Eine Religion auf Leben und Tod

Was den Islam gefährlich macht: Eine Religion auf Leben und Tod

Titelgeschichte. Was den Islam gefährlich macht

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Der aktuelle profil-Cover „Was den Islam gefährlich macht" löste in den sozialen Medien stellenweise heftige Reaktionen aus. Diese erfolgten zum Großteil jedoch in Unkenntnis des Inhalts der Titelgeschichte, weshalb wir die Texte online vollständig zugänglich machen.

Die Redaktion

Zuerst zwölf Tote: sieben Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin der Satirezeitung "Charlie Hebdo“, ein Redaktionsbesucher, eine Reinigungskraft sowie zwei Polizisten - gnadenlos hingerichtet von zwei vermummten Männern mit Sturmgewehren, mitten in Paris. Und dann weitere vier: Als Kunden eines koscheren Supermarkt beim Einkaufen erschossen.

Kann es bei den Verbrechen, die vergangene Woche Frankreich und ganz Europa erschütterten, etwas Erschreckenderes geben als die Schutzlosigkeit der Opfer, die Hilflosigkeit der Sicherheitsbehörden und die Kaltblütigkeit der Mörder?

Doch, es kann etwas noch Erschreckenderes geben, und zwar einen Befund, der sich daraus ableiten lässt. Er lautet, dass mit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo“ am vergangenen Mittwoch der islamistische Terrorismus endgültig mitten in Europa angekommen ist.

Attentate von Muslim-Extremisten gab es hier bereits, gemessen an der Opferzahl zum Teil sogar noch schlimmere. 2004 forderten Bombenanschläge auf Vororte-Züge in Madrid 191 Todesopfer. Ein Jahr später starben 56 Menschen bei der Explosion von Sprengsätzen in der Londoner U-Bahn. 2012 ermordete ein algerischstämmiger Fundamentalist in Südfrankreich drei Soldaten, drei jüdische Kinder und einen Rabbiner.

All das waren jedoch Angriffe im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen: Ihre Motive lagen etwa darin, Vergeltung für die Militärinterventionen in Afghanistan und im Irak zu üben und den Rückzug dort stationierter westlicher Truppen zu erzwingen.

Die mutmaßlichen Täter von Paris hatten jedoch andere Ziele. Der 34-jährige Said Kouachi und sein 32-jähriger Bruder Chérif, die das Blutbad angerichtet haben dürften, mordeten, um die respektlose Darstellung des Religionsgründers Mohammed durch Karikaturisten von "Charlie Hebdo“ zu bestrafen: "Wir haben den Propheten gerächt“, jubelten sie anschließend.

Auf Todesdrohungen gegen die "Charlie Hebdo“-Macher folgte deren Exekution. Karikaturen mit politischer Botschaft, mit anarchischem Witz und in spöttischem Stil: Was in Frankreich und jedem anderen zivilisieren Land vom Gesetz als gesellschaftliche Hygienemaßnahme geschützt wird, stellt für islamische Extremisten einen Verstoß gegen religiöses Recht dar.

Said und Chérif Kouachi, geboren und aufgewachsen im traditionell laizistischen Frankreich, wollten somit auf westlich-demokratischem Boden die kruden religiösen Normen eines Gottesstaats durchsetzen oder, genauer gesagt: die Verletzung dieser Normen sanktionieren.

Die beiden Männer haben einen Mordaufruf der "Al Kaida im Maghreb“ (AQIM) gegen die "Charlie Hebdo“-Mitarbeiter in die Tat umgesetzt. Die Dschihadisten erheben damit in einem europäischen Land einen gesellschaftlichen Dominanzanspruch, der alle Ängste vor dem Islam zu bestätigen scheint, die derzeit in Europa umgehen. Die Angst vor Anschlägen ist nur eine davon.

Praktisch zeitgleich mit dem Massaker in Paris wurde in Frankreich der neue Roman von Michel Houellebecq ausgeliefert: "Soumission“ ("Unterwerfung“), die gruselige Fiktion eines Frankreich, das von einem islamistischen Präsidenten regiert wird. Die Besorgnis, die der gefeierte Schriftsteller für ein intellektuelles Publikum formuliert, findet seit einiger Zeit im eher simplen, dumpf-ausländerfeindlichen Milieu bei Bewegungen wie Pegida in Deutschland ihre Entsprechung.

Die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ sorgen seit Wochen mit muslim- und ausländerfeindlichen Demonstrationen für Aufsehen - und wurden just am Tag des Attentats gegen "Charlie Hebdo“ erstmals offiziell zu politischen Gesprächen eingeladen: von der AfD ("Alternative für Deutschland“), die seit ihrer Gründung vor zwei Jahren daran arbeitet, den Rechtspopulismus auch in der Bundesrepublik salonfähig zu machen.

Das Attentat auf die Redaktion von "Charlie Hebdo“ hat ein Szenario wahr werden lassen, das wie ein bitterer Vorgeschmack auf die Realisierung der düsteren Prophezeiungen vom nahenden Ende der abendländischen Zivilisation erscheint: Muslimische Extremisten beschneiden auf brutale Weise die Meinungsfreiheit, indem sie missliebige Zeichner und Redakteure töten. Der französische Staat schafft es nicht, die bedrohten Personen zu schützen. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist ein Gut, das Islamisten als Frevel ansehen, weil es sich auch gegen ihre Religion richtet. Es ist Teil einer Lebensweise, die in den Augen fundamentalistischer Muslime bekämpft werden muss.

Einzelne Terroranschläge können die Bevölkerung vielleicht einschüchtern, aber eine freie Gesellschaft und ihre Werte nicht dauerhaft vernichten. Die Auslöschung der abendländischen Kultur soll nach den Befürchtungen von Pegida, Houellebecq und Co. auf viel massivere Weise erfolgen: durch einen kontinuierlichen Anstieg des muslimischen Bevölkerungsanteils, aggressives Eintreten für islamische Interessen, Aufbau einer politischen Organisation und demgegenüber eine schwache, defensive Mehrheitsbevölkerung, die nach und nach ihre Positionen aufgibt und sich den neuen Herrschaftsverhältnissen fügt - der Romantitel "Unterwerfung“ ist Programm.

Dass es extremistische Kräfte innerhalb des Islam gibt, die eine solche Machtübernahme in Europa herbeisehnen, weiß man nicht erst seit den Drohungen des "Islamischen Staates“, Rom erobern zu wollen.

Aber wie realistisch ist eine schleichende Islamisierung, wie sie in den Pamphleten der Pegida und dem Plot von Houellebecq skizziert werden? Und wie passen schockierende Terroranschläge zu diesem angeblichen Plan?

Stecken wir bereits mitten in einem Krieg um die ideologische Ausrichtung Europas? Ein Krieg, in dem die Umbenennung eines Weihnachtsmarktes in "Wintermarkt“ eine verlorene Schlacht markiert und ein Minarettverbot einen erfolgreichen Gegenangriff?

Und wenn das nicht der Fall ist, warum fühlen sich viele Bürger vom Islam bedroht?

Liegt es an einer fremdenfeindlichen Hysterie oder doch an dem Bild, das der Islam derzeit abgibt?

Pegida und die Angst vor der Umvolkung
Am Mittwoch Vormittag, zeitgleich mit dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo“, stellt die deutsche Initiative Pegida einen Aufruf zu einem ihrer "Spaziergänge“ am 12. Januar in Hannover auf ihre Facebook-Site. Bei diesen Demonstrationen, an denen regelmäßig mehr als 10.000 Personen - neben gewöhnlichen Bürgern auch Hooligans und Politiker der rechtsextremen NPD - teilnehmen, wird die Behauptung erhoben, Europa werde islamisiert und hierzulande fänden "Glaubenskriege“ statt. Pegida fordert deshalb einen Zuwanderungsstopp von Wirtschaftsflüchtlingen und den Schutz der "christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“.

Konkrete Belege für eine Islamisierung des Abendlandes fallen allerdings recht dürftig aus: etwa extra Öffnungszeiten in Schwimmbädern für streng gläubige Musliminnen, damit diese ohne Ganzkörperbadeanzug schwimmen können; getrennter Unterricht für Buben und Mädchen in manchen Schulen; das sehr vereinzelte Ersetzen von christlichen Begriffen ("Weihnachtsmarkt“) durch neutrale Wörter ("Wintermarkt“).

Die Pegida-Aktivisten interpretieren den Pariser Anschlag als Bestätigung für ihre Thesen. "Die Islamisten, vor denen Pegida seit nunmehr zwölf Wochen warnt, haben heute in Frankreich gezeigt, dass sie eben nicht demokratiefähig sind, sondern auf Gewalt und Tod als Lösung setzen!“, hieß es wenige Stunden nach dem Attentat auf der Facebook-Site der Bewegung.

Aber das Pegida-Szenario einer Islamisierung Europas durch Zuwanderermassen hat bei genauer Betrachtung wenig mit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo“ zu tun. Die besorgten Abendland-Bürger befürchten wachsenden kulturellen und politischen Druck auf heimische Institutionen, islamische Lebensweisen zur Norm zu machen. Terror ist hingegen eine andere Gefahr.

Die Pegida-Initiative gilt nicht zu Unrecht als ausländerfeindliche Aktion altbekannten Typs. Sie argumentiert ähnlich wie Marine Le Pen, Vorsitzende der rechtsradikalen französischen Partei Front National. Auch die französischen Rechten empfinden es bereits als Bedrohung, wenn eine Fast-Food-Kette Burger anbietet, die gemäß islamischen Speisevorschriften zubereitet sind.

Houellebecq und die Angst vor der Machtergreifung durch den Islam
Die Angst, Muslime seien drauf und dran, in Europa die Macht zu übernehmen, ist inzwischen auch bei der intellektuellen Elite des Kontinents angekommen. In Michel Houellebecqs neuem Roman "Unterwerfung“ kommt es in einer Art zeitnaher politischer Utopie zu einem aufwühlenden Ereignis: Im Jahr 2022 treten bei der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen und ein charismatischer, islamistischer Kandidat gegeneinander an. Der Muslim siegt dank der Unterstützung der Mainstream-Parteien, die eine rechtsradikale Präsidentin verhindern wollen. Die Veränderungen im Land sind tief greifend: Frauen scheiden aus dem Arbeitsprozess aus und verschleiern sich, Polygamie wird legalisiert, an den Universitäten wird der Koran gelehrt. Die Bevölkerung fügt sich.

Houellebecqs Plot ist ohne Reiz: Er greift die Angst vor der Islamisierung auf und übersteigert sie. Das ist eine legitime literarische Form, ausgeführt von einem der besten Schriftsteller unserer Zeit. Doch Houellebecq ist nicht nur Schriftsteller, und sein Roman wird nicht ausschließlich als Fiktion rezipiert. So beharrt der als Provokateur geltende Autor darauf, "Unterwerfung“ sei gar keine Provokation, sondern lediglich eine beschleunigte Version der Geschichte, die er für wahrscheinlich halte. Die europäische Aufklärung sei am Ende, die Rückkehr der Religion unvermeidlich, die Republik "tot“.

Am Vorabend des Attentats war Houellebecq Interview-Gast in der Abendnachrichtensendung "20 Heures“ des staatlichen Senders France 2. Eine solche Ehre wird einem Künstler selten zuteil. Laurent Joffrin, Chefredakteur der Tageszeitung "Libération“, urteilte, mit diesem Buch hätten die Thesen der Rechtsaußen "ihren Eintritt - oder Wiedereintritt - in die hohe Literatur geschafft“.

Florian Philippot, stellvertretender Vorsitzender des Front National, frohlockte. Endlich wiederhole jemand, noch dazu ein Repräsentant der allerhöchsten Kultur-Schickeria, was seine Partei immer schon gesagt habe: dass der Islam in Frankreich im Vormarsch sei, die Republik bedroht werde und dass Sozialisten und Konservative Komplizen bei der Beschwichtigung der Bevölkerung seien.

Houellebecqs seltsames Verhältnis zum Islam hat eine lange Geschichte: 2002 sagte er in einem Interview mit profil: "Ich habe keinerlei Wertschätzung für den Islam, und ich wünsche mir, dass er verschwindet.“ Weil er den Islam 2001 die "dümmste Religion“ genannt hatte, wurde Houellebecq wegen "Anstiftung zum Rassenhass und zur religiösen Gewalt“ angezeigt, das Verfahren jedoch eingestellt.

Mit der sich ausbreitenden Pegida und dem Vormarsch rechtspopulistischer Parteien wie dem Front National gewinnt die Idee der Islamisierung Europas an Breite, mit Figuren wie Houellebecq an Respektabilität.

Doch schlüssig sind die Prophezeiungen allesamt nicht. Dort, wo Ghettos entstehen, wie etwa in der Pariser Banlieue, entwickeln sich tatsächlich Parallelgesellschaften. Daraus die Gefahr einer Islamisierung Europas abzuleiten, ist jedoch Unfug. Wer ihr das Wort redet, überschätzt die Zahl der Muslime und unterschätzt das Ausmaß ihrer Integration in die europäische Kultur. In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime, sie machen etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Laut "Religionsmonitor“, einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die vergangene Woche veröffentlicht wurde, fühlt sich ein Großteil der in Deutschland lebenden Muslime Staat und Gesellschaft eng verbunden. 90 Prozent der hochreligiösen Muslime halten demnach die Demokratie für eine gute Regierungsform, neun von zehn Befragten haben nach eigenen Angaben in ihrer Freizeit Kontakt zu Nicht-Muslimen.

Leute wie Said und Chérif Kouachi passen freilich nicht in dieses Bild. Doch Terroristen ist wohl kaum durch Einwanderungsgesetze Einhalt zu gebieten, zumal die islamistischen Brüder in Paris zur Welt kamen.

Anders formuliert: Für eine Kulturrevolution von unten sind die Muslime viel zu wenige und auch mehrheitlich nicht motiviert, weil nicht radikal genug. Vermutet man unter den Muslimen eine große Zahl an Terroristen, dann wäre bereits die derzeit hier lebende muslimische Bevölkerung ein enormes Sicherheitsrisiko - und ein Einwanderungsstopp käme ohnehin viel zu spät.

"Charlie Hebdo“ und die Angst vor dem Terrorismus
Ein Attentat wie jenes auf "Charlie Hebdo“ kommt nicht überraschend. Tatsächlich war es keine Frage, ob ein Anschlag stattfinden würde, sondern lediglich, wann und wo - spätestens seit dem Siegeszug der Terrormiliz "Islamischer Staat“, der mit einer professionellen Propagandaoffensive einherging. In den vergangenen Monaten schlossen sich Tausende Muslime aus Europa dem "Dschihad“ in Syrien und im Irak an, vor allem junge Männer mit Migrationshintergrund, die oft binnen kürzester Zeit, quasi im Instant-Verfahren radikalisiert wurden. Hunderte sind inzwischen in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Ihnen wurde von den Sicherheitsbehörden das größte Gefahrenpotenzial zugeschrieben.

Bei Said und Chérif Kouachi liegt der Fall etwas anders. Die Brüder, angeblich früh verwaist und in einem Heim aufgewachsen, haben eine mehr als zehn Jahre lange Extremistenkarriere hinter sich. Bereits 2003 sollen sie sich einer Islamisten-Zelle im 19. Arrondissement von Paris angeschlossen haben, die sich in der Folge zu einer Drehscheibe für Dschihadisten entwickelte. Die sogenannte Buttes-Chaumont-Gruppe rekrutierte Kämpfer für den Kampf gegen die US-Truppen im Irak und schleuste sie über Syrien in das Kriegsgebiet.

2005 tauchte Chérif in einer Fernsehdokumentation über die Pariser Islamistenszene auf, im selben Jahr wurden er und sein Bruder festgenommen. Said kam bald wieder frei. Chérif, der offenbar selbst bereits Reisevorbereitungen getroffen hatte, blieb in Haft und wurde 2008 wegen Verschwörung zur Verübung terroristischer Akte zu drei Jahren Gefängnis (18 Monate davon auf Bewährung) verurteilt, die er zum Zeitpunkt des Schuldspruchs bereits abgesessen hatte. Während der Haft soll er durch den Kontakt zu wirklich hartgesottenen Dschihadisten immer militanter geworden sein.

Nach Angaben der französischen Behörden standen Said und Chérif seither unter Beobachtung durch den Geheimdienst, wurden aber offenbar als kein besonderes Risiko betrachtet - bis sie am Mittwoch vergangener Woche bei "Charlie Hebdo“ auftauchten.

Die Vorgangsweise deutet darauf hin, dass sie professionelles Training in taktischer Vorgangsweise und im Umgang mit Waffen erhalten hatten. Das beweist zunächst ein Video, auf dem zu sehen ist, wie einer der beiden den Polizisten Ahmed Merabet ermordet. Das Sturmgewehr des Attentäters ist auf Einzelfeuer gestellt, er streckt den Beamten mit einem gezielten Schuss aus einiger Entfernung nieder, läuft auf den Verwundeten zu und jagt ihm dann im Vorbeilaufen eine Kugel in den Kopf.

"Viele Terroristen gehen nach der Methode, pray and spray‘ vor“, analysierte der pensionierte US-General Mark Hertling in einem Interview mit dem TV-Sender CNN: "Das heißt, sie stellen ihre Waffen auf Vollautomatik, schreien eine religiöse Parole und ballern dann einfach drauflos, wobei die wenigsten Kugeln treffen. Diese Terroristen hier scheinen gut ausgebildet zu sein. Sie feuern kontrolliert gezielte Einzelschüsse ab.“

Wie das Brüderpaar zu seinen Kenntnissen gekommen ist, war vorerst nur bruchstückhaft nachvollziehbar. Die "New York Times“ berichtet unter Berufung auf US-Sicherheitskreise, Said habe 2011 "einige Monate“ Training bei der AQAP (Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel) im Yemen durchlaufen.

Die AQAP bildet nicht nur Dschihadisten aus, sie gibt auch ein Hochglanz-Magazin namens "Inspire“ heraus, das Aufrufe und Anleitungen zu Attentaten enthält. In der Ausgabe vom März 2013 war darin ein "Wanted“-Plakat mit den Fotos mehrerer "Feinde des Islam“ abgedruckt - unter ihnen auch "Charlie Hebdo“-Chefredakteur Stéphane Charbonnier.

Beim Massaker in der Redaktion der Satirezeitung richteten die Kouachi-Brüder zunächst die Männer von den Frauen und versicherten Letzteren, ihnen werde nichts passieren (dennoch starb bei dem Anschlag auch eine Mitarbeiterin, die Psychoanalytikerin und Kolumnistin Elsa Cayat). Dann richteten sie gezielt die Zeichner hin, die sich kritisch mit dem Islam auseinandergesetzt hatten.

Inzwischen hatte ein weiterer Attentäter am Donnerstag im Süden von Paris eine Polizistin erschossen und den Mitarbeiter eines Reinigungsdienstes schwer verletzt. Wie sich später herausstellte, dürfte der 32-jährige Amedy Coulibaly in Verbindung mit dem Brüderpaar gestanden sein.

Während sich Said und Chérif Kouachi am Freitag in einer Druckerei nahe Paris verschanzten und von der Polizei belagert wurden, brachte Amedy Coulibaly in einem jüdischen Supermarkt mehrere Menschen in seine Gewalt.

Grund genug für al-Bayan, die Radiostation der Terrormiliz "Islamischer Staat“ (IS), die Mörder als "Helden“ zu feiern - nicht nur aus ideologischen Gründen. Die ultraradikale Miliz des "Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi erwartet sich von Taten wie jener in Paris sowohl kurz- als auch langfristigen Gewinn. Einerseits sollen damit neue Rekruten angelockt werden. Andererseits hoffen die Strategen des IS auf eine Polarisierung in Europa. Die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Muslimen soll steigen, um diese erst recht den Islamisten in die Hände zu treiben und zum gewaltsamen Aufstand anzustacheln, der zum endgültigen Triumph des Islam führt.

So weit die wirre Theorie, die von einer praktischen Umsetzung meilenweit entfernt ist. Dennoch hat sich das Meinungsklima gegenüber Muslimen merklich verändert. Der aktuelle "Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung registriert in Deutschland eine wachsende Ablehnung von Muslimen und des Islams. 57 Prozent der Befragten betrachten den Islam derzeit als "bedrohlich“. Vor zwei Jahren waren es 53 Prozent gewesen. Die Einschätzung, der Islam passe nicht zur westlichen Welt, wurde 2012 von 52 Prozent vertreten. Mittlerweile sind 61 Prozent dieser Ansicht.

Die Zahlen wurden vor den Attentaten von Paris erhoben. Es ist davon auszugehen, dass sich das Image der Religion und ihrer Angehörigen seither weiter verschlechtert hat. In Frankreich kam es bereits zu Übergriffen auf mehrere Moscheen und Gebetshäuser. Innenminister Bernard Cazeneuve verurteilte die Vorkommnisse scharf. In Deutschland warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel eindringlich vor pauschalen Vorwürfen gegen die islamische Gemeinde.

Gleichzeitig distanzierten sich arabische Länder wie Saudi-Arabien oder der Libanon von den Anschlägen, ebenso Institutionen wie die Arabische Liga und Al-Azhar-Universität in Kairo, die wichtigste Autorität des sunnitischen Islam. Ungezählte Muslime solidarisierten sich in der Öffentlichkeit mit "Charlie Hebdo“ und den Opfern.

"Die Ermordung von wehrlosen Menschen kann niemals etwas sein, das unseren Propheten ehrt oder Gott groß macht. Dieser Akt ist eine Pervertierung unserer Religion und kann niemals religiös begründet werden“, schrieb Dudu Kücükgöl, Vorstandsmitglied der Muslimischen Jugend Österreichs, in einem Gastkommentar für die Zeitschrift "Biber“ stellvertretend für viele andere.

Das mag schon sein. Aber: Lässt sich der Terrorismus so einfach und klar von der Religion trennen, auf die er sich immerhin beruft?

Der Islam und seine Angst vor sich selbst
"Die Differenzierung zwischen Islam und Islamismus war nie falsch. Aber sie war unvollständig“, kommentiert die deutsche "Zeit“. Mit der Entlastung der moderaten Mehrheit aller Muslime hätte viel früher auch eine Forderung einhergehen sollen, "nämlich jene, dass der Islam sich selbst darüber erforscht, welche Glaubensinhalte, welche geistigen Verkrustungen und welche Anachronismen selbst moderater Koran-Lesarten es sein könnten, die junge Leute irgendwann, Allah ist groß!‘ rufen lässt, während sie Journalisten niedermetzeln. Denn so falsch es ist, Islam mit Islamismus gleichzusetzen, genauso falsch ist es, jede Verbindung zwischen ihnen zu leugnen.“

Said und Chérif Kouachi verstießen mit ihren Mordtaten auf eklatanteste Weise gegen sämtliche Grundsätze des europäischen Rechtsverständnisses, handelten jedoch gewissermaßen im Einklang mit der Gesetzeslage in Ländern wie Afghanistan, Saudi-Arabien, Iran, Kuwait oder Pakistan, wo Blasphemie mit dem Tod geahndet wird - und klarerweise auch im syrisch-irakischen Herrschaftsgebiet der Terrormiliz "Islamischer Staat“.

Saudi-Arabien ließ keine 48 Stunden nach seinen Beileidskundgebungen für die Attentatsopfer von Paris einen Blogger öffentlich auspeitschen. Begründung: "Beleidigung des Islam“. Insgesamt 1000 Hiebe soll der Mann dafür bekommen. Damit er nicht stirbt, wird die Strafe auf 20 Mal 50 Hiebe aufgeteilt.

Und zahlreiche, auch offizielle Stellungnahmen aus der islamischen Welt beeilten sich, den Karikaturisten von "Charlie Hebdo“ zumindest eine Teilschuld für ihre Ermordung zuzuschieben. Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu etwa erklärte, "Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Islamophobie, die in vielen Teilen Europas im Steigen begriffen ist“ würden "einander beeinflussen und auslösen“.

Das mag auch politisch motiviert gewesen sein. Gleichzeitig kommt damit aber ein tief sitzendes Verständnis zum Ausdruck, dass Angriffe gegen den Islam - oder Handlungen, die als solche gewertet werden - eben mit einer Reaktion beantwortet werden.

Es ist nicht schwer, einzelne Gräueltaten als "unislamisch“ zu verurteilen. Was maßgebliche muslimische Würdenträger und Institutionen aber noch immer nicht schaffen, ist ein grundsätzliches Bekenntnis dazu, dass ein vor 1405 Jahren angeblich vom Himmel gefallenes Offenbarungsbuch nicht über jedem anderen staatlichen Recht stehen kann. Zumindest den in Europa lebenden Vertretern des muslimischen Glaubens ist das zumutbar - ebenso wie eindeutige, generelle Distanzierungen von Gewaltanwendung im Namen der Religion, auch wenn die Scharia-inspirierte nationale Rechtsprechung mancher islamischer Länder dies rechtfertigen mag.

Aber solche Distanzierungen sucht man bislang vergebens.

Das liegt natürlich auch am oft zitierten Problem des Islam, nie eine Aufklärung durchgemacht zu haben wie das christliche Europa. Der renommierte Historiker Dan Diner, der unter anderem an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, weist in seinem Buch "Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt“ (2005) auf einen Aspekt hin, der dabei oft vernachlässigt wird. Die Sprache des Islam ist das "heilige“ Hocharabisch, während regionale Umgangssprachen nicht verschriftlicht wurden. Es ist in etwa so, als würde die westliche Welt offiziell weiterhin in Kirchenlatein kommunizieren.

"Die Sprache des Korans avancierte zur Staatssprache aller arabischen Länder; staatsfähige Nationalkulturen haben sich kaum entwickelt. Stattdessen instrumentalisierte man die Religion zu einem ideologischen Kitt für den Zusammenhalt der Gesellschaften innerhalb der Territorialstaaten. Auch so verkam der Islam mehr und mehr zur Ideologie“, fasste der deutsche Grün-Abgeordnete Cem Özdemir die Kernthesen des Buches für "Spiegel Online“ zusammen.

Dieser Umstand trage maßgeblich dazu bei, dass die Allgegenwart des Sakralen in der arabischen Welt bislang nicht gebrochen wurde, was wiederum die Trennung von privatem und öffentlichem Raum und von politischem, rechtlichem sowie wirtschaftlichem System mit jeweils eigenen Funktionsweisen behindere - und damit jeden Fortschritt.

Die Bedeutung der christlichen Religionen ist im Westen seit der Aufklärung immer weiter gesunken. Vergleicht man säkularisierte und religiöse Gesellschaften, so fällt die Bilanz in puncto Menschen- und Minderheitenrechte, Gleichberechtigung, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Wohlstand und vielen anderen Bereichen ganz eindeutig aus.

Die Formel, wonach die Terroristen eine winzige Minderheit der Muslime bildeten und deshalb keinesfalls den Islam repräsentierten, ist zwar richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Die islamischen Staaten, in denen auf Apostasie die Todesstrafe steht, haben zusammen eine Einwohnerzahl von 400 Millionen. Diese mörderischen Gesetze werden zumindest stillschweigend akzeptiert. Gibt das ein korrektes Bild des Islam wieder?

Dennoch ist auch etwas anderes anzuerkennen: Der Islam ist eben mehr als die Mörderbande IS und ihr "Kalif“ Abu Bakr al-Baghdadi, mehr als Saudi-Arabien mit seinen Hinrichtungen und Auspeitschungen und mehr als das Terror-Duo von Paris.

Er ist auch: Malala Yousafzai, die junge Frau aus Pakistan, die den Taliban getrotzt und dafür fast mit dem Leben bezahlt hat. Er ist Tunesien, wo sich die islamistische Partei erst vor wenigen Wochen ihrer demokratischen Abwahl gebeugt hat. Er ist die Vielzahl von Gläubigen, die ihrer Abscheu vor dem Anschlag gegen "Charlie Hebdo“ öffentlich Ausdruck verliehen haben und sich zurecht fragen, was sie mit den Tätern gemein haben, außer die nominelle Zugehörigkeit zur gleichen Religion.

Und er ist schließlich auch: Ahmed Merabet, der muslimische Polizist, der sterben musste, weil er den Mitarbeitern von "Charlie Hebdo“ zu Hilfe eilte.

Am gleichen Tag, an dem Said und Chérif Kouachi in Paris zwölf Morde begingen, forderten Attentate im Jemen mehr als 40 Menschenleben, in Afghanistan zehn - Muslime, die von der Hand muslimischer Täter starben. Sie machen immer noch die Mehrzahl der Opfer des Extremismus aus.

Freitag Abend stürmte die Polizei die Druckerei, in der sich die Brüder Kouachi verschanzt hatten und auch den Pariser Supermarkt, in dem Amedy Coulibaly mehrere Menschen in seine Gewalt gebracht hatte. Alle Terroristen und mindestens vier Geiseln wurden dabei getötet.

Vom Islam, vor allem aber von denjenigen, die sich bei Gewalttaten auf ihn berufen, geht fraglos eine Gefahr aus. Für seine Anhänger selbst und für den Rest der Menschheit.

Zwar wird er Europa nicht kulturell auslöschen und schon gar nicht die Weltherrschaft übernehmen. Aber er hat das Potenzial, die offene Gesellschaft zu bedrohen: nicht nur, indem er Angst und Schrecken verbreitet, sondern auch, indem er Reaktionen auslöst, die zur Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten führen.

Es wäre tröstlich, all das als Geburtswehen auf dem Weg zu einer islamischen Aufklärung begreifen zu können.

Stattdessen ist da vorerst nur Dunkelheit und Schmerz.

Mitarbeit: Salomea Krobath

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