie unsere Brüder“, sagt eine von ihnen, während sie in der kalten Winterluft die Straßen Kabuls entlangspazieren, „die sitzen verängstigt zu Hause wie ein paar gelangweilte Hausfrauen.“
Ob Mann oder Frau, Bruder oder Schwester, bald werden sich alle zusammen vor dem Fernseher wiederfinden. Im Oktober soll die verbotene Nationalhymne Afghanistans wieder durch ein Stadion hallen, diesmal in Indien – bei den Weltmeisterschaften im Cricket.