Im kleinen Dorf von Tal Shoham ist jedes Auto mit demselben Plakat beklebt. Es zeigt das Konterfei eines lächelnden 39-Jährigen in khakifarbenem T-Shirt. Daneben steht: „Tal Shoham, kommt nach Hause. Du bist nicht allein.“
Seit 15 Monaten hofft das kleine Dorf im Norden Israels, dass Shoham eines Tages sein Haus wieder beziehen wird. Im Oktober 2023 hatte er es nichts ahnend mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern verlassen, um über die Feiertage zu den Schwiegereltern in den Kibbuz Beeri im Süden Israels zu fahren. Dann kam der 7. Oktober 2023, der wohl dunkelste Tag in der Geschichte des jüdischen Staates. Bewaffnete der radikal islamistischen Terrororganisation Hamas überfielen Israel, brannten Häuser nieder und vergewaltigten Frauen, töteten insgesamt 1200 Menschen und nahmen 251 als Geiseln. Darunter auch Tal Shoham und zehn weitere Mitglieder seiner Familie.
Seine Frau Adi, 39, die Tochter Yahel, vier, und der neun Jahre alte Sohn Naveh sind seit November 2023 wieder zurück in Freiheit. Von ihrem Vater fehlt jede Spur. In den Tagen vor seiner möglichen Freilassung weiß niemand, ob er überhaupt noch lebt. Tal Shoham hat neben der israelischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft, weil seine Großmutter einst vor den Nazis aus Wien flüchtete. profil hat seit Beginn des Krieges in Gaza immer wieder über das Schicksal seiner Familie berichtet. „Solange Tal nicht zurück ist, können wir nicht verarbeiten, was passiert ist“, sagte seine Schwägerin Shaked Haran im Juni bei einem Besuch in Wien gegenüber profil. Und: „Wir wollen einfach nur die Tür hinter uns schließen und Luft holen.“
profil hat nach dem 7. Oktober 2023 immer wieder über das Schicksal der Familie von Tal Shoham berichtet. Seine Schwägerin Shaked Haran (siehe Cover) war 2023 Mensch des Jahres dieses Magazins. Sie brachte kurz nach der Freilassung ihrer Mutter und Schwester aus Hamas-Gefangenschaft ihre Tochter zur Welt. Tal Shoham, ihr Schwager, blieb weiterhin in Hamas-Gefangenschaft. Jetzt steht sein Name auf der Liste für die ersten Freilassungen, die am Sonntag beginnen könnten.
Durchbruch beim Deal
Monatelang hatte es immer wieder geheißen, die Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln stünden vor einem Durchbruch, nie war es tatsächlich zu einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss gekommen. Plötzlich, vergangenen Mittwoch, schien es geklappt zu haben. Verhandler berichteten von einer Einigung, und sowohl die Hamas als auch Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bestätigten den Deal. Dieser wurde schließlich sogar im Wortlaut veröffentlicht, inklusive der Liste von 33 Namen von Geiseln, die als erste freikommen sollen. Bereits an diesem Sonntag würden fünf israelische Soldatinnen aus der Geiselhaft nach Israel entlassen, hieß es. Auch Tal Shohams Name steht auf dieser Liste.
„Seit über 460 Tagen wird Tal gefangen gehalten. Unser Leben befindet sich daher weiterhin in einer emotionalen Hochschaubahn zwischen Hoffnung, Angst und Qual. Ein Zustand, der sich erst lösen wird, wenn wir Tal endlich wieder in die Arme schließen können“, schreibt seine Familie in einem Statement.
Die Hoffnungen sind groß, viele fragen sich: Ist das der Anfang vom Ende des Krieges in Gaza, der Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben gekostet und auf der anderen Seite israelische Familien wie die von Tal Shoham auseinandergerissen hat?
Die drei Phasen
Vorgesehen ist ein Plan in drei Etappen. In einer ersten, sechs Wochen andauernden Phase, sollen nach und nach 33 der laut israelischen Angaben 98 im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln freikommen, darunter alle Frauen und Kinder sowie Männer über 50 Jahre. Männer, die krank beziehungsweise verletzt sind, wurden priorisiert. Tal Shoham fällt in diese Kategorie und dürfte es so auf die Liste geschafft haben, obwohl er erst 39 Jahre alt ist. Die Angelegenheit könnte sich in die Länge ziehen, die Geiseln nicht alle gleichzeitig, sondern in kleinen Gruppen freikommen.
Im Gegenzug ist geplant, Hunderte Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freizulassen. In der ersten Phase soll eine vollständige Waffenruhe gelten, die israelischen Streitkräfte sollen sich aus den dicht besiedelten Gebieten Gazas zurückziehen, damit die Bewohner zurückkehren können. Auch der Weg für Hilfslieferungen soll freigemacht werden.
Gleichzeitig sind Verhandlungen zu einem dauerhaften Ende der Kämpfe geplant. In Kraft treten soll das in einer zweiten Phase, in der alle restlichen Geiseln freigelassen werden. Im Gegenzug soll sich das israelische Heer komplett aus dem Gazastreifen zurückziehen.
In der dritten und letzten Phase sollen die Leichen aller getöteten israelischen Geiseln an ihre Familien zurückgegeben werden. Geplant ist auch, dann mit dem Wiederaufbau im Gazastreifen zu beginnen. Dabei könnten die Europäische Union, Katar, Ägypten und die Vereinten Nationen eine wesentliche Rolle spielen.
Widerstand gegen das Abkommen
Doch plötzlich, am Donnerstag, formiert sich Widerstand gegen das Abkommen. Wie erwartet opponiert Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir gegen einen Waffenstillstand, aber auch Finanzminister Bezalel Smotrich, den Premier Netanjahu an Bord halten wollte, droht mit dem Austritt aus der Koalition. Daraufhin wird die entscheidende Abstimmung der Regierung über den Deal verschoben. Das Abkommen hängt wieder in der Luft.
Smotrich verlangt das Zugeständnis, dass der Krieg gegen die Hamas nach den Geiselfreilassungen der ersten Phase wieder aufgenommen werde. Damit jedoch verstieße Israel vorsätzlich gegen die Vereinbarung.
Stunden vergehen, und Meldungen tauchen auf, wonach die Hamas ihrerseits versuche, Details des Abkommens nachträglich zu verändern. Die Terrororganisation dementiert.
Die US-Regierung zeigt sich Donnerstagnachmittag „zuversichtlich“, dass der Deal halten werde. Tatsächlich haben beide Administrationen – die ausgehende unter Präsident Joe Biden und die kommende unter dem designierten Präsidenten Donald Trump – ihr politisches Gewicht für das Zustandekommen des Abkommens in die Waagschale geworfen.
Freitag, 17. Jänner: Die Einigung ist erzielt
Donald Trumps designierter Sondergesandter Steve Witkoff, ein jüdischer Immobilieninvestor aus New York, dürfte Netanjahu am vorvergangenen Wochenende zu einem Kompromiss gedrängt haben. Israels Regierungschef ist vom künftigen US-Präsidenten Trump abhängig – nicht nur, was die Waffenlieferungen betrifft. Auch beim angestrebten Friedensschluss mit Saudi-Arabien braucht Netanjahu Trumps Unterstützung. Und den Siedlungsbau im Westjordanland müssen die USA zumindest stillschweigend dulden.
Die Patt-Situation ist lähmend. Noch nie waren die Angehörigen der Geiseln dem erlösenden Deal näher gewesen. Dasselbe gilt für die Bevölkerung in Gaza, die auf die Nachrichten des Abkommens bereits mit Freudenbekundungen reagiert hatte.
Vor dem israelischen Parlament, der Knesset, demonstrierten Anhänger rechtsradikaler Parteien gegen das Abkommen. Auf dem sogenannten Hostage Square, dem Geiselplatz in Tel Aviv, versammelten sich Angehörige der Geiseln und hofften.
Am Freitag meldete das Büro von Netanjahu schließlich eine Einigung. Das israelische Sicherheitskabinett hat dem Abkommen mit der Hamas bereits zugestimmt. Nun muss die Vereinbarung nur noch vom Regierungskabinett abgesegnet wird. Da auch hier eine Zustimmung erwartet wird, könnten am Sonntag die ersten Geiseln freikommen.
Damit wächst die Chance, dass auch Tal Shoham unter ihnen sein könnte. Und dass er in sein Dorf zurückkehrt, wo alle auf ihn warten.