Präsident Xi, Appell an die Soldaten: "Arbeite hart an dem Aufbau einer Volksarmee, die die Befehle der Partei befolgt, die Kriege gewinnt und die gute Disziplin zeigt.“

China: Das Wirtschaftswunderland ist tief in die Krise gerutscht

Nachdem die Shanghaier Börse den schlimmsten Einbruch seit acht Jahren erlebt hat, fürchtet sich die Welt: Wie konnte sich China vom ehemaligen Wirtschaftswunder zum Sorgenkind entwickeln? Vier Annäherungen an ein Land in der Krise.

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Blauer Himmel

Wenn kommenden Donnerstag auf dem Tian’anmen-Platz die Panzerkolonnen rollen, wird der Himmel über Peking blau sein. Das steht heute bereits fest. Am 3. September vor 70 Jahren kapitulierte Japan. Das soll mit einer gigantischen Militärparade - die erste, die nicht zu einem Nationalfeiertag organisiert wird - gefeiert werden. So beschloss die chinesische Führung. Es soll ein gewaltiges Event werden, das der Welt vor Augen führt, wie mächtig und stark China ist.

Um sicherzustellen, dass die unzähligen Waffen, die da gezeigt werden, in der Sonne glänzen und nicht gemeinsam mit den Zehntausenden Soldaten vor den Gästen auf der Tribüne im trüben Nebel des Pekinger Smogs verschwinden, hat man auf ein bewährtes Mittel zurückgegriffen: In sieben Provinzen rund um die chinesische Hauptstadt müssen seit 20. August bis kommenden Donnerstag sämtlich Unternehmen ihre Produktion drastisch drosseln, wenn nicht gar ganz einstellen. Betroffen von diesen Anordnungen sind mehr als 12.000 Fabriken. In diesem Zeitraum darf täglich abwechselnd auch nur noch jeder zweite Pkw fahren.

Die Pekinger Bevölkerung kann sich also freuen über gute Luft und Sicht am Tag der Militärparade. Die Freude der chinesischen Machthaber angesichts des von ihnen ausgerufenen Festtages ist aber getrübt. Denn so wie sicher der Himmel über Peking blau sein wird, so gewiss ist auch, dass die ganze Aktion ein diplomatischer Flop wird. Von der eingeladenen internationalen Politik reist nur die zweite Garnitur an: Wladimir Putin wird kommen und Soldaten zum Paradieren schicken. Die Präsidenten aus Ländern wie Kuba, Venezuela, Kasachstan werden sich vor Ort von der militärischen Kraft des Reichs der Mitte überzeugen können. Barack Obama bleibt zu Hause. Aus Japan kommt nur ein ehemaliger Premier. Und aus Europa will sich nur der tschechische Präsident Miloš Zeman nicht nehmen lassen, nach Peking zu düsen.

Panzer auf dem Tian’anmen-Platz - das war nun wirklich keine gute Idee der Festorganisatoren, verbindet damit die internationale Öffentlichkeit doch ein höchst unrühmliches Ereignis der jüngeren Geschichte Chinas: das blutige Niederwalzen der Demokratiebewegung im Jahr 1989. Kein Wunder also, dass die Terrasse des Tian’anmen-Tores, von der aus Partei- und Staatschef Xi Jinping die vorbeiziehenden Soldaten zu begrüßen vorhat, nur spärlich mit internationaler Politprominenz besetzt sein wird.

So enttäuschend für die Pekinger Führung die weltweite Resonanz sein mag, die Vorbereitungen des großen Tages laufen auf vollen Touren. Die Hauptstadt ist in Erwartung des großen Events (und angesichts der aktuell dort stattfindenden Leichtathletik-Weltmeisterschaft) geradezu einem Kontrollwahn verfallen: Fast eine Million Hilfspolizisten und zivile Aufpasser hat man mobilisiert, die nun mit ihren roten Armbinden Pekings Straßenbild prägen.

Der generelle Schulbeginn wurde um eine Woche auf den 7. September verschoben. Und in den Medien sind die Vorbereitungen auf den "großen Tag“ Thema Nummer eins. Da gingen die Nachrichten über ein für das Land wahrscheinlich um einiges wichtigeres Ereignis in der offiziellen Öffentlichkeit geradezu unter: Über den Crash der Shanghaier Börse der vergangenen Woche, als die chinesischen Aktienkurse drastisch abstürzten und die Börsen anderer Länder mit sich rissen, wurde nur spärlich berichtet.

Schwarzer Montag

Als am Montag vergangener Woche alle wichtigen Aktienindizes an der Shanghaier Börse um 8,5 Prozent in den Keller gegangen waren, reagierten die internationalen Märkte panisch. Die asiatischen ohnehin. Aber auch in Europa und den USA hat der chinesische Crash dramatische Auswirkungen gehabt und für Angst vor dem chinesischen Drachen gesorgt: Der deutsche Aktienindex DAX sackte um acht Prozent ab, auch die Wall Street registrierte massive Kurseinbrüche. Es drängten sich Bilder des großen Börsenkrachs des Jahres 1929 auf. Der renommierte Asset-Manager Michal Hollands kommentierte das Geschehen mit den Worten: "Wir erleben einen Schwarzen Montag. Die Angst ist allgegenwärtig“.

Inzwischen hat sich die Situation an den internationalen Börsen ein wenig beruhigt - insbesondere seitdem die chinesische Zentralbank am Dienstag nach dem Crash die Zinsen senkte. Die globale Verunsicherung und Nervosität angesichts der chinesischen Finanzturbulenzen bleibt freilich. Aber es melden sich auch zunehmend Ökonomen und China-Kenner, die meinen, die weltweite Panik der vergangenen Tage sei weit übertrieben.

So weist etwa Martin Wolf, der Starökonom der "Financial Times“, darauf hin, dass der Aktienmarkt in der chinesischen Wirtschaft nur eine sehr untergeordnete Rolle spiele und mehr noch als jene in anderen Ländern von der Realwirtschaft abgekoppelt sei. Zudem liege der Shanghai-Index trotz des jüngsten Falls um 43 Prozent immer noch um 50 Prozent höher als Anfang 2014, dem Zeitpunkt, an dem die Kurse zu explodieren begannen.

Dieser Aktienboom war aber ganz bewusst inszeniert. Angesichts der entstandenen Immobilienblase wurde den chinesischen Mittelständlern ganz offiziell empfohlen, statt in Anlagewohnungen in Wertpapiere zu investieren. Für die Millionen der Kleinanleger ist der vergangene Montag nun tatsächlich rabenschwarz. Das Vertrauen, das sie möglicherweise bisher in die politische Führung hatten, dürfte jetzt weitgehend erschüttert sein.

Trotz des geringen Gewichts, das in der chinesischen Wirtschaft die Börse hat - der Absturz weist dennoch auf größere Probleme hin. Peking hat mit vollem finanziellen Einsatz - etwa durch massiven Aufkauf von Wertpapieren - versucht, das Platzen der Aktienblase zu verhindern, um schließlich resigniert die Intervention aufzugeben. Warum aber hat die chinesische Führung überhaupt "in diese aussichtslose Unternehmung so viel Ressourcen, ja sogar ihre politische Autorität investiert?“, fragt Martin Wolf. Und kommt zum Schluss: Offenbar macht man sich in den hohen Partei- und Staatsgremien tatsächlich ernsthafte Sorgen um die Wirtschaft insgesamt.

Fünf, sechs, sieben Prozent

"Wenn man ehrlich ist“, gestand kürzlich Viktor Szabo, ein US-Investmentbanker, gegenüber der "New York Times“, "hat niemand eine Ahnung, wie der Zustand der chinesischen Wirtschaft wirklich ist“. Er bezweifle außerdem, dass die publizierten Zahlen korrekt seien. Viele Analysten meinen, dass die von Peking veröffentlichte Wachstumsrate von sieben Prozent zu hoch sei.

Ob nun sieben, sechs oder fünf Prozent - einig sind sich jedenfalls alle, innerhalb und außerhalb des Reichs der Mitte, dass sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt hat, die Zeiten der zweistelligen Raten nun endgültig vorbei sind und die chinesische Wirtschaft an einem fundamentalen Wendepunkt angelangt ist.

Das fabelhafte chinesische Wirtschaftswunder der vergangenen drei Jahrzehnte wurde von zwei Elementen angetrieben: von billigen Exporten und von massiven staatlich gelenkten Investitionen, vor allem in die Infrastruktur. China ist aber an einem Punkt angelangt, an dem dieses Wirtschaftsmodell nicht mehr funktioniert: Entwickelte Länder können einfach nicht mehr so billig produzieren wie arme, und die Anzahl der gebrauchten Brücken, Straßen und Bahnlinien hat ihre natürliche Grenze.

Wenn das politische System sich nicht ändert, wird die Reform an der bürokratischen Trägheit scheitern. (Zhang Lifan, Historiker

China muss auf ein Wachstumsmodell umsteigen, das mehr und mehr auf dem Massenkonsum im Land basiert. Und das heißt: Strukturreformen, Liberalisierung, Zurückdrängen der mächtigen Staatskonzerne und massiv steigende Löhne.

Schon unter normalen Bedingungen wäre solch ein gewaltiges Projekt nur sehr schwierig umzusetzen. Aber gerade aktuell verliert die Kommunistische Partei, die seit 1949 das Land im Alleingang regiert, zusehends an Legitimität. Gerade auch der Börsenkrach und das eklatante Scheitern des Versuchs, ihn doch noch zu verhindern, sind dazu angetan, das Vertrauen in die monopolistisch herrschende KP zu untergraben. Jener Gesellschaftsvertrag, wonach das Volk sich weitgehend politischer Ambitionen und Aktivitäten enthält, dafür aber stetig wachsenden Lebensstandard garantiert bekommt, erscheint jedenfalls infrage gestellt.

Der in Peking stationierte politische Kommentator und Historiker Zhang Lifan moniert zudem, dass eine Wirtschaftsreform ohne politische Reform nicht funktionieren könne: "Wenn das politische System sich nicht ändert, wird die Reform an der bürokratischen Trägheit scheitern.“

Von politischer Reform ist aber im China des Xi Jinping längst schon keine Rede mehr. Im Gegenteil: Dieser setzt auf totale Zentralisierung. Seit Mao Tse-tung hatte kein Parteiführer eine derartige Machtfülle wie er. Und er steht für eine technokratische, dezidiert nicht-politische Reform. "Jegliche politische Rhetorik in Verbindung mit Marktreform und -liberalisierung und jede Erwähnung von unabhängigen und freien Institutionen sind aus den offiziellen Medien und Reden völlig verschwunden“, vermerkt François Godement in einem Paper des "European Council on Foreign Relations“.

Die kommunistische Staatspartei bestimmt unter Xi tatsächlich stärker und lückenloser als in den vergangenen Jahrzehnten jedes Detail des gesellschaftlichen Lebens. Mit dem Effekt, dass jeder Missstand, jeder Skandal, jede Unzulänglichkeit des öffentlichen Lebens direkt auf die Partei und ihre Führung zurückfällt. Nicht zuletzt dies macht aus den ökonomischen Verwerfungen eine tiefe politische Krise.

Kampf um die Macht

Vor Kurzem attackierte der Kolumnist "Guoping“ (ein Pseudonym, das in der Übersetzung "Land im Frieden“ bedeutet) gleich in mehreren chinesischen Staatsmedien die "Hartnäckigkeit, Wut und Verrücktheit all jener, die sich nicht an den Reformkurs anpassen, wenn nicht diesen sogar bekämpfen“. Das Ausmaß dieses Widerstandes sei "jenseits dessen, was man sich vorstellen kann“, klagt "Guoping“, um im gleichen Atemzug die Entschlossenheit von Xi und seinen Leuten zu betonen, am Reformkurs festzuhalten: "Je chaotischer die Situation ist, umso fester beharren sie auf ihrer Politik, je größer die Opposition wird, umso stärker treten sie dieser entgegen: Das ist das Besondere an der aktuellen Reformergeneration.“

Nicht zuletzt der "Guoping“-Kommentar signalisiert: In Peking ist ein Machtkampf im Gang. So unbestritten wie es die längste Zeit ausgesehen hat, dürfte Xi nicht sein. Wie aber die Kräfteverhältnisse im Parteiapparat aussehen, welche Fraktionen sich da über welche Frage in die Haare kriegen, ist nicht so leicht auszumachen. Das chinesische Herrschaftssystem kann opaker nicht sein. Was sich da im Kreis der einigen Dutzend Parteigranden abspielt, die hinter verschlossenen Türen über das Schicksal dieses Riesenreiches mit seinen fast 1,4 Milliarden Einwohnern bestimmen, ist unbekannt. Alle Entscheidungsprozesse laufen völlig intransparent ab.

Dennoch ist klar, wer den Widerstand gegen Xi und seine Politik leistet. Da sind einmal all jene, die im "Kampf gegen die Korruption“, den der Partei- und Staatschef ausgerufen hat, unter die Räder kommen. Und von dieser Kampagne sind nicht nur diebische, defraudante Staatsbeamte und Parteikader betroffen. Damit säubert Xi auch die Partei von Gegnern seines Machtanspruchs und von potenziellen Rivalen. Ausgeschlossen, eingesperrt und vor Gericht gebracht wurden bisher bereits unzählige höchste Funktionäre, Generäle und Geheimdienstchefs.

Das Endspiel der Herrschaft der chinesischen Kommunisten hat begonnen. (David Shambaugh, Sinologe)

Nicht minder feindlich gegenüber dem Xi-Kurs sind zweifellos jene ökonomischen Eliten und ihre politischen Repräsentanten, die von einer Marktliberalisierung in ihren unmittelbaren Interessen bedroht sind: Vor allem die großen staatlichen Konzerne, ihre Leute im Staatsapparat und ihre Klientel in der Privatwirtschaft profitieren vom Status quo und haben nichts übrig für stärkere Konkurrenz. Und diese Leute verfügen über gewaltige Mittel, mit denen sie alle Reformen zu blockieren und sabotieren versuchen.

Und da ist noch gar nicht die Bevölkerung mitbedacht, die angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs zwecks Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen auf die Straße gehen und sich auch gegen die immer schärfer werdende Repression auflehnen könnte.

Wie fest Xi im Sattel sitzt und wie stabil das KP-Regime in dieser Phase des Umbruchs des Landes ist - darüber gehen die Einschätzungen der China-Kenner auseinander. "Das Endspiel der Herrschaft der chinesischen Kommunisten hat begonnen“ - so etwa die These des renommierten amerikanischen Sinologen David Shambaugh: "Ich glaube, dass ihr Niedergang bereits weiter fortgeschritten ist, als viele denken.“ Ihr Sturz werde wahrscheinlich chaotisch und gewaltsam vor sich gehen, sagt er voraus und will nicht ausschließen, "dass Herr Xi in einem Machtkampf oder durch einen Staatsstreich abgesetzt wird“.

Andere China-Spezialisten wiederum sehen in den aktuellen Turbulenzen notwendige Erscheinungen in einer Phase des Übergangs von einem Wirtschaftsmodell zu einem anderen. Sie betonen die gewaltigen Wachstumsressourcen, die China nach wie vor hat und weisen darauf hin, dass die chinesischen KPler wohl die intelligentesten und effektivsten Kommunisten aller Zeiten seien. Das hätten sie in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen.

Wer immer auch Recht behalten wird - sicher ist jedenfalls, dass das Pekinger Regime zur Stabilisierung seiner Macht verstärkt Nationalismus mobilisiert. In diesem Kontext ist das lauter werdende Pekinger Säbelrasseln rund um die Inseln im Südpazifik zu sehen. Aber auch die kommende Militärparade, mit der sich das "große China“ als Sieger im Krieg mit dem japanischen Erzfeind vor 70 Jahren feiert.

Noch eines sei erwähnt: All jene zahlreichen Stimmen, die noch vor Kurzem das autoritäre chinesische Entwicklungsmodell hochlobten und als effektive Alternative zum demokratischen Weg anpriesen, sind seit einiger Zeit verstummt.

Georg Hoffmann-Ostenhof