Das war 2024: Wie der mächtigste Terrorist im Gazastreifen starb
Ein Drohnenvideo zeigt die letzte Minute in Yahya Sinwars Leben. Es sind Aufnahmen wie aus einem Computerspiel. Nur dass sie echt sind, aufgenommen im Tel-al-Sultan- Viertel in Rafah, einer Stadt im Süden des Gazastreifens. Eine Drohne der israelischen Streitkräfte fliegt in den dritten Stock eines zerstörten Wohnhauses und nähert sich einem mit Staub bedeckten Fauteuil, in dem die Konturen eines Menschen auszumachen sind. Von Weitem sieht er wie ein Geist aus. Oder wie eine leblose Puppe in einem Schaufenster.
Für Israel war er das, was Osama bin Laden nach dem Anschlag vom 11. September 2001 für die USA war.
Der Mann trägt eine Kufiya vor dem Gesicht, das traditionelle Tuch der Palästinenser. Seine Hand blutet. Es ist Mittwoch, der 16. Oktober 2024.
Top-Wanted-Terrorist
Den israelischen Soldaten ist nicht klar, wen sie da vor sich haben, nämlich den mächtigsten Mann in Gaza. Yahya Sinwar steht seit 2017 der radikalislamistischen Terrororganisation Hamas vor. Er war einer der erbittertsten Feinde Israels. Die besten Geheimdienste der Welt versuchten ihn im dicht verzweigten Tunnelnetzwerk unter Gaza aufzuspüren. Für Israel war er das, was Osama bin Laden nach dem Anschlag vom 11. September 2001 für die USA war. Sinwar gilt als Mastermind und Architekt des 7. Oktober 2023. Der Tag war der monströse Höhepunkt seiner jahrzehntelangen Terroristen-Karriere. Das Datum hat ein tiefes Trauma im völlig überrumpelten Israel hinterlassen, nämlich das Gefühl, im jüdischen Staat nicht mehr sicher zu sein.
Am 7. Oktober überfiel die Hamas Israel, tötete 1200 Menschen und verschleppte über 240 als Geiseln. Sinwar war der Hüter über die Geiseln, das wichtigste Druckmittel in den folgenden Verhandlungen. Die Verschleppten garantierten auch ihm Sicherheit. Er soll sie als menschliche Schutzschilde um sich geschart haben, um nicht eliminiert zu werden. Von dieser Macht ist in den letzten Sekunden seines Lebens wenig zu spüren. Sinwar ist ganz allein, das Drohnenvideo zeigt ihn völlig hilflos. Ein letztes Mal bäumt er sich auf und wirft einen Holzstock nach der Drohne. Als ob man sich so gegen eine Hightech-Armee wehren könnte. Dann schießt ihm einer der israelischen Soldaten in den Kopf, und ein Panzer bringt das Gebäude zum Einsturz. Zu diesem Zeitpunkt glaubt die israelische Armee noch, einen gewöhnlichen Hamas-Kämpfer getötet zu haben. Erst als sie seinen Körper in den Trümmern sehen, fällt den Soldaten die Ähnlichkeit zu Yahya Sinwar auf: ein Mann von 61 Jahren mit weißem Bürstenhaarschnitt, dunklen Ringen unter den Augen und prägnanten Schneidezähnen. Sie schneiden dem Toten einen Finger ab und fotografieren das Gebiss. Ein forensisches Institut in Tel Aviv bestätigt schließlich: Er ist es. Weil Sinwar über 20 Jahre in israelischen Gefängnissen saß, verfügen die Behörden über seine DNA-Probe und Identitätsmerkmale.
Heute hat das Böse einen schweren Schlag erlitten.
Tief unten im Tunnel
Noch am selben Abend verkündet Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu den größten militärischen Erfolg seines Landes seit Beginn des Krieges: „Heute hat das Böse einen schweren Schlag erlitten.“ An die Bürgerinnen und Bürger in Gaza gerichtet, sagt er: „Sinwar hat euer Leben zerstört. Er hat euch erzählt, er sei ein Löwe, aber in Wirklichkeit hat er sich in einer dunklen Höhle versteckt - und er wurde eliminiert, als er voller Panik vor unseren Soldaten weglief.“ Was Netanyahu nicht an die große Glocke hängt: Die Tötung des Löwen war reiner Zufall. Anders als bei der Pager-Attacke im Libanon im September 2024, bei der es Israels Geheimdienst gelang, Lieferketten der Hisbollah zu infiltrieren und Funkgeräte mit Sprengsätzen zu versehen, steckte hinter der Eliminierung von Sinwar kein minutiöser Operationsplan. Er ging einer gewöhnlichen Routine-Patrouille ins Netz. Aber was hatte Sinwar überhaupt in dem Wohnhaus zu suchen? Seit Beginn des Krieges war er penibel darauf bedacht, keine Fehler zu begehen. Er tauchte im Tunnellabyrinth unter Gaza ab, wechselte immer wieder seinen Standort, verzichtete am Ende ganz auf elektronische Kommunikation und gab seine Botschaften nur mündlich oder auf handschriftlichen Notizen an Boten weiter. Israels Geheimdienst war ihm dicht auf den Fersen. Einmal fanden Soldaten in einem von ihm zurückgelassenen Bunker noch warmen Kaffee. Sie wiesen seine DNA in einer Urinprobe sowie auf einem Taschentuch nach. Aber es schien, als wäre Sinwar immer einen Schritt voraus.
Es schien, als wäre Sinwar immer einen Schritt voraus. Bis er um den 16. Oktober einen Fehler machte und kurz auftauchte.