Hamas hands over 2 Israeli hostages to Red Cross in Rafah
Israel
Deal mit der Hamas: Was wird jetzt aus den restlichen Geiseln?
Der israelisch-österreichische Doppelstaatsbürger Tal Shoham kehrte aus der Geiselhaft der Hamas zurück nach Hause. Die Familien der übrigen Geiseln müssen zittern wie nie zuvor.
Es ist neun Uhr vormittags am Samstag, dem 22. Februar, als Tal Shoham auf eine Bühne in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen geführt wird. Der 40-Jährige trägt die Haare kurz rasiert und ist sichtlich abgemagert.
Vor mehr als 16 Monaten, am 7. Oktober 2023, wurde Shoham, ein österreichisch-israelischer Doppelstaatsbürger, von der radikalislamistischen Terrororganisation Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Seine Familie wusste bis zuletzt nicht, ob er noch lebt. Jetzt steht er auf der Bühne und winkt in die Menge. Neben ihm stehen vermummte Terroristen mit Maschinengewehren, aus Boxen dröhnt arabische Musik. Schaulustige stehen auf den Ladeflächen von Geländeautos, um besser sehen zu können.
Shohams Familie und Freunde verfolgen den Moment im Fernsehen. Nur seine Kinder Naveh, 9, und Yahel, 4, sollen die Videos nicht sehen. Sie waren selbst Geiseln der Hamas und ihre Mutter will, dass sie die schrecklichen Bilder vergessen.
Endlich steigt Tal in einen Jeep des Roten Kreuzes. Es dauert nicht mehr lange, bis er seine Frau und die Kinder in die Arme schließen kann. Die drei warten zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem israelischen Militärstützpunkt auf ihn.
Yahel, 4, und Naveh, 9, fotografiert im Juni 2024 in der profil-Redaktion. Mit ihrer Mutter Adi Shoham kämpften sie unaufhörlich für die Freilassung ihres Vaters. Die ganze Geschichte können Sie unter anderem hier und hier nachlesen.
Profil verfolgt die Geschichte der Familie von Tal Shoham von Anfang an. 2023 war seine Schwägerin Shaked Haran (siehe Cover) unser Mensch des Jahres. Neben Adi Shoham, ihrer Schwester, war auch ihre Mutter Shoshan von der Hamas verschleppt worden. Im November 2023 kamen sie im Zuge des ersten Geisel-Deals frei. Tal Shoham ist seit Februar 2025 frei. Hier können Sie die Geschichte nachlesen.
Gilad Korngold ist Österreich für die Unterstützung sehr dankbar. Er kam mehrmals nach Wien, um auf das Schicksal seines Sohnes aufmerksam zu machen. Der damalige Bundeskanzler Karl Nehammer habe ihn alle drei Wochen persönlich angerufen, sagt er heute.
Zehn Monate im Tunnel
„Er kam aus der Hölle“, sagt sein Vater Gilad Korngold am Montag nach der Freilassung in einem Gespräch mit Journalisten. „Mein Sohn wurde mehr als zehn Monate unter der Erde festgehalten. Ohne Frischluft, ohne Sonnenlicht, ohne Vitamine. Er hatte keinen Raum, sich zu bewegen.“ Tal Shoham habe 25 Kilogramm verloren und sei sehr schwach. Erst wenige Tage vor der Freilassung päppelte ihn die Hamas ein wenig auf. Das Erste, wonach er im Krankenhaus fragte, war frisches Gemüse.
In den ersten Monaten nach seiner Verschleppung wurde Tal Shoham in einer Wohnung im Gazastreifen festgehalten. Er konnte Radio in hebräischer Sprache hören und sich so über die Ereignisse informieren. Gleichzeitig war er völlig ahnungslos. Erst nach seiner Rückkehr erfuhr er, dass seine Frau und seine Kinder ebenfalls nach Gaza verschleppt worden waren. Nachdem er unter die Erde gekommen war, verlor er jeden Bezug zur Außenwelt.
Korngold, dessen Vorfahren einst von den Nazis aus Wien vertrieben wurden, bedankte sich nach der Freilassung seines Sohnes für Österreichs Unterstützung. Der damalige Bundeskanzler Karl Nehammer habe ihn alle drei Wochen persönlich angerufen. Mit dem Diplomaten Peter Launsky-Tieffenthal wurde außerdem ein eigener Sondergesandter ernannt, um bei den Gesprächen über einen Geisel-Deal in Katar und Ägypten auf das Schicksal von Shoham aufmerksam zu machen. „Ich denke, Österreich hat sehr geholfen, ihn herauszubringen“, so Korngold.
Seit Jänner gibt es nun den besagten Deal. In der kommenden Woche wird sich zeigen, ob er wirklich hält.
Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel an und trat damit den Krieg los, der seitdem Zehntausende Palästinenser das Leben gekostet hat. 251 israelische Geiseln wurden am 7. Oktober verschleppt. Bisher sind 141 von ihnen lebend zurückgekehrt. Laut der „Times of Israel“ sollen sich noch 63 Geiseln im Gazastreifen befinden. Davon soll die Hälfte tot sein. Bei jenen, die noch am Leben sein sollen, handelt es sich überwiegend um junge Männer in ihren Zwanzigern. Viele von ihnen hatten das Supernova-Musikfestival besucht, als die Hamas in Israel einfiel.
Der im Jänner vereinbarte Deal sieht drei Phasen vor. In der ersten, sechs Wochen andauernden Phase wurden nach und nach 33 israelische Geiseln nach Israel überführt, darunter auch acht Tote. Diese Phase ist mittlerweile abgeschlossen. Am Donnerstag hat die Hamas vier tote Geiseln übergeben. Israel muss im Gegenzug 1904 palästinensische Häftlinge freilassen. Darunter auch Hunderte Männer, die eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen hatten.
In Phase zwei soll nun über ein dauerhaftes Ende der Kämpfe verhandelt werden. Gelingt dies, könnten alle restlichen Geiseln freikommen. Im Gegenzug muss sich das israelische Heer komplett aus dem Gazastreifen zurückziehen.
In der dritten und letzten Phase soll der Wiederaufbau im Gazastreifen beginnen. Dabei könnten Katar, Ägypten und die Vereinten Nationen eine Rolle spielen.
Doch kurz nach der Freilassung von Tal Shoham geriet dieser Deal aufgrund eines Streits ins Stocken.
Die Hamas geht bei der Freilassung der Geiseln psychologisch perfide vor. Das zeigt die Geschichte der Geschwister Bibas, der jüngsten Geiseln.
Kfir Bibas war bei seiner Entführung acht Monate, sein Bruder Ariel vier Jahre alt. Ihre Mutter Shiri, eine Deutsch-Israelin, wurde mit den Söhnen aus dem Kibbuz Nir Oz entführt. Auch der Vater wurde verschleppt. Am 1. Februar kam er frei. „Alles hier ist nur Dunkelheit. Helft mir, das Licht in mein Leben zurückzubringen“, sagte er damals.
Doch seine Familie kam nicht lebend zurück. Am 20. Februar stellte die Hamas die Särge der Kinder auf einer Bühne zur Schau. Dahinter: eine Leinwand, die Israels Ministerpräsidenten Netanjahu als Vampir zeigte. Die Hamas behauptet, dass die Geschwister bei einem israelischen Bombenanschlag getötet wurden.
Doch eine Autopsie widerlegte diese Darstellung. Israels Armeesprecher Daniel Hagari konterte, die Hamas habe die beiden Kinder „mit bloßen Händen“ getötet. Die Buben sind in Israel zum Symbol der Grausamkeit der Terroristen geworden. „Wenn sie nur könnten, dann würden sie uns alle mit der gleichen Grausamkeit ermorden“, warnte Netanjahu in einer Rede.
Dann kam es zu einem weiteren Eklat. Anstatt Shiri Bibas, der Mutter der Buben, übergab die Hamas eine falsche Leiche an Israel. Die Vertauschung – ob wissentlich oder versehentlich – wurde als schwerer Verstoß gegen den Geisel-Deal gewertet. Die Hamas habe die Mutter der getöteten Kinder zurückgegeben, als ob es sich „um eine wertlose Lieferung“ handelte, sagte Israels UN-Botschafter Danny Danon.
Mit den Propaganda-Zeremonien verfolgt die Hamas zwei Ziele.
Aber auch der Umgang mit den noch lebenden Geiseln führte zu Verstimmungen. Die Hamas inszeniert ihre Freilassung als Propaganda-Show. Die Geiseln müssen lächeln, winken und der Hamas für die Freilassung danken. Ein Israeli wurde offenbar angewiesen, einem Hamas-Kämpfer auf der Bühne einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Ein Video davon ging auf arabischsprachigen Social-Media-Kanälen viral.
Mit den Propaganda-Zeremonien verfolgt die Hamas zwei Ziele.
Erstens: Nachdem die Terrorgruppe zuletzt militärisch stark geschwächt wurde, will sie der Welt zeigen, dass sie noch immer die einzige politische Kraft in Gaza ist (und das auch bleiben will).
Zweitens: Die Bilder der winkenden Geiseln sollen außerdem vermitteln, dass die Israelis in Haft gut behandelt würden.
Doch die Berichte der Rückkehrer, die von Schlägen, Folter und Vergewaltigungen erzählen, bezeugen das Gegenteil.
Nach dem Skandal um die Familie Bibas ließ Benjamin Netanjahu die Hamas zappeln. Am vergangenen Sonntag verkündete sein Büro, dass Israel die Freilassung der zugesagten Häftlinge (es handelt sich um 620 Menschen) aussetze. Zuerst müsse die Hamas vier Leichen überführen, diesmal ohne die demütigenden Zeremonien. Die Hamas ist dem mittlerweile nachgekommen. Trotzdem tickt die Uhr immer lauter. Stufe eins des Deals läuft offiziell am 1. März aus. Was soll dann passieren?
Auch deswegen reiste am vergangenen Mittwoch Steve Witkoff, Trumps Sondergesandter für den Nahen Osten, in die Region. Der jüdische Immobilieninvestor hatte bei der Einigung im Jänner die entscheidende Rolle gespielt, indem er Druck auf Netanjahu ausübte. Witkoff will jetzt eine Verlängerung der ersten Phase bewirken. Gelingt ihm das, stehen die Chancen gut, dass es noch mehr israelische Geiseln aus Gaza herausschaffen. Aber schon sehr bald dürfte Schluss damit sein. Für die Hamas sind die Geiseln eine Art Lebensversicherung. Sie wird dieses Faustpfand nicht aus der Hand geben, solange die politische Nachkriegsordnung von Gaza ungeklärt bleibt. Genau darum soll es in der zweiten Phase des Abkommens gehen. Und hier droht der Deal zu scheitern.
Geht es nach Benjamin Netanjahu, sollen weder die Hamas noch die Palästinensische Autonomiebehörde die Kontrolle im Gazastreifen halten. Stattdessen spricht er sich für einen höchst umstrittenen Vorschlag des US-Präsidenten Donald Trump aus. Dieser kündigte vor drei Wochen an, Gaza „übernehmen“ zu wollen, die Bevölkerung dauerhaft umzusiedeln und im völlig zerstörten Küstenstreifen eine „Riviera des Nahen Ostens“ zu errichten. Benjamin Netanjahu sprach von einer „frischen Idee“. In Wahrheit käme die zwangsweise Umsiedelung von knapp zwei Millionen Menschen einer ethnischen Säuberung gleich.
In Washington definierte Netanjahu kürzlich seine drei Ziele für Gaza. Erstens: die Hamas politisch und militärisch zu zerstören. Zweitens: alle Geiseln freizubekommen. Drittens: sicherzustellen, dass Gaza nie wieder eine Gefahr für Israel darstelle. Aber sind das erste und das zweite Ziel wirklich miteinander vereinbar? Wenn Netanjahu wirklich alle Geiseln nach Hause bringen will, wird er wohl oder übel akzeptieren müssen, dass die Hamas im Gazastreifen präsent bleibt.
Doch das Gegenteil ist sein Ziel. Laut Informationen der „New York Times“ bereitet sich das israelische Verteidigungsministerium bereits auf neue Operationen in Gaza vor. Einen Tag nach der Freilassung von Tal Shoham sagte Netanjahu bei einer Feier für Militäroffiziere, dass Israel „jederzeit bereit“ sei, den Krieg fortzuführen. In der Rede fiel auch der Satz: „Die Hamas wird den Gazastreifen nicht beherrschen. Der Gazastreifen wird entmilitarisiert, und die Kampftruppen werden aufgelöst.“ Netanjahu ist also erst dann offen für Verhandlungen, wenn sich die Hamas ergibt.
Die Pattsituation zeigt: Tal Shoham hatte großes Glück im Unglück. Er gehörte der letzten Geiselgruppe an, die im Rahmen der ersten Phase freigelassen wurde. Wäre er in die nebulöse zweite Phase gefallen, wäre sein Schicksal höchst ungewiss. Ohne den diplomatischen Druck Österreichs wäre sein Name vielleicht nie auf diese alles entscheidende Liste gekommen. Und so könnte Wien, die Stadt, aus der einst seine Vorfahren vertrieben wurden, dem 40-Jährigen das Leben gerettet haben.