In der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg befindet sich ein Archiv mit mehr als 1,7 Millionen Karteikarten.

Prozesse gegen NS-Täter: Das Ende der Nazi-Jäger

Die Nazi-Jäger im deutschen Ludwigsburg forschen seit 60 Jahren NS-Verbrecher aus. Jetzt sitzen in den allerletzten Prozessen 90- bis 100-Jährige auf der Anklagebank. Was bringt die späte Anklage?

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Es ist still im Saal des Landesgerichts Itzehoe bei Hamburg. Am Freitag vorvergangener Woche sollte der Prozess gegen eine ehemalige Sekretärin im Vernichtungslager Stutthof bei Danzig beginnen. Doch nun erscheint der vorsitzende Richter ohne Robe auf der Bank. „Die Angeklagte ist flüchtig“, sagt Dominik Groß, „die Kammer hat Haftbefehl erlassen.“

Die Flüchtige heißt Irmgard F. und ist 96 Jahre alt. In einer zum Gerichtssaal umfunktionierten Industrielagerhalle sollte sie sich für Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in 11.412 Fällen sowie für Beihilfe zum versuchten Mord in 18 weiteren Fällen verantworten. Doch F. verließ ihr Seniorenheim in aller Früh und ließ sich von einem Taxi zur U-Bahn fahren. Danach verlor sich ihre Spur. Und so fahndete die Polizei nach einer fast 100-Jährigen mit Rollator, um sie in den Gerichtssaal zu bringen.

Der Fall hat einmal mehr für Aufregung über Prozesse gegen greise NS-Täter gesorgt. Soll man sie nach all den Jahren wirklich noch belangen? Geht es um späte Gerechtigkeit, um Genugtuung, um Aufarbeitung? Die Frage ist auch, welche Rolle die „kleinen Rädchen“ in der Mordmaschinerie des NS-Regimes überhaupt gespielt haben. Rund 65.000 Menschen haben die Nazis in Stutthof ermordet. Sie wurden mit einer Genickschussanlage getötet, vergast, vergiftet, gefoltert und zu Tode gequält. Hat sich Irmgard F. zur Mittäterin gemacht?

Für eine Verurteilung muss erst bewiesen werden, dass die damals 19-Jährige von der Grausamkeit und Heimtücke gewusst hat, die bei der Ermordung der Menschen in Stutthof vorlagen, betont F.s Anwalt Wolf Molkentin im Interview mit dem „Spiegel“. Ist dem nicht so, dann bleibt nur Beihilfe zum Totschlag – was längst verjährt wäre.

Mehr als 120 Verfahren gegen ehemalige NS-Angehörige wurden in den vergangenen zehn Jahren an deutsche Staatsanwaltschaften weitergegeben. Ausgeforscht hat die mutmaßlichen Täterinnen und Täter, darunter auch Irmgard F., die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. Hier, in Baden-Württemberg, sitzen die letzten „Nazi-Jäger“. Viel Zeit bleibt ihnen nicht: Wer damals alt genug war, um für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist heute 90 bis 100 Jahre alt.

Wer die Zentrale Stelle besucht, muss durch ein eisernes Tor in einer Mauer und dann im Gebäude durch eine Sicherheitsschleuse. Das Haus, vor der Gründung der Zentralen Stelle ein Frauengefängnis, ist bis heute gut gesichert. Hier befinden sich das Archiv mit mehr als 1,7 Millionen Karteikarten – geordnet nach Personen und Tatorten – sowie 800 Regalmeter Akten. Mehr als 700.000 Namen von Beschuldigten und Zeugen finden sich darin. Die Ermittler von Ludwigsburg nutzen Geburtsdaten und Melderegister, um potenzielle Täter ausfindig zu machen. Längst geht es nicht mehr um die großen NS-Verbrecher, denn sie sind seit Jahren tot. Angeklagt werden heute die Mitmacher und Zuschauer. Köche und Sekretärinnen, Wachmänner und Buchhalter, Lkw-Fahrer und Zugführer.

Oberstaatsanwalt Thomas Will sucht sie bis heute. Der 61-Jährige befasst sich in der Zentralen Stelle seit 2003 mit der Frage, ob Wachen und anderes Personal aus den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten juristisch belangt werden können. Als Ermittler besuchte er etliche ehemalige KZ, recherchierte in den Archiven Russlands, Großbritanniens und Italiens. Seit einem Jahr leitet er die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Als Nazi-Jäger wollen Will und seine Kollegen nicht bezeichnet werden. Sie sehen sich als Ermittler, die Taten aufklären und sie juristisch aufarbeiten, egal, wie lange es her ist.

Will erzählt lange über die Geschichte der Nazi-Prozesse in Deutschland. Geduldig erklärt er – wenn nötig auch wütenden Bürgern am Telefon –, wieso eine strafrechtliche Verfolgung der Täter auch heute noch nötig ist.

Kinder von Beschuldigten werfen der Justiz vor, die lange verpasste Vergangenheitsbewältigung nun auf Kosten ihrer betagten Eltern auszutragen. Tatsächlich liegt es an der Rechtsauffassung, dass sie nicht schon viel früher vor Gericht landeten.

Die Alliierten erklärten bereits 1943 ihre Absicht, die Grausamkeiten des NS-Regimes zu ahnden. Nach der Befreiung Europas gab es die ersten Prozesse vor Militärgerichten. Die Verfahren des internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg in den Jahren 1945 bis 1948 brachten zahlreiche Todesstrafen gegen führende Nationalsozialisten und Wehrmachtsgeneräle. Doch manche wurden nicht vollstreckt, etliche in Freiheits- und später in Bewährungsstrafen umgewandelt. „Nach den Prozessen in den 1940er- und 1950er-Jahren dachte man, die Entnazifizierung sei zu Ende“, sagt Will. Deutschland habe einen Schlussstrich ziehen wollen.

Doch dann, Anfang 1958, taucht in Baden-Württemberg der ehemalige Befehlshaber eines SS-Einsatzkommandos auf. Ein Zeuge erkennt den Kriegsverbrecher und zeigt ihn an. „Am Ende wurden im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess zehn Angeklagte wegen der Ermordung von mehr als 5000 Jüdinnen und Juden verurteilt“, sagt Will. „Es ging nicht mehr, wie in den alliierten Prozessen zuvor, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern um tausendfachen Mord.“

Der Prozess sorgt für großes Medieninteresse und führt zu einer Wende im Umgang mit NS-Verbrechern. Der Öffentlichkeit wird bewusst, dass ein Großteil bislang ungestraft davongekommen ist und unklare Zuständigkeiten eine Aufarbeitung verhindert haben. Es ist die Geburtsstunde der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.

„Nicht alle haben das bejubelt“, sagt Will. Die Kompetenzen der neuen Behörde bleiben begrenzt: Sie hat weder Weisungsbefugnisse, noch kann sie selbst anklagen. Die Zentrale Stelle gibt ihre Erkenntnisse an Staatsanwaltschaften weiter. Ob Ermittlungen aufgenommen werden, liegt nicht in der Hand der Ludwigsburger Nazi-Jäger. Trotzdem werden rasch erste Erfolge erzielt.

Mitte der 1960er-Jahre arbeitet man in Ludwigsburg mit Hochdruck. Die Nazi-Jäger-Institution wird auf mehr als 120 Mitarbeiter aufgestockt, fast alles Männer. Die Zentrale Stelle ist eine verrauchte Behörde mit Zigarettenautomaten auf den Gängen. Damals debattiert Deutschland über die Verjährung. Eduard Dreher, ehemals Staatsanwalt unter den Nazis und in den 1960er-Jahren Beamter im Justizministerium, fügt 1968 bei einer Gesetzesreform eine unscheinbare Klausel ein. Sie sorgt dafür, dass Beihilfe zum Mord in einigen Fällen nach 15 Jahren verjährt. Die Verjährung soll ab 1969 einsetzen, wird dann aber verschoben und 1979 abgeschafft. Seither ist klar: Mord verjährt nicht.

Mittlerweile ermittelt die Behörde seit mehr als 60 Jahren. 18.661 Verfahren hat sie an die Staatsanwaltschaften und Gerichte weitergereicht oder ausgeforscht, immerhin noch fast 100 Fälle waren es von 2016 bis 2020. „Unser Kerngeschäft“, sagt Will, „sind nationalsozialistische Verbrechen durch Einsatzgruppen, in Konzentrationslagern und auch in Kriegsgefangenenlagern.“ Die Ermittler nähern sich den Tätern über sogenannte „Komplexe“: Sie sehen sich an, was an einem bestimmten Ort geschehen ist – und suchen dann nach Beteiligten, die damals älter als 18 Jahre waren und heute noch am Leben sein könnten.

„Wir haben für eine Verfolgung realistisch gesehen noch die Jahrgänge 1922 bis 1927, das sind jene, die wir noch lebend finden können.“

Thomas Will, Oberstaatsanwalt

Trotz zahlreicher Vorermittlungen wurden in den vergangenen zehn Jahren gerade einmal drei Beschuldigte verurteilt. Für Will ist das keine Niederlage: „Es geht weniger um die Strafen als um die Aufarbeitung, die so ein Prozess mit sich bringt.“
Durch lange Gänge und mit Linoleum überzogene Böden führt der Oberstaatsanwalt ins Archiv der Behörde. Hier liegen, in Schränken sortiert, mehr als 1,7 Millionen Karteikarten und die dazugehörigen Akten, darunter die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften. „Wir haben die Geschichte der Bundesrepublik ab 1958 abgebildet“, sagt Will. Auch, wenn die Täter häufig unbekannt bleiben: „Wir wissen, was geschehen ist.“

Aus den Erkenntnissen der Ermittler von Ludwigsburg lässt sich auch ablesen, wie sich die Rechtsprechung über die Jahrzehnte verändert hat. Als 1963 in Frankfurt bei den Auschwitz-Prozessen die ersten KZ-Täter vor Gericht gestellt wurden, verlangten die Richter nach konkreten Tatnachweisen. Dass der Hauptangeklagte Robert Mulka in Auschwitz für die Ermordung der Menschen verantwortlich war, reichte ihnen nicht für einen Schuldspruch. Am Ende machte es zwar keinen Unterschied: Mulka wurde aufgrund seiner Unterschrift auf Dokumenten über die Ankunft von Deportierten zu Beihilfe am Mord an einer gewissen Zahl an Menschen verurteilt und bekam eine lange Haftstrafe. Doch der Fall beeinflusste die Rechtsauffassung der kommenden Jahrzehnte: In Anklagen gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter wurde künftig stets der konkrete Tatnachweis gesucht.

Die große Wende begann 2007 und hat, so seltsam das klingen mag, mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA zu tun. Kurz davor hatte der in Deutschland lebende Marokkaner Mounir al-Motassadeq den Terroristen der al-Kaida Geld überwiesen. Verurteilt wurde er Anfang 2007 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Beihilfe zum Mord in 246 Fällen. Selbst geschossen oder Bomben gebastelt hatte al-Motassadeq nicht. Wenn das für islamistische Terroristen gilt, sagten sich damals viele aufklärungswillige Juristen, wieso nicht auch für Nazi-Kriegsverbrecher?

„Die Entscheidung des Bundesgerichts Hamburg hat uns genutzt“, sagt Will. Sie zeigte: Es kommt auf das Fördern einer Haupttat an. Es sind die Gehilfen, die ein System am Laufen halten.

Der Impuls für die neue Rechtsauslegung kam mit dem Fall Demjanjuk vor zehn Jahren. Das Verfahren gegen den gebürtigen Ukrainer wurde in der Zentralen Stelle vorbereitet und aufgebaut, die Ermittler gaben unzählige Ordner an die Staatsanwaltschaft München weiter. John Demjanjuk, Jahrgang 1920, war 1942 als Soldat der Roten Armee in einem Kriegsgefangenenlager interniert, als ihn die SS rekrutierte und als Wachmann in unterschiedlichen Vernichtungslagern einsetzte. Nach dem Krieg ging Demjanjuk in die USA, von wo aus er 1986 nach Israel ausgeliefert und zum Tode verurteilt wurde. Nachdem klar wurde, dass Demjanjuk mit einem Wachmann aus dem Vernichtungslager Treblinka verwechselt worden war, wurde das Urteil zwar aufgehoben, und er durfte zurück in die USA. Doch bei erneuten Ermittlungen kam heraus, dass er auch im Vernichtungslager Sobibor im Osten Polens eingesetzt gewesen war.

Die USA lieferten ihn erneut aus, diesmal nach Deutschland. In München wurde der damals 90-Jährige im Jahr 2011 zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt – wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen. Demjanjuk starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde. Doch der Fall führte dazu, dass auch andere Wachmänner angeklagt wurden – und zu einem neuen Umgang mit NS-Tätern: Wer sich an der systematischen Mordmaschinerie der Nationalsozialisten beteiligt hat, trägt Mitschuld und kann zur Verantwortung gezogen werden.

„Demjanjuk war für uns ein Anstoß“, sagt Will. „Wir haben uns gefragt, was das für die anderen Vernichtungslager bedeutet, und überprüft, wer noch am Leben ist.“ In einem nächsten Schritt sahen sich die Ermittler jene KZ an, die zwar nicht als Vernichtungslager deklariert waren, in denen aber auch systematisch getötet wurde. Seit dem Urteil gegen Demjanjuk hat die Zentrale Stelle auch an österreichische Staatsanwaltschaften Fälle von KZ-Bewachern abgegeben. Zur Anklage kam es nicht, alle fünf Verfahren wurden eingestellt.  

Mehr als 30 Fälle haben die Ermittler in Ludwigsburg im Jahr 2013 an die Staatsanwaltschaften weitergegeben. Darunter war auch der „Buchhalter von Auschwitz“ Oskar Gröning. Schon 2005, nach ausführlichen Medieninterviews mit Gröning, hatte die Zentrale Stelle die Staatsanwaltschaft Frankfurt um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen ersucht – ohne Erfolg. „Damals galten die Ermittlungen zu den Konzentrationslagern als abgeschlossen“, sagt Will. Doch nach dem Urteil gegen Demjanjuk wird doch Anklage gegen Gröning erhoben. Unter großem medialen Interesse wird der damals 94-Jährige 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Gröning stirbt, bevor er die Haft antreten kann.

Die Wachmänner der KZ, darüber besteht kaum Zweifel, mussten über den systematischen Mord in den Lagern Bescheid gewusst haben. Dass sie nun, so lange nach dem Krieg, angeklagt werden, das können viele Menschen nicht verstehen, am allerwenigsten die Täter selbst. Oskar Gröning fragte während des Verfahrens, wo das alles hinführen solle: Würden nun auch Lokführer und alle anderen Helfer angeklagt? „Ja, selbstverständlich“, sagt Staatsanwalt Will, „wenn sie zur Tat beigetragen haben. Es würde doch heute auch niemand sagen: Jemand, der Gefangene bewacht, die ermordet werden sollen, macht sich nicht mindestens als Gehilfe schuldig. Das widerspricht doch jedem vernünftigen Denken!“

Nach 1945 machte sich eine Art kollektive Verdrängung in Deutschland und Österreich breit: Was wir getan haben, war böse, aber damals nicht illegal und damit strafrechtlich auch heute nicht relevant. Beschuldigte behaupten häufig, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten ein Produkt von Befehlen und Gehorsam gewesen wären. Das bezeichnet Martin Cüppers als „reine Fiktion“. Der Historiker arbeitet seit 2005 in der Zentralen Stelle und ist seit 2014 deren wissenschaftlicher Leiter. Cüppers interessiert sich weniger für Abstraktes, der 55-Jährige erforscht den Alltag im Nationalsozialismus.

„Viel alltägliche Gewalt entstand aus persönlicher Initiative heraus“, sagt er, „aus dem Willen der Menschen zur Grausamkeit.“ Auch Wehrmachtsoldaten seien freiwillig zu Mördern geworden. Einige von ihnen hat die Zentrale Stelle ausgeforscht.

Aber was bringt es, 100-Jährige vor Gericht zu zerren? Für Juristen ist klar: Von einer Anklage abgesehen wird nur bei Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten.

In Österreich wurde dieser Punkt der Strafprozessordnung kaum umgesetzt. Während die BRD die Zentrale Stelle gründete, um nach dem Abzug der Alliierten selbst Prozesse ins Rollen zu bringen und dem Ausland die Bereitschaft zur Vergangenheitsbewältigung zu signalisieren, inszenierte man sich in Österreich als Opfer.

Die Volksgerichtsbarkeit, jene speziellen Schöffensenate, vor denen sich NS-Täter nach dem Krieg verantworten mussten, wurden 1955 abgeschafft. „Die halbherzige Entnazifizierung“, sagt der Wiener Historiker Hans Safrian, „war damit vorbei.“ Zwar forschte der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal etliche mutmaßliche NS-Verbrecher aus. Doch die Politik schätzte seine Bemühungen nicht, ganz im Gegenteil. Mehr als 600.000 Österreicher waren in der NSDAP gewesen und seit 1949 wieder wahlberechtigt – ein gewaltiges Stimmenreservoir, das keine Partei vergraulen wollte.

„In Österreich gab es eine Art Generalamnestie. Das ist der größte Unterschied zur BRD“, sagt Safrian. Die Täter von damals konnten sich wieder sicher fühlen. In Österreich gab es von 1955 bis 1975 gerade einmal 20 rechtskräftige Verurteilungen, zahlreiche Verfahren wurden eingestellt.

„Viele Mörder haben große Karrieren hingelegt“, sagt Safrian, „so wie Heinrich Gross, der durch den Mord an Kindern wirklich alle ethnischen Grundsätze gebrochen hat.“ Erst Ende der 1990er-Jahre wurden nach Recherchen der profil-Journalistin Marianne Enigl Ermittlungen gegen Gross eingeleitet. Er hatte als Leiter der „Kinderfachabteilung“ in der Wiener „Euthanasie-Klinik“ am Spiegelgrund behinderte Kinder gequält und ermordet.

Am Ende wurde ihm Verhandlungsunfähigkeit attestiert.

Auch in den Medien waren die NS-Verbrecher und mögliche Verfahren gegen sie kaum Thema: „profil war eines der wenigen Medien, das sich in den 1980er- und 1990er-Jahren eingehender damit befasst hat“, sagt Safrian.

Während es in Österreich Anfang der 1970er-Jahre die letzten Verurteilungen von NS-Verbrechern gab, finden in Deutschland jetzt erst die wohl letzten Prozesse überhaupt statt.

Zur Anklage kommt es auch heute in den wenigsten Fällen. Viele sterben während der Ermittlungen oder im Lauf des Prozesses. Die Haft angetreten hat nur ein einziger der in den vergangenen 15 Jahren Verurteilten. Die anderen wurden aus 
gesundheitlichen Gründen von der Haft verschont oder haben Bewährungsstrafen bekommen.

Hinzu kommt, dass viele Staatsanwälte oder Gerichte nicht willens scheinen, sich einen solchen Prozess anzutun. Häufig wird auf Zeit gespielt. Auch den Fall Irmgard F. hatte die Zentrale Stelle bereits vor Jahren an die Staatsanwaltschaft Itzehoe weitergereicht. Doch diese ließ viel Zeit verstreichen, bis sie einen Historiker für ein Gutachten beauftragte und Anklage erhob.

Eines hat Irmgard F. mit ihrer Flucht vor dem Prozess bewirkt: Das mediale Interesse an dem Fall ist dadurch noch einmal gestiegen. Die Ermittler dürften darüber nicht unglücklich sein. Ihnen geht es weniger um Strafen als um die Aufklärung der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Ähnlich formulieren es häufig die Zeugen, die vor Gericht gegen Täter aussagen. Der Prozess sei eine „Art von Genugtuung“, sagte etwa eine Überlebende von Auschwitz, die 49 Familienmitglieder im Holocaust verloren hatte, während des Prozesses gegen Oskar Gröning. „Es geht mir nicht um die Strafe, es geht mir um das Urteil, die Stellungnahme der Gesellschaft.“ Andere betonten, wie wichtig es sei, dass die Welt die Wahrheit erfahre.

Holocaust-Leugner finden sich bis heute. Täter und Zeugen aber wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Dann braucht es auch keine Ankläger mehr – und keine Nazi-Jäger. Thomas Will wird wohl der letzte Chef der Zentralen Stelle sein, seine 20 Mitarbeiter die letzten Ermittler. Ein paar Jahre noch, sagt er, dann ist wohl wirklich alles vorbei. „Vom letzten Prozess spricht man zwar seit Jahrzehnten. Jetzt befinden wir uns aber tatsächlich auf der Zielgeraden.“

Acht Verfahren gegen ehemalige Wachmänner von KZ und Kriegsgefangenenlager liegen aktuell bei den Staatsanwaltschaften. Gut möglich, dass es die letzten sein werden. Mit dem Tod der Täter geht eine wichtige Phase der Aufarbeitung zu Ende. Ludwigsburg aber soll bleiben – als Ort der Erinnerung und der Bildung.

Die Flucht der 96-jährigen Irmgard F. war nur von kurzer Dauer. Sie wurde gefasst, am 19. Oktober hat die Verhandlung begonnen. F. trägt jetzt eine Fußfessel.

Ihr Anwalt Wolf Molkentin hält es für vorstellbar, dass der Sekretärin die Codes der Nazis („Sonderbehandlung“ für die Ermordung von Menschen) tatsächlich nichts sagten, sie das volle Ausmaß des Grauens also nicht kannte. Der Jurist zeigt auch Verständnis dafür, dass betagte Angeklagte die Verfahren als Zumutung empfinden. Molkentin kann den späten Prozessen aber auch etwas Positives abgewinnen: „Es ließe sich die Chance ergreifen, sich am Ende des Lebens der Aufklärung eines dunklen Kapitels der eigenen Lebensgeschichte zu stellen“, schreibt der Anwalt in einem Mail an profil. Er persönlich befürworte die „letzten“ NS-Prozesse: „Besser spät als nie.“

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.