Das Manifest von Ventotene
Der Ort des gerade stattfindenden Mini-Gipfels der Regierungschefs der drei verbleibenden großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Italien war gut gewählt: Genau vor 75 Jahren verfassten drei italienische Politiker auf der Insel Ventotene im Golf von Neapel ein „Manifest für ein freies und geeintes Europa nach Überwindung des Faschismus“.
Die Autoren, Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni, waren damals Häftlinge von Mussolini in einem Gefängnis auf Ventotene, zwei Sozialdemokraten und ein Kommunist. Und als sie den Text, der teilweise auf Zigarettenpapier geschrieben wurde, mitten im Zweiten Weltkrieg entwarfen, war ein Sieg über den Faschismus noch keineswegs sicher und kaum jemand träumte damals von einem gemeinsamen Europa.
Die drei Autoren entwarfen ein Modell, das erschreckend aktuell ist, indem vor einem übertriebenen Nationalismus, der ständig für neue Kriege sorgte, gewarnt wird. „Es genügt, dass ein Staat einen Schritt in Richtung eines ausgeprägten Totalitarismus tut, damit alle anderen aus Überlebenswillen den selben Weg gehen“, heißt es mahnend. Daher müssten die nationalen Grenzen überwunden werden und die Macht der Nationalstaaten auf gemeinsame Institutionen übertragen werden. Bei den nationalen Regierungen sollten nur mehr beschränkte Kompetenzen wie etwa zur Bildung oder Kultur verbleiben.
„Unlösbar sind die zahlreichen Probleme geworden, die das internationale Leben unseres Kontinents erschweren“, heißt es im Manifest. „Das Abstecken von Grenzen in Gebieten mit gemischter Bevölkerung, die Verteidigung sprachlicher Minderheiten, der Zugang zum Meer für die Binnenländer, der Balkan die irländische Frage usw. Die Europäische Föderation hingegen könnte dieses Problem ohne weiteres lösen, so wie es früher der Fall für jene Kleinstaaten war, die sich einer weiter gefassten nationalen Einheit anschlossen.“
Auch wenn einige Kapitel – vor allem zur Neugestaltung der Wirtschaft- von kommunistischen Ideen geprägt sind- ist das Manifest von Ventotene ein Text, der gerade heute, wenn viele an der Sinnhaftigkeit eines gemeinsamen Europas zu zweifeln beginnen, wieder Mut macht. Der Text, der auf abenteuerliche Weise aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde – zum Teil im Inneren eines Brathuhns- wurde auch das Gründungsdokument der Europäischen Föderalistischen Bewegung. Altiero Spinelli war später – von 1970 bis 1976 Mitglied der Europäischen Kommission und ab 1976 Abgeordneter zum Europäischen Parlament. Er war beteiligt am Vetragsentwurf für eine Europäische Union im Jahr 1984.
Es wäre zu hoffen, dass die drei gerade auf Ventotene tagenden EU-Politiker, Angela Merkel, Francois Hollande und Mateo Renzi, vom Geist des Manifests zu mutigeren Schritten für ein geeeintes Europa beflügelt werden.