Jahresausgabe

Das einflussreichste Buch, von dem Sie noch nie etwas gehört haben

Würden Sie einen Roman lesen wollen, den Marine Le Pen, Stephen Bannon und Viktor Orbán empfehlen? Und der anschaulich macht, was Rechte angesichts einer Flüchtlingskrise empfinden? Wahrscheinlich nicht. Robert Treichler erzählt Ihnen, was Sie versäumen.

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Im Jahr 1986 nahm eine junge Frau ein Buch zur Hand, von dem ihr Vater begeistert war. Sie war 18 Jahre alt, und der Roman beeindruckte sie so nachhaltig, dass sie ihn im Jahr 2012 erneut las. Sie war inzwischen 44, hatte Karriere als Politikerin gemacht und wollte Staatspräsidentin werden. Ihr Name: Marine Le Pen, Vorsitzende der französischen Rechtsaußen-Partei "Nationale Versammlung" (Rassemblement National; davor: Front National).Der Roman begleitet Le Pen bis heute, in einem TV-Interview sagte sie: "Das Buch, das mich stark geprägt hat, ist 'Das Heerlager der Heiligen' von Jean Raspail. Man muss dieses Buch lesen."

Im Jahr 2015 verfasste Stephen Bannon, der damalige Chefredakteur des rechtspopulistischen Online-Nachrichtenmediums "Breitbart" und spätere Chefstratege von US-Präsident Donald Trump, einen Kommentar über die Flüchtlingskrise in Europa, die gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte. Bannon beschrieb die Vorgänge mithilfe einer literarischen Referenz: "Es handelt sich um eine Invasion nach Zentral-,West-und Nordeuropa, beinahe im Stil von 'Das Heerlager der Heiligen'".

2018 zählte der Chef der flämischen, rechtsnationalen Partei Vlaams Belang, Tom Van Grieken, in einem Interview mit der flämischen Rundfunkanstalt "VRT" die fünf Bücher auf, die ihm am wichtigsten sind. Eines davon habe er bei einem Besuch der italienischen Flüchtlingsinsel Lampedusa mitgenommen, erzählt Van Grieken: "Das Heerlager der Heiligen".

Im Juli dieses Jahres hielt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im von ethnischen Ungarn bewohnten rumänischen Kurort Băile Tușnad eine Rede, in der er seine Zukunftsvision für das Jahr 2030 skizzierte. Dabei zeichnete er ein düsteres Bild der "westlichen Zivilisation im Niedergang", die vor allem durch Migration ihre christlich-nationalen Wurzeln verloren habe. Um diesen Verfall besser zu verstehen, empfahl er den Tausenden Zuhörern ein Buch: "Das Heerlager der Heiligen".

Das Prophetische an "Das Heerlager der Heiligen" ist, dass Raspail darin das Weltbild der Neuen Rechten bis ins Detail vorgezeichnet hat.

Was hat es mit diesem Roman auf sich? Er taucht in keiner Liste der bedeutenden Werke der Weltliteratur auf, und als 2015 eine Neuübersetzung ins Deutsche erschien, war es keiner der großen Publikumsverlage, der sich des Romans angenommen hatte, sondern der Verlag Antaios, geleitet von Götz Kubitschek, einem Vertreter der Neuen Rechten, der bei rassistischen Pegida-Demonstrationen auftrat und ideologisch im Dunstkreis der Identitären Bewegung und der Alternative für Deutschland (AfD) beheimatet ist. Der Verlag Antaios wurde 2021 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall für Rechtsextremismus eingestuft.

Doch "Das Heerlager der Heiligen" ist zu wirkmächtig, um es zu ignorieren. Romane können das Denken und die Gefühle ihrer Leserschaft gestalten und dazu beitragen, den Zeitgeist zu formen, und genau das tut dieses Buch seit einem halben Jahrhundert. In den Augen vieler Rechter ist "Das Heerlager der Heiligen" der Offenbarungstext unserer Zeit. Der Roman erschien im französischen Original("Le Camp des Saints") im Jahr 1973. Der Autor, Jean Raspail, geboren 1925, war ein mäßig bekannter Verfasser von Reisereportagen. Er hatte zwei Jahre zuvor an der Côte d'Azur geurlaubt, und dabei war ihm der Plot für eine Geschichte eingefallen: Was wäre, wenn plötzlich die Armen der Dritten Welt auf Schiffen an der französischen Mittelmeerküste anlandeten, um ein besseres Leben zu finden?

Zu dieser Zeit war das Thema Migration politisch nicht so aufgeladen wie heute. Noch versuchten reiche europäische Länder, ausländische Arbeitskräfte ("Gastarbeiter") anzulocken. Doch Jean Raspail schwebte ein ganz anderes Szenario vor.

Ein alter Professor traut seinen Augen nicht, als eines Tages, es ist ein Karsamstag, eine riesige Flotte verrosteter Schiffe an der Küste vor seinem Haus auf Grund läuft. Der Rundfunk meldet die unglaubliche Zahl von 100 Wracks, und der Professor versucht zu errechnen, wie viele Menschen auf ihnen angereist sind. Er kommt auf die Zahl von 800.000. Das ist die Ausgangssituation des Romans. Raspails Idee einer Dystopie der ungehinderten Massenmigration nach Europa gilt der Neuen Rechten als Prophezeiung, die in den Jahrzehnten nach Erscheinen des Buches eingetreten ist-und sich dauernd wiederholt.

Das wahrhaft Prophetische an "Das Heerlager der Heiligen" ist, dass Raspail das aktuelle Weltbild der Neuen Rechten bis ins Detail vorgezeichnet hat. Es beginnt mit der Benennung der Migranten als "Feinde", "Horde" und "Invasoren", deren Auftauchen apokalyptische Ängste auslöst. Die einheimische Bevölkerung flieht, weil sie Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde durch die Fremden befürchtet. Dieser Teil der Darstellung überrascht nicht, Rassismus war auch in den 1970er-Jahren kein unbekanntes Phänomen.

Doch Raspail zeichnet in seinem Buch ein vollständiges Panoptikum aller Institutionen, die den Rechten heute so verhasst sind: Die "Hure der Massenmedien", die vor lauter ideologischer Verblendung mit "gebügelten Silberzungen" die Wahrheit manipuliert, Fakten verschweigt und die Migrationskrise schönredet; opportunistische Politiker, die einem Einheitsdenken frönen, um sich vor der öffentlichen Meinung nicht verdächtig zu machen; der "Pöbel", der zu ausländerfreundlichen Lichtermärschen verleitet wird, "die den Volkswillen bekunden sollen"; nur auf ihren Eigennutz bedachte Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Migration auch noch befördern; der Vatikan, der die Selbstaufgabe des Christentums betreibt...

All das führt in Raspails Weltbild unausweichlich zur Auslöschung des christlichen Abendlandes und zur "Gefährdung der weißen Rasse, die tragischerweise zur Minderheit auf diesem Planeten schrumpft". Die Welt sei "einem neuen, apokalyptischen Tier unterworfen, einem anonymen, allgegenwärtigen Ungeheuer, das sich irgendwann, vor langer Zeit, geschworen hat, das Abendland zu zerstören", lässt Raspail die Erzählstimme düster erahnen. Dazu erfindet er mythische Elemente wie eine "blinde Missgeburt", die auf den Schultern des Kapitäns eines der Migrantenschiffe sitzt.

Die Geschichte steuert auf ein Szenario zu, das heute von Rechten als logische Konsequenz von Migration behauptet wird: den "Bevölkerungsaustausch". Menschen aus einer anderen Kultur (bei Raspail sind es Inder) vertreiben weiße, christliche Europäer (in diesem Fall Franzosen).

Raspail macht deutlich, dass er einen Ausweg sieht, um das zu verhindern: Gewalt. Er führt Australien als Beispiel an, das den Flüchtlingsschiffen mit Waffen droht und von der "Invasion" verschont bleibt, während in Frankreich Armee und Polizei am Ende desertieren. Nur eine kleine Gruppe verschanzt sich in einem Dorf in den Bergen über Nizza und erschießt jeden, der sich ihr nähert.

"Das Heerlager der Heiligen" ist ein abstoßendes Buch, dessen literarische Qualität allerdings immerhin ausreicht, um in Frankreich bis heute vom renommierten Verlag Robert Laffont verlegt zu werden.

Und Jean Raspail? Der Autor wurde 2003 von der Académie Française für sein viele Romane umfassendes Gesamtwerk mit dem Großen Preis für Literatur ausgezeichnet und starb 2020 in Paris. Wusste er um den hetzerischen Effekt seines Buches? Ja, und er beförderte ihn.

Für die Neuauflage im Jahr 2011 verfasste Raspail ein Vorwort, in dem er sich brüstet, dass sein Buch auf Basis der aktuellen Gesetzgebung längst verboten wäre und nur deshalb erscheinen darf, weil diese nicht auf bereits veröffentlichte Werke anwendbar sei. In dem Vorwort schwadroniert er von einer Verschwörung, die er "Big Other" nennt und die die Auslöschung der einheimischen Bevölkerung betreibe. Jean Raspail war Teil des Weltbildes, das er im Roman entwarf.

Ironischerweise beschreibt Raspail im Vorwort zu seinem Buch unbewusst seinen größten Irrtum. Er erzählt, dass in einer Februarnacht 2001 exakt an dem Ort an der Côte d'Azur, an dem er in den 1970er-Jahren "Das Heerlager der Heiligen" schrieb, ein Frachtschiff mit rund 1000 Kurden anlandete, und Raspail fühlt sich durch dieses Ereignis in seinen wüsten Warnungen bestätigt.

Dass weder diese 1000 Kurden noch all die anderen Migranten einen "Bevölkerungsaustausch" bewirken, weil Bevölkerungen sich zwar nach unterschiedlichen Kriterien-langsam-verändern, aber einander nicht "austauschen", konnte Jean Raspail nicht kapieren. Und all seine Anhänger auch nicht.

Aber was "Das Heerlager der Heiligen" in ihren Köpfen ausgelöst hat, ist eine politische Realität, die Europa noch lange beschäftigen wird. Übrigens, falls es noch nötig ist: keine Leseempfehlung .

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur