Christoph Zotter: Europa kann das besser
Stellen Sie sich vor, Sie hören von einem schlimmen Unfall. Ein Kind stirbt dabei. Polizisten sind involviert; sie sollen fahrlässig gehandelt haben. Es besteht der Verdacht, dass sie die Sache vertuschen wollen. Außerdem sollen sich die Polizisten schon öfter so verhalten haben wie bei dem Unfall. Würden Sie wissen wollen, was man da besser machen kann?
EU-Parlamentarier Joseph Weidenholzer (SPÖ) wollte genau das, nachdem er im Februar den profil-Artikel über den Fall Madina Hussiny gelesen hatte. Das sechsjährige afghanische Mädchen starb im November 2017 bei dem Versuch, mit seiner Familie die EU-Außengrenze von Serbien nach Kroatien zu überqueren. Schuld daran sind laut ihrer Familie einige Polizisten, die eine illegale Zurückschiebung durchführten. Das kroatische Innenministerium bestreitet das.
Als Parlamentarier hat Weidenholzer das Recht, die EU-Kommission und den Rat der EU-Staaten um eine Stellungnahme zu bitten. Er wollte von ihnen drei Dinge wissen: Haben sie vom Fall Madina gehört? Wie reagieren sie darauf? Und wie kann sichergestellt werden, dass keine verbotenen Zurückschiebungen aus Kroatien mehr durchgeführt werden, von denen auch andere Migranten immer wieder berichten?
Zehn (!) Wochen später antwortet der Rat, genauer gesagt die Direktion des ihm vorstehenden EU-Präsidenten: Sie geht in dem profil vorliegenden Dokument mit keinem Satz auf Weidenholzers Fragen ein. Auf einer halben Seite listen die Beamten nur Paragrafen des Asylrechts auf. Die Kommission wiederum hat laut Weidenholzers Büro noch gar nicht geantwortet.
Über Madina soll offenbar kein Wort verloren werden.
Andererseits: Warum sollten sich ausgerechnet die beiden EU-Institutionen zum tragischen Tod eines afghanischen Flüchtlingsmädchens äußern? Wenn die kroatischen Polizisten sich wirklich falsch verhalten haben sollten, sind dafür nicht die kroatischen Gerichte zuständig?
Tatsächlich ermittelt die kroatische Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Das würde Kommission und Rat aber nicht daran hindern, innerhalb von knapp drei Monaten zumindest zu beantworten, ob sie von dem Fall gehört haben. Doch Grenzen und Migranten sind derzeit ein überaus heikles Thema.
Die EU muss beweisen, dass sie an ihrer Grenze beides schafft: Kontrolle und Rechtstaatlichkeit.
Nicht nur Madinas Tod deutet darauf hin, dass an den Außengrenzen Europas einiges schiefläuft. Wer mit Migranten spricht, hört von bulgarischen, kroatischen oder ungarischen Polizisten, die im Bunde mit Schleppern jene durchlassen, die genug Geld haben. In manchen Dörfern patrouillieren bullige Bürger-Wachtrupps entlang der Zäune. Dazu kommen unzählige Augenzeugenberichte von brutalen Übergriffen von Grenzpolizisten, die sich aber selten beweisen lassen. Kein Wunder, dass Rat und Kommission die Fragen unangenehm sind.
Aber was könnten sie überhaupt tun?
Sie könnten darauf drängen, die EU-Außengrenzen nicht einzelnen Nationen zu überlassen, sondern vollständig unter gemeinsame Kontrolle zu stellen. Die Truppe dafür gibt es bereits: Sie heißt Frontex und gilt als überkorrekt und unbestechlich. Nicht umsonst haben die Bulgaren ihr den Spitznamen „die Deutschen“ gegeben.
Dass ein Viktor Orbán sich den Grenzschutz Ungarns gänzlich aus der Hand nehmen lässt, ist eine Utopie. Doch würde es nicht schon reichen, die europäischen Grenzschutzkontingente massiv aufzustocken? In Kroatien arbeiteten gerade einmal vier Frontex-Mitarbeiter, als Madina Hussiny starb. In der Unglücksnacht waren sie nicht an jener Stelle der Grenze. Die kroatische Polizei meldete den Unfall weder ihnen noch der Frontex-Zentrale in Warschau, die davon aus den Medien erfuhr.
Warum nicht ein paar Hundert gut bezahlte Grenzer mehr ausbilden, die aus ganz Europa an die Außengrenzen entsandt werden? Sie könnten die Amtshandlungen ihrer nationalen Kollegen neutral dokumentieren, bei deren Patrouillen dabei sein. Von dem Licht, das dadurch auf das dunkle Grenzland geworfen würde, könnten am Ende auch die Polizisten jener Staaten profitieren, die jetzt vielleicht zu Unrecht am Pranger stehen.
Der politische Wille und das Budget dafür sollten vorhanden sein, wenn man bedenkt, dass sich mit dem Versprechen von dichten Grenzen seit bald drei Jahren quer durch Europa Wahlen gewinnen lassen.
Die EU muss beweisen, dass sie an ihrer Grenze beides schafft: Kontrolle und Rechtstaatlichkeit. Ist so sichergestellt, dass es zu keinem zweiten Fall Madina kommt? Garantieren kann das niemand. Wird dann auf wundersame Weise jede Gewalt verschwinden? Wohl eher nicht. Werden Fehler passieren? Sicher. Aber dann können wir es wenigstens nicht mehr einfach auf andere schieben. Es ist dann unsere Grenze, bewacht von unseren Grenzern.
Als profil die Familie Hussiny im Februar besuchte, erzählte eine der Schwestern Madinas von ihren Erfahrungen mit den Polizisten, die sie in Kroatien traf. „Sie sind wie in Afghanistan“, sagte sie.
Europa kann das besser.
[email protected] Twitter: @christophzotter