Das “Depp vs. Heard”-Dilemma: Was lernen wir daraus?
Im Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt, lautet eine alte Floskel, die zwar gut klingt, aber leider nicht besonders klug ist. Aktuelles Beispiel: Sechs Wochen lang lieferten sich die Hollywood-Stars Johnny Depp (58) und Amber Heard (36) vor einem US-Gericht eine veritable Schlammschlacht - und das vor den Augen der Social-Media-Weltöffentlichkeit. Von beiden Seiten hagelte es schwere Vorwürfe. Es ging um “häusliche Gewalt” und “sexuelle Gewalt”, um Falschaussagen und toxische Beziehungsmuster. Jetzt hat die Jury in dem Verleumdungsprozess ein Urteil gefällt. Die Geschworenen haben Depp in allen Anklagepunkten recht gegeben, und weil die Sache bei den Ex-Eheleuten durchaus kompliziert ist, bekommt auch Heard ein bisschen recht. In Zahlen: Depp wurden 10 Millionen US-Dollar Schadenersatz zugesprochen, Heard nur zwei. Für Depp, der kurz vor der Verkündung bereits siegessicher Konzerte mit dem Musiker Jeff Beck spielte, ist das Urteil ein großer Sieg (“Die Jury hat mir mein Leben wiedergegeben”, ließ er sich zitieren), für Amber Heard eine herbe Niederlage (“Die Uhr wird zurückgedreht zu einer Zeit, in der eine Frau, die für sich einsteht, gedemütigt und bloßgestellt wird.”). Tatsächlich war das Urteil der Weltöffentlichkeit längst gefällt - die Juryentscheidung nur noch Formsache: Er ist das Opfer, sie ist die Lügnerin, so der weitverbreitete Tenor. Aus den vielen Grauschattierungen dieser wohl tatsächlich toxischen und gewaltbereiten Beziehung wurde ein Schwarz-Weiß-Bild, aus #MeToo #MenToo.
Was bedeutet dieser öffentliche Prozess nun für künftige, ähnliche Fälle? Werden Frauen, die Opfer von Gewalterfahrungen wurden, jetzt lieber nicht mehr den Schritt in die Öffentlichkeit wagen, um mögliche Verleumdungsklagen zu vermeiden? Es ist zu befürchten. Und das ist fatal. Meine Kollegin Angelika Hager schreibt in ihrer Analyse “Richtig Krach machen” für die neue profil-Ausgabe, die sich schwerpunktmäßig dem Thema “Streit” widmet, Folgendes: “Die Hexenjagd auf Heard wird von vielen Feministinnen zu Recht als deutlicher Backlash in Richtung alte Klischees empfunden. Diese apokalyptische Konstellation, in der die Täter- und Opferrollen in ständigem Wechselspiel stehen, ist gewissermaßen die Cinemascope-Variante eines Beziehungskonstrukts, das auch in zahlreichen Selbsthilfegruppen in den sozialen Medien durchexerziert wird.”
Wie kommen wir also raus aus diesem Dilemma? Wie lernen wir, über häusliche und verbale Gewalt, über emotionale Kränkungen und toxische Beziehungen zu sprechen, ohne Angst vor den Konsequenzen zu haben? Hager zitiert in ihrem Text die deutsche Feministin Meredith Haaf, die in ihrem Buch “Streit!” dazu ermuntert, eine Auseinandersetzung “als notwendigen Akt gegenseitiger Anerkennung zu begreifen” und nicht bloß als einen weiteren Angriff zu sehen. Man könnte auch sagen: Streiten Sie weiter, bleiben Sie aber konstruktiv! Und was machen wir? Wir streiten. Und Sie können das in unserem neuen Format “Streiten wir!” ab sofort Woche für Woche mitverfolgen. In hitzigen Debatten, in scharfen Analysen und feinen Meinungsstücken gehen wir aktuellen Themen auf den Grund – klassisch profil eben. Sie wollen sich beteiligen oder ein Streit-Thema anregen? Schreiben Sie uns gerne an [email protected].
Einen erbaulichen Start ins verlängerte Wochenende wünscht
Philip Dulle