Auch im Todesfall Nawalny vom 16. Februar 2024 hatte die Untersuchungskommission wohl den Auftrag, alle Anhaltspunkte für die tatsächliche Todesursache zu vertuschen. Das Investigativ-Medium „The Intercept“ berichtete im September dieses Jahres, die ursprünglichen Dokumente, in denen Nawalnys Tod beschrieben wurde, seien gesäubert worden. Darin hatte es zunächst geheißen, der Häftling habe sich „auf den Boden gelegt und begonnen, über starke Schmerzen in der Bauchgegend zu klagen“. Außerdem habe er Krämpfe bekommen und erbrochen. Eine Probe des Erbrochenen sei sichergestellt worden.
All diese Informationen finden sich in dem dreiseitigen Endbericht nicht. Aber dieser Untersuchung schenkte ohnehin niemand Glauben. Zu offensichtlich waren die jahrelangen Lügen und Machenschaften der russischen Behörden, die ein einziges Ziel hatten: zu verschleiern, dass Alexej Nawalny erst zum Schweigen gebracht und schließlich beseitigt werden sollte.
Der Auftrag dazu konnte nur von allerhöchster Stelle kommen: von Wladimir Putin. Ihn hatte Nawalny während seines gesamten politischen Lebens als Drahtzieher der Korruption im russischen Staat identifiziert. Lange schon stand die Bedrohung im Raum, Putin könnte Nawalny ermorden lassen.
Als der Aktivist im Jänner 2021 freiwillig aus Deutschland nach Russland zurückkehrte, wurde er am Moskauer Flughafen umgehend festgenommen. Von da an blieb er in Haft. Die Bedingungen, die er zu ertragen hatte, beschrieb Nawalny in seiner Autobiografie „Patriot – Meine Geschichte“ (Verlag S. Fischer): „Es ist so heiß darin, dass man kaum atmen kann. Man fühlt sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, sehnt sich nach frischer Luft. Meistens allerdings ist so eine Zelle eine Art kalter, feuchter Keller, oft mit einer Wasserpfütze auf dem Boden. (…) Aber die Strafzelle ist nicht nur eine Hundehütte aus Beton, mit einem Becher als einzigem Besitz, sondern vor allem ein Ort der Folter. Ein SHIZO (eine Strafzelle, Anm.) liegt unweigerlich isoliert vom Rest des Gefängnisses, und ständig spielt laute Musik. Theoretisch soll dies Gefangene in den verschiedenen Zellen daran hindern, einander etwas zuzurufen. Praktisch dient es dazu, die Schreie der Gefolterten zu übertönen.“
Der Weg war vorgezeichnet, aber warum musste Nawalny am 16. Februar 2024 sterben? War seine Ermordung tatsächlich ein Zeichen der Schwäche des Regimes, wie Nawalny selbst dies prophezeit hatte?
Wie sich der nahende Tod anfühlt, wissen wir von Nawalny selbst, der in seiner Autobiografie auch beschreibt, wie er damals, auf dem Flug von Tomsk nach Moskau, beinahe an der Vergiftung gestorben wäre: „Ich habe gerade noch Zeit genug zu denken: Alles Lüge, was so über den Tod gesagt wird. Es ist nicht so, dass mein ganzes Leben im Schnelldurchlauf an mir vorbeizieht. Auch die Gesichter meiner Liebsten tauchen nicht auf. Ebenso wenig Engel oder ein blendendes Licht.“
Aber auch wenn Nawalny am 16. Februar 2024 sein Leben nicht im Schnelldurchlauf vor sich vorüberziehen sah – die ganze Welt erlebte genau das. In den Stunden nach der Bekanntgabe des Todes des inhaftierten Oppositionellen zeigten die Aussendungen bestürzter Politikerinnen und Politiker, welche Bedeutung Nawalny gehabt hatte. „Tief betroffen“ zeigte sich der damalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, von „furchtbaren Nachrichten“ schrieb Rishi Sunak, zu der Zeit Großbritanniens Premier. Es sei „offensichtlich, dass Nawalny von Putin getötet wurde“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Auch Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hielt fest, dass „Wladimir Putin und sein mörderisches Regime dafür verantwortlich“ seien, und Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz sagte: „Wir wissen aber nun auch ganz genau, spätestens jetzt, was das für ein Regime ist.“
„Spätestens jetzt“ kam für Nawalny zu spät. Die Aufmerksamkeit des Westens für Nawalnys Schicksal war in der Zeit vor seinem Tod schwächer geworden, bloß traute sich das niemand zu sagen.
Als Nawalny im August 2023 wieder einmal unter Ausschluss
der Öffentlichkeit vor Gericht gestellt und unter anderem wegen „Rehabilitierung der Nazi-Ideologie“ zu weiteren 19 Jahren Haft verurteilt wurde, fielen die Reaktionen längst nicht mehr so laut aus. Der britische Autor John Sweeney kritisiert in seinem Buch „Der Fall Nawalny – Mord im Gulag“ (Verlag Heyne), dass der Fall Nawalny sowohl im Westen als auch in Russland keine Priorität mehr genossen hatte: „Der Krieg in der Ukraine beherrschte die Schlagzeilen.“
Die größten Demonstrationen hatten Nawalny und sein Team nach den vom Regime manipulierten Parlamentswahlen 2011 organisiert. Damals gingen allein in Moskau rund 100.000 Menschen auf die Straße. Derartige Massenproteste waren zehn Jahre später undenkbar. Das lag nicht an Nawalny. Er nützte jede Gelegenheit, um die russische Bevölkerung aufzurütteln. Als er im Jänner 2021 wieder einmal vor Gericht stand, nutzte er eine Pause der Hauptverhandlung, um eine Rede auf Video aufzuzeichnen, in der er das korrupte Putin-Regime anklagte: „Wovor fürchtet sich diese Kröte, die da auf dem (Öl- und Gas-)Rohr sitzt? Wovor haben diese Diebe in ihren Bunkern am meisten Angst? Ihr wisst es selbst! Sie haben Angst davor, dass die Menschen auf die Straße gehen. Denn das ist ein politischer Faktor, der nicht ignoriert werden kann. Das ist das Wichtigste, das Entscheidende. Das ist die Essenz der Politik. Habt also keine Angst – geht auf die Straße! Tut es nicht für mich: Tut es für euch selbst, für eure Zukunft.“ (Diese und weitere Reden sind in dem Buch „Schweigt nicht! – Reden vor Gericht“ im Verlag Droemer erschienen.)
Doch die Menschen in Russland hatten Angst, und das zu Recht. Putins Regime agierte immer brutaler, so gut wie alle Oppositionellen landeten im Gefängnis, die Liste toter Dissidenten wurde länger. 22 ermordete Putin-Gegner seit 1998 listet Sweeney im Anhang seines Buches auf, von „Levin-Utkin; 1998; Korruptionsvorwürfe; totgeschlagen“ bis „Nawalny; 2024; politischer Gegner; ermordet, Methode unbekannt“.
Hätte der Westen mehr für Nawalny tun können? Ja, in den Jahren nach 2011 wäre mehr Druck auf Putin von außen sicher hilfreich gewesen. Später dann, nachdem sich Putin 2022 mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ohnehin allen Sanktionen ausgesetzt hatte, gab es wahrscheinlich keinen entscheidenden Hebel mehr, um den Tod Nawalnys zu verhindern und die Protestbewegung am Leben zu erhalten.
Natürlich hätte Nawalny den Friedensnobelpreis bekommen müssen. Dass er übergangen wurde, mag damit zu tun haben, dass er in seiner Vergangenheit eine Phase durchlebte, in der er sich in die Nähe von Ultranationalisten und Nazis begeben hatte. Ihn Jahre später, als er sich längst gewandelt hatte, dafür zu geißeln, war erstens unfair und zweitens kurzsichtig. Nawalny hatte eine tiefe Überzeugung: Korruption sei das Übel, das alle anderen Missstände nach sich zog. Sie zu bekämpfen, war eine höchst politische – und deshalb lebensgefährliche – Sache, aber man konnte sie ideologisch von rechts ebenso gut begründen wie von links, und Nawalny brauchte Mitstreiter. Dabei war er anfangs nicht wählerisch und ließ sich mit Leuten ein, die er besser nicht frequentiert hätte.
Doch das schmälert seine Bedeutung als Kämpfer für die Freiheit nicht. Als Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der 2022 verbotenen, unabhängigen russischen Zeitung „Nowaja gaseta“, 2021 den Friedensnobelpreis erhielt, sagte er: „Hätte ich über den Friedensnobelpreis zu entscheiden gehabt, ich hätte für die Person gestimmt, auf die die Buchmacher gesetzt hatten. Und ich meine damit Alexej Nawalny.“
US-Außenminister Antony Blinken urteilte am 16. Februar 2024, unmittelbar nach der Mitteilung über Nawalnys Tod: Sollten sich die Berichte bewahrheiten, „unterstreicht das nur die Schwäche und den Verfall Russlands“. Mag sein, allerdings hatte Putin bewiesen, dass schiere Gewalt und die vorsätzliche Liquidierung eines Oppositionellen den gewünschten Effekt erzielten. Das ist die traurige Lektion aus Nawalnys Tod. Ein halbes Jahr später, im August 2024, gelangten sieben Oppositionelle aus Belarus und Russland, darunter auch zwei Mitstreiterinnen und ein Mitstreiter von Nawalny, im Zuge eines Gefangenenaustauschs in den Westen. Das unterstrich, dass es für Gegner des Putin-Regimes derzeit wohl das Beste ist, Russland zu verlassen.
Beweist das nun Putins Stärke oder Schwäche? Einerseits zeigt es, dass Putin vor keinem Verbrechen zurückscheut, auch wenn die ganze Welt davon weiß. Was hat er auch groß zu verlieren, nachdem er wider das Völkerrecht das Nachbarland Ukraine überfallen hat? Doch der Tod Nawalnys belegt ebenso deutlich, dass Putin panische Angst davor hat, jemand wie Alexej Nawalny könnte die Bevölkerung Russlands gegen die repressive Herrschaft, die Korruption und den Krieg aufbringen. Er hat erlebt, wie die „Farb-Revolutionen“ der Nullerjahre Regime gewaltfrei zu Fall brachten, und er musste mitansehen, wie Anfang Dezember dieses Jahres sein Verbündeter Baschar Al-Assad in Syrien von einer bewaffneten Rebellion vertrieben wurde.
„Die zitternden Knie von Putins zerbröselndem System sind deutlich zu sehen“, schreibt Nawalny in seiner Autobiografie. Putin muss brutal sein, weil seine Macht auf tönernen Füßen steht. Wenn er eines Tages tatsächlich stürzt, werden der Name Alexej Nawalny und dessen Tod am 16. Februar 2024 in der Geschichte darüber nicht fehlen.