Chef der ukrainischen Atombehörde warnt vor nuklearer Katastrophe
Als Chef der ukrainischen Atombehörde „Energoatom“ ist Petro Kotin für alle Atomkraftwerke im Land verantwortlich, auch für das von Russland besetzte AKW Saporischschja. Im Interview mit profil verkündet er eine Botschaft an Russland: „Haut ab und wir kümmern uns darum“.
Im größten Atomkraftwerk Europas, Saporischschja im Südosten der Ukraine, haben sich russische Soldaten verschanzt. Die Kämpfe rund um das AKW haben sich zuletzt wieder verschärft. Es gibt nur noch eine einzige Stromleitung für die Kühlung der Reaktoren. Muss Europa eine nukleare Katastrophe befürchten?
Kotin
Ja, in der Tat. Diese Bedrohung existiert seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine. Die Situation verschlechtert sich zunehmend. In Saporischschja sehen wir einen Zerfall der Ausrüstung und die Stromleitungen wurden, mit Ausnahme einer einzigen, durch russische Bombardements zerstört. Sollte auch diese letzte Leitung ausfallen, kommt es zu einem Blackout. Das haben wir schon acht Mal erlebt.
Was sind die Folgen?
Kotin
Es gibt Notstromaggregate, die die Pumpen für die Kühlung für eine gewisse Zeit weiter antreiben. Ohne diese Generatoren würde der Prozess der Kernschmelze einsetzen, radioaktive Strahlung würde austreten. Wir können das mit Fukushima vergleichen, wo die Stromzufuhr durch ein Erdbeben unterbrochen wurde und der folgende Tsunami die Diesel-Generatoren zerstörte. Die Reaktoren konnten nicht mehr gekühlt werden. Dasselbe würde in Saporischschja geschehen. Ohne den Strom von außen braucht es Dieselgeneratoren, doch auch diese können ausfallen. Sofern sie nicht versagen, reicht der Treibstoff für etwa 15 Tage.
Sie haben lange im AKW Saporischschja gearbeitet, sind zum Direktor aufgestiegen und kennen viele Menschen, die dort arbeiten. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?
Kotin
Ich war nach dem Studium in den Bau des AKW involviert und habe mich bis zum Direktor hochgearbeitet. Ich kenne das Kraftwerk und die Arbeiter gut, mit einigen von ihnen stehe ich bis heute in Kontakt. Die Russen haben die Mitarbeiter des AKW unter Druck gesetzt, damit sie Verträge mit Rosatom unterschreiben, dem staatlichen russischen Atomkonzern. Das haben aber die wenigsten getan. Allein im Februar wurden 400 Leute aus ihren Positionen entfernt.
Wer noch dort ist, arbeitet unter Zwang. Was hat Moskau vor?
Mitarbeiter des AKW wurden gefoltert oder sogar getötet.
Kotin
Die Russen wollten das AKW wieder in Betrieb nehmen und es an das russische Stromnetz anschließen, aber das ist unmöglich. Sie dachten, die Menschen würden sich über ihre Ankunft freuen und waren sehr überrascht darüber, dass ihnen Hass entgegenschlug. Also haben sie versucht, die Menschen zur Arbeit zu zwingen. Mitarbeiter wurden gefoltert oder sogar getötet. Viele haben dennoch nicht unterschrieben. Unter den 400 zuletzt Entlassenen waren hochqualifizierte Arbeiter, darunter Leute, die für die Sicherheit des AKW zuständig sind. Die russischen Arbeiter von Rosatom kennen die Anlage nicht, sie sind nicht dafür ausgebildet.
Was bedeutet das für die Sicherheit des AKW?
Kotin
Da sind Menschen am Ruder, die keine Ahnung vom AKW haben und die Mängel nicht beheben können. Das AKW kann nicht von Menschen instandgehalten werden, die die Russen von der Straße rekrutieren. Dazu kommt, dass der Kernbrennstoff in den Reaktoren, das Uran, nach sechs Jahren ausgewechselt werden muss. Das wäre jetzt dringend nötig. Aber auch das ist ohne die entsprechenden Experten, die die Sicherheit gewährleisten, nicht möglich.
Was könnte passieren, wenn der Brennstoff nicht rechtzeitig gewechselt wird?
Kotin
Das wissen wir nicht, denn die Zeitspanne von sechs Jahren wurde noch nie überschritten. Es könnte Radioaktivität austreten. Als die Russen zu Kriegsbeginn das Sperrgebiet rund um das AKW Tschernobyl einnahmen, gruben sie Schützengräben und setzten dabei radioaktives Material frei. Etliche Soldaten waren kontaminiert, und sie erkannten, dass ihnen die Besetzung nichts bringt. Mit Saporischschja ist es ähnlich
Die Kühlbecken auf dem Gelände haben jetzt, wo die Reaktoren nicht in Betrieb sind, genug Wasser. Für den Betrieb reicht es nicht, denn dann würde das Wasser in einem Monat ausgehen.
Die Ukraine plant, neue Atomkraftwerke zu bauen. Ist das in Anbetracht der Umstände nicht brandgefährlich?
Kotin
Der Krieg wird nicht hundert Jahre dauern. Wir werden siegen und danach neue AKW bauen. Atomenergie ist eine zuverlässige Ressource. Diesen Winter haben wir mehr als 50 Prozent des Bedarfs produziert. Es war das erste Mal, dass unsere AKW, Saporischschja ausgeschlossen, hundert Prozent ihres Potenzials ausschöpften. Es gab keine Blackouts, wir mussten kein einziges AKW abschalten. In Zukunft werden wir unseren Strom aus den Atomkraftwerken auch nach Europa exportieren können.
Was, wenn Europa künftig keinen Atomstrom mehr importieren will?
Kotin
Wir exportieren und importieren Strom, je nach Marktlage, das wird auch in Zukunft so bleiben.
Das Stromnetz der Ukraine läuft seit einigen Jahren synchron mit jenem Europas, abgekoppelt vom russischen. Welche Rolle spielte das Thema Energie beim Angriff Russlands auf die Ukraine?
Kotin
Das war eine interessante Situation. Wir haben lange an der Synchronisation mit Europa und der Abkoppelung von Russland gearbeitet. Nur zwei Tage vor Kriegsbeginn haben wir uns von Russland abgekoppelt, um eigenständig zu werden. Der Test von einigen Tagen sollte Europa beweisen, dass wir bei der Energie autark agieren können. Zu unserer Überraschung hat Moskau zugestimmt. Sie dachten offenbar, dass sie Kiew in wenigen Tagen einnehmen und sich das Problem damit erledigen würde. Das hat uns geholfen. Am 17. März 2022 haben wir uns an das europäische System angeschlossen.
Atomkraft spielt in der Ukraine eine große Rolle, doch ein Großteil der aktuellen AKW-Flotte basiert auf russischer Technologie. Ein Kooperationsvertrag mit dem amerikanischen Hersteller Westinghouse soll zur Unabhängigkeit von Russland verhelfen. Wie weit sind Sie mit dem Aufbau westlicher Alternativen?
Kotin
Wir haben den Prozess abgeschlossen und sind bereits unabhängig von russischer Technologie sowie von Treibstoff aus Russland. Die Russen haben ihre Lieferungen stets genutzt, um uns unter Druck zu setzen und zu erpressen. Nach der Annexion der Krim haben wir Treibstoff-Lager für zwei Jahre angelegt, das hat uns jetzt sehr geholfen.
Österreich ist ein erklärter Gegner der Atomkraft, die Ukraine betreibt nach wie vor 15 Reaktoren...
Erneuerbare Energien sind nicht so zuverlässig wie Atomkraft, die das ganze Jahr über Strom liefert.
Kotin
Ich verstehe die Vorteile von erneuerbaren Energien, aber ich bin Experte für Atomkraft. In der Ukraine haben wir uns für diesen Weg entschieden. Wir werden unsere AKW nicht schließen, der Energiesektor macht einen großen Teil unserer Wirtschaft aus.
Die Potenziale für erneuerbare Energien wie Windkraft sind in der Ukraine, die über viel dünn besiedelte Fläche verfügt, sehr hoch. Wie sieht es mit den Plänen für den Ausbau grüner Energie aus?
Kotin
In der Ukraine haben wir etliche Pläne für die Entwicklung von Solar- und Windkraft. Doch diese erneuerbaren Energien sind nicht so zuverlässig wie Atomkraft, die das ganze Jahr über Strom liefert.
Die Ukraine und Österreich haben ein „Memorandum of Understanding“ abgeschlossen, eine Energiepartnerschaft zwischen den Staaten über Projekte zu Erneuerbaren sowie die Produktion von Wasserstoff, auch aus Atomkraft. Österreich soll der Ukraine nach dem Wiederaufbau den Wasserstoff abnehmen.
Kotin
Ja, wobei wir solche Abkommen mit vielen Ländern abgeschlossen haben. Wasserstoff ist in aller Munde, aber wir sind weit weg von der EU und die Frage ist, wie der Wasserstoff transportiert werden kann. Es gibt im Moment keine zuverlässigen Wege. Aber ja, wir können Wasserstoff herstellen – auch deswegen brauchen wir mehr AKW im Land. Bis 2050 wollen wir 130 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr produzieren, derzeit sind es, ohne Saporischschja, gerade einmal 52. Wir brauchen also mindestens zehn oder 15 zusätzliche Reaktoren.