In Ungarn kann Ministerpräsident Viktor Orban derzeit ohne parlamentarische Kontrolle regieren

Coronavirus und Demokratie: Hier regiert die Pandemie

Nach der Angst vor dem Terror soll nun die Angst vor dem Virus staatliche Überwachungsmaßnahmen rechtfertigen. Treibt uns Covid-19 in eine autoritäre Richtung?

Drucken

Schriftgröße

Eine globale Pandemie ist eine enorme Prüfung; für den Einzelnen, aber auch für die betroffenen Gesellschaften. Sie müssen Widerstandskraft zeigen und den Kampf gegen die Krankheit organisieren. Weil das eine hochpolitische Aufgabe ist, zeigt sich auch, welches System, welche Regierungsform am besten dafür geeignet ist. Das Coronavirus testet sie alle: erst China, dann den Iran, Südkorea, Italien, schließlich ganz Europa, Asien, die USA und, wie sich abzeichnet, auch Afrika.

Die Öffentlichkeit jedes Landes blickt erstaunt, skeptisch, manchmal angewidert auf die Maßnahmen, die anderswo auf der Welt getroffen werden, und vergleicht die Handlungen der eigenen Regierung mit denen der anderen. Wie machen die das? Schlauer? Maßvoller? Rücksichtsloser?

Bedienen sich Demokratien im Notfall auch autoritärer Maßnahmen?

Als die chinesische Führung am 23. Jänner die Neun-Millionen-Einwohnerstadt Wuhan, in der die Coronavirus-Epidemie aller Wahrscheinlichkeit nach ihren Ausgang genommen hatte, von der Außenwelt abriegelte, reagierte vor allem die westliche Welt ungläubig bis alarmiert. Eine Quarantäne dieses Ausmaßes - bald erstreckte sie sich auf insgesamt 56 Millionen Menschen in 18 Städten -hatte es noch nie gegeben. Und da sie von einem totalitären Regime ausgerufen worden war, wirkte die Maßnahme umso abstoßender und unglaublicher. Es sei "nicht möglich, eine Stadt von der Größe New Yorks oder Londons ohne erhebliche Menschenrechtsverletzungen zu schließen", urteilte etwa zu diesem Zeitpunkt Lawrence O. Gostin, der Direktor des O'Neill Instituts für Nationale und Globale Gesundheit der Georgetown Universität in Washington, und viele Kommentatoren in westliche Medien waren ähnlicher Ansicht.

Knapp zwei Monate später sieht die Welt im wahrsten Sinne des Wortes anders aus. Nicht nur London und New York sind de facto geschlossen, in fast allen europäischen Ländern gelten strenge Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, und seit vergangener Woche ist auch im 1,3-Milliarden-Staat Indien eine landesweite Ausgangssperre in Kraft.

Die Demokratien sind bei der Verhängung der Quarantäne über die gesamte Bevölkerung dem Beispiel einer Autokratie gefolgt. Das wirft viele unangenehme Fragen auf: Bedienen sich Demokratien im Notfall auch autoritärer Maßnahmen? Sind diese anders zu beurteilen, je nachdem, wer sie anordnet? Oder geraten Rechtstaatlichkeit und besonders die Freiheitsrechte im Ernstfall unter die Räder, weil sie effizienten Schutzmaßnahmen im Wege stehen? Taugen sie womöglich nur für Schönwetter-Phasen? Und: Läuft unser System in Zeiten von allgemeiner Unsicherheit -also: jetzt -Gefahr, autoritäre Tendenzen zu entwickeln?

Beginnen wir mit einer Entwarnung.

Die Verhängung der Quarantäne über Wuhan war eine drastische Maßnahme, aber eine wohlbegründete. Hätte die Pandemie in Kopenhagen ihren Ausgang genommen und die dänische Regierung wäre die erste gewesen, die über ihre Hauptstadt oder ihr gesamtes Staatsgebiet eine Ausgangssperre erlassen hätte, wären zwar Aufregung und Skepsis groß gewesen, aber man hätte die Aktion bestimmt anders bewertet. Es macht nun mal tatsächlich einen Unterschied, ob eine gewählte Regierung und ein gewähltes Parlament, kontrolliert von einem Verfassungsgerichtshof und scharf beäugt von unabhängigen Medien, eine solche Entscheidung treffen oder das Politbüro der Kommunistischen Partei.

Kritik nach wie vor erlaubt

Auch in der konkreten Umsetzung unterscheidet sich die Ausgangssperre wesentlich. Während in China Polizei und Militär rigide die Einhaltung der Vorschriften überwachen, setzen die Behörden etwa in Österreich auch auf Selbstverantwortung der Bürger. Das äußert sich zum Beispiel in der Wortwahl von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), der - teils drohend, teils flehend - die Bevölkerung mahnt, es mit den Sportaktivitäten im Freien nicht zu übertreiben; denn "sonst würden wir uns gezwungen sehen nachzuschärfen, wie das andere Länder tun. Und das ist genau nicht unsere Absicht."

Im Gegensatz zu China kann in einer Demokratie jeder seinen Unwillen über die Maßnahmen der Regierung kundtun oder die politische Führung dafür kritisieren, dass sie falsch oder zu spät gehandelt habe. Selbstverständlich hätte auch die Opposition Widerstand gegen die Beschlüsse leisten und etwa den Verfassungsgerichtshof anrufen können. Gut möglich, dass es in einer späteren Phase zu politischen Differenzen darüber kommt, wann die verordnete Selbstisolation aufgehoben werden soll.

Alles unbedenklich also? Nein.

Während Ausgangssperren einen besonders augenfälligen Eingriff in Freiheitsrechte darstellen und deshalb ohnehin nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden können, stellen digitale Überwachungsmaßnahmen eine viel subtilere Form der Einschränkung von Grundrechten dar.

Und da wird es haarig. Wieder beginnt die Geschichte in China.

Dort sind Gesichtserkennungstechnologien im Einsatz, die in einer Menschenmenge einzelne Personen herausfiltern, die erhöhte Temperatur haben oder die keine Gesichtsmaske tragen. Apps verarbeiten persönliche Gesundheitsdaten, um Leute zu warnen, wenn sich in ihrer Nähe ein Infizierter befindet - oder nachträglich darüber informiert, wenn sich herausstellt, dass eine Person infiziert war. Soziale Medien wie Weibo offerieren die Möglichkeit, dass man Leute melden kann, von denen man annimmt, sie seien erkrankt.

Realität in einem totalitären Staat

All das mag wie Science-Fiction anmuten, aber es ist Realität in einem totalitären Staat. Das Kniffelige daran: China kann darauf verweisen, als einer von ganz wenigen Staaten die noch vor Kurzem exponentiell ansteigende Kurve der Neuinfektionen auf fast null runtergedrückt zu haben. Vergangene Woche hob die Führung in Peking die Beschränkungen in Wuhan und der Provinz Hubei weitgehend auf. Worauf der Erfolg zurückzuführen ist? Erstens auf eine rigide Ausgangssperre, zweitens auf digitale Überwachung. Überall in den westlichen Demokratien steigt die Zahl der Infizierten. Eine Ausnahme ist Südkorea, wo die Ausgangssperre zwar viel weniger martialisch ausgestaltet ist als in China, wo jedoch auch Überwachungstechnologie zum Einsatz kommt. In Echtzeit kann man hier auf einer Karte verfolgen, wo sich infizierte Menschen aufhalten.

Wenn die Angst steigt, massenweise Infizierte in Notspitälern unterbringen zu müssen und wie in Italien mehrere Hunderte Tote pro Tag zu beklagen, sinkt womöglich auch in Demokratien die Hemmschwelle vor Eingriffen des Staates in persönliche Gesundheitsdaten.

Das sollte uns an ein anderes Phänomen erinnern, das noch vor wenigen Jahren als Rechtfertigung für Überwachungsmaßnahmen diente: Terror. Auch da fungierte die Angst als Motiv für die Aufgabe von Privatheit gegenüber dem Staat. Doch auch nachdem die Terrorgefahr erheblich zurückging, blieben die gesetzlichen Eingriffe aufrecht. Der "Patriot Act" etwa, der im Monat nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA beschlossen wurde, wurde in den wesentlichen Teilen bis heute verlängert.

Covid-19 scheint fast jede Einschränkung zu rechtfertigen

Dazu kommt, dass die Voraussetzungen für die Einführung autoritärer Maßnahmen so gut sind wie schon lange nicht. Schon vor der Corona-Krise hat das steigende Unsicherheitsgefühl großer Teile der Gesellschaft angesichts der globalen Verwerfungen auch im Westen antiliberale Tendenzen befördert und das Vertrauen in die Demokratie mit ihren konsensorientierten und damit entscheidungsschwach wirkenden Mechanismen geschwächt.

Plötzlich taucht mit Covid-19 ein Feind auf, der bedrohlich genug scheint, um - fast - jeden Eingriff in die bürgerlichen Freiheiten und jede Einschränkung der Demokratie zu rechtfertigen.

Der Bestsellerautor Yuval Harari ("Eine kurze Geschichte der Menschheit","Homo Deus","21 Lektionen für das 21. Jahrhundert") wähnt in einem aktuellen Essay für die "Financial Times" in seiner Heimat Israel unter diesen Umständen bereits "die erste Coronavirus-Diktatur" im Entstehen (siehe auch den Essay von Rosemarie Schwaiger). Tatsächlich hat die Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu so weitreichende Maßnahmen gegen die Epidemie verhängt wie sonst nur China. Unter anderem ließ Netanjahu den Inlandsgeheimdienst Shin Beth per Handy-Daten nach Infizierten fahnden und diese zwangsweise in Quarantäne stecken. Die Technologie dazu kommt aus der Terrorbekämpfung und ist in Israel dementsprechend ausgereift und in der Bevölkerung gut beleumundet.

Dennoch folgten heftige Proteste von Opposition und Bürgerrechtsgruppen. Im Parlament konnte allerdings nicht darüber debattiert werden -dessen Präsident, ein Parteifreund Netanjahus, ließ eine am Tag darauf stattfindende Sitzung nach wenigen Minuten schließen. Begründung: das Corona-Virus.

Ungarn ohne parlamentarische Kontrolle

In Ungarn arbeitet Ministerpräsident Viktor Orbán seit Langem an einem Umbau des politischen Systems, indem er Medienlandschaft und Justiz nach seinen Bedürfnissen zurechtstutzt. Folgerichtig soll das Parlament in Budapest Anfang dieser Woche eine Art Ermächtigungsgesetz billigen, das den Rechtspopulisten mit nahezu unbeschränkten Vollmachten ausstattet. (Anmerkung: Dieses Gesetz wurde mittlerweile beschlossen) Orbán könnte dann auf unbegrenzte Zeit und ohne parlamentarische Kontrolle auf dem Verordnungsweg regieren.

Explizit besagt das Sondergesetz, dass die Regierung von geltenden Gesetzen abweichen, die Anwendung einzelner Gesetze suspendieren und sonstige außerordentliche Maßnahmen treffen kann. Die Ermächtigung bezieht sich nicht nur auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie, sondern auch auf die Bewältigung ihrer Folgen - was Jahre dauern könnte.

Das Gesetz verschärft die Strafen für das Verbreiten von Falschnachrichten - was angesichts einer potenziell tödlichen Krankheit nicht gänzlich abwegig ist. Allerdings ist die Definition des Straftatbestandes seltsam weit gedehnt. So fällt auch die Veröffentlichung wahrer Tatsachen darunter, wenn sie in einer Weise erfolgt, die dazu angetan ist, "größere Gruppe von Menschen zu beunruhigen". Dafür droht Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren. So könnte etwa ein wahrer Medienbericht über einen Mangel an Beatmungsgeräten in den Krankenhäusern viele Menschen beunruhigen - und deshalb seinen Autor ins Gefängnis bringen.

Was ist die Alternative zum Überwachungsstaat?

Ist die Angst vor der Pandemie so groß, dass die Bevölkerung bereit ist, solche Einschnitte in ihre Rechte zu akzeptieren? Oder vielleicht sollte man besser fragen: Kann man der Bevölkerung so große Angst einjagen, dass sie bereit ist, dergleichen zu akzeptieren?

Was ist die Alternative zum Überwachungsstaat, der uns vor Infektionen, Terror und anderen Übeln schützt? Bestsellerautor Harari stellt der "totalitären Überwachung" die "Ermächtigung der Bürger" gegenüber. Diese beruht darauf, dass jeder Einzelne aus Eigenverantwortung handelt und etwa seine Erkrankung meldet, sich in Selbstisolation begibt und die Regeln befolgt, die auf Basis des Expertenwissens von Regierung und Behörden ausgearbeitet werden. Warum sollten Menschen so agieren? Weil sie einsehen, dass es das Beste ist und weil von vornherein klar ist, dass ihnen daraus kein Schaden entsteht.

Einzelne Vorkommnisse von "Coronavirus-Partys" mögen befürchten lassen, dass unbelehrbare Idioten dieses Konzept zunichtemachen, doch die statistische Wahrheit zeigt in Österreich, dass die allermeisten Bürger sich an die Regeln halten, ohne dass Militär in den Straßen patrouilliert oder eine App die Körpertemperatur jedes Einzelnen ans Gesundheitsministerium übermittelt.

Wenn die Kompetenz der führenden Experten und Politiker des Landes Vertrauen schafft, kann das funktionieren.

Trump und seine Ja-Sager

Dummerweise bringen Demokratien nicht immer Leute an die Spitze, die diesen Kriterien entsprechen. US-Präsident Donald Trump etwa verkündet permanent unsinnige und einander widersprechende Einschätzungen zur Pandemie. Erst beschwichtigte er, die Gefahr sei "unter Kontrolle", dann brüstete er sich, er habe die Pandemie lange vorhergesagt, und vergangene Woche stellte er in Aussicht, die Ausgangsbeschränkungen "nach Ostern" aufheben zu wollen, obwohl bisher nichts auf eine Entspannung der Lage hindeutet.

In einem Artikel im US-Magazin "Foreign Affairs" kritisiert Daron Acemoğlu , Professor für Ökonomie am renommierten Massachusetts Institute of Technology , dass Trumps Feindseligkeit gegenüber unabhängiger Expertise zum Ausscheiden vieler Fachleute aus dem Behördenapparat geführt habe. Ersetzt worden seien sie durch Ja-Sager. Das sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass die USA unter dem aktuellen Präsidenten in eine autoritäre Richtung steuerten, so der MIT-Professor.

Fieberthermometer-App und Zäpfchen

Es ist verdammt notwendig, in einer Ausnahmesituation wie der aktuellen wachsam gegenüber bedenklichen und potenziell gefährlichen Aushöhlungen von Bürgerrechten zu sein. Gleichzeitig ist auch klar, dass eine einzelne Maßnahme noch keinen autoritären Staat ausmacht (ebenso wie die bloße Abhaltung von Wahlen noch nicht zwangsläufig Demokratie bedeutet, wenn es keine Gewaltenteilung, freie Medien, Oppositionsparteien usw. gibt).

Wir können akzeptieren, auf noch unbestimmte Zeit kaum das Haus verlassen zu dürfen, weil wir kollektiv eingesehen haben, dass es im Moment das Beste für uns ist. Aber nur, solange wir von unserem Recht Gebrauch machen können, uns öffentlich dagegen auszusprechen, wenn wir davon nicht mehr überzeugt sind. Und wer glaubt, man könne Bürger in einer Demokratie permanent per Fieberthermometer-App kontrollieren, braucht dringend ein Zäpfchen. Aber wird das auch so bleiben?