Wolodymyr Selenskyj Vergangenen Dienstag im Präsidentenpalast
Titelgeschichte

Der Anti-Putin: Selenskyj ist der meistgefährdete Politiker der Welt

Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Helden der freien Welt wurde.

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Der Gedanke ist makaber, aber unvermeidlich: Niemand weiß, ob Wolodymyr Selenskyj, der Mann, der auf der Titelseite dieses Magazins abgebildet ist, noch am Leben sein wird, wenn Sie diese Ausgabe lesen. Er selbst sagt, dass er als Präsident der Ukraine das „Ziel Nummer 1“ russischer Spezialeinheiten sei, die ihn eliminieren wollten. Der derzeit meistgefährdete Politiker der Welt hat gleichzeitig auch gute Chancen, die „Person des Jahres 2022“ zu werden und, mehr noch, als Held in die Geschichte einzugehen. Und zwar nicht bloß als Held des ukrainischen Volkes, sondern der westlichen Welt.

Der Moment, in dem Wolodymyr Selenskyj die wichtigste Entscheidung seiner Amtszeit – und vielleicht auch seines Lebens – traf, war am Donnerstag der vorvergangenen Woche, als Russlands Präsident Putin in einer aufgezeichneten Fernsehansprache der Ukraine den Krieg erklärte. Zu diesem Zeitpunkt standen an die 200.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze, und Selenskyj war klar, was das bedeutete. Er hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte unter dem Schutz einer US-Elite-Einheit gemeinsam mit seiner Familie das Land verlassen und vom sicheren Ausland aus eine Exil-Regierung anführen, deren Legitimität von allen westlichen Staaten sofort anerkannt worden wäre.

Tatsächlich gab es schon einmal jahrzehntelang eine ukrainische Exilregierung, nachdem die Ukraine 1920 in die Sowjetunion eingegliedert worden war. Doch davon wollte Selenskyj nichts wissen. Er wählte die zweite Option: Er blieb in Kiew und ließ das die Ukraine, Russland und die ganze Welt via Video wissen. Es war seine Antwort auf Putins Kriegserklärung. Im schwarzen Anzug und schwarzer Krawatte stand er vor einer Landkarte und einer Flagge seines Landes und sagte: „Wenn ihr uns angreift, werdet ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken.“

Zweifellos hatte Putin gehofft, Selenskyj und mit ihm die gesamte ukrainische Regierung werde fliehen, und russische Medien streuten auch umgehend die Falschmeldung, der ukrainische Präsident habe sein Land verlassen. Woraufhin Selenskyj am nächsten Morgen per Handy neuerlich ein kurzes Video aufnahm. Er stand in Kiew vor dem Präsidentenpalast und sagte: „Ich bin hier.“

Die Entscheidung, angesichts der Todesgefahr im Land zu bleiben, war heldenhaft. Doch das war erst der Anfang einer unnachahmlichen Verwandlung eines Politikers, dem viele nicht einmal zugetraut hatten, die Ukraine in Friedenszeiten zu regieren, in einen Anführer, der innerhalb weniger Tage zu einer Ikone der freien Welt werden sollte.

Der Präsident eines Landes, das von einer übermächtigen Armee angegriffen wird, hat mehrere, existenzielle Aufgaben: Er muss zusehen, dass er am Leben bleibt. Er muss seiner Bevölkerung Mut machen, auszuhalten und Widerstand zu leisten. Und er muss versuchen, Hilfe von außen zu bekommen. Sein wichtigstes Instrument ist die Kommunikation, und Wolodymyr Selenskyj erweist sich darin als wahrer Meister. Er wird bereits mit dem legendären britischen Premier Winston Churchill verglichen, dessen One-Liners („Nichts im Leben ist so erbaulich, wie wenn ergebnislos auf einen geschossen wird.“) Klugheit und Ironie verbanden und das Publikum fesselten. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, lautete Selenskyjs Antwort auf das Angebot der USA, außer Landes gebracht zu werden – ein Satz, der in keiner Darstellung dieses Krieges fehlen wird.

Doch jetzt braucht es zusehends ein anderes Register. Nach mehr als einer Woche Krieg nimmt die Brutalität zu. Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, weist nach tagelangen Bombardements schwere Zerstörungen auf. Die ukrainischen Behörden geben keine Opferzahlen bekannt, doch nach Angaben des Rettungsdienstes sollen bis Donnerstag der abgelaufenen Woche etwa 2000 Zivilisten getötet worden sein. Hunderte Gebäude im ganzen Land seien zerstört, darunter auch „Krankenhäuser, Kindergärten und Wohngebäude“. Von internationalen Medien verifizierte Videos belegen Bombentreffer der russischen Streitkräfte auf Wohngebiete.

Wie viele seiner Landsleute sucht auch Wolodymyr Selenskyj Schutz in einem Bunker. Von dort aus hält er Kontakt mit der internationalen Politik, mit den Medien und via Twitter auch mit der Bevölkerung. Vergangenen Dienstag empfing er dort Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters und des Nachrichtensenders CNN. Sie begegneten einem Mann, der weit über seine Rolle als Präsident der Ukraine hinausgewachsen ist. Er erklärte ihnen, dass die Ukrainer für Demokratie und Freiheit kämpften; dass in gewisser Weise alle in diesen Krieg hineingezogen würden; und dass, wenn die Ukraine scheitere, der Welt noch größere Probleme drohten. Die Botschaft: Die Ukraine kämpft für uns alle, deshalb müssen alle ein Interesse daran haben, der Ukraine beizustehen. „Die Ukraine verteidigt Europa und die Welt“ steht im Titelbild von Selenskyjs Twitter-Account.

Wolodymyr Selenskyj ist jetzt im geopolitischen Konflikt mit Putins Russland das Gesicht des Westens. Am Dienstag, ehe US-Präsident Joe Biden seine State-of-the-Union-Ansprache hielt, telefonierte er eine halbe Stunde mit dem ukrainischen Präsidenten. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Putin anrief, tat er das mit dem Hinweis, dass Selenskyj ihn darum gebeten habe. Und gegenüber dem russischen Präsidenten spielt Selenskyi seine neue Position mit dem Selbstbewusstsein und dem Vertrauen auf seine Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, aus: „Setzen Sie sich mit mir zusammen, um zu verhandeln – aber bloß nicht in 30 Metern Entfernung“, forderte er Putin in einer Pressekonferenz vergangene Woche auf, in Anspielung auf die kurios langen Tische, an denen Putin seine Gesprächspartner zuletzt empfangen hat.

Es ist auch der krasse Gegensatz zum Aggressor Wladimir Putin, der Selesnkyjs Persona überlebensgroß werden lässt. Niemand kann Putin auf die Weise die Stirn bieten, wie Selenskyj das tut – oder eben tun muss.

Während Selenskyj simple Wahrheiten ausspricht – „Das ukrainische Volk will Frieden“ –, schockiert Putin alle Welt mit der Ankündigung, Nuklearwaffen in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzen zu lassen und ergeht sich in abstrusen Verrenkungen der Geschichte.

Putin hat im Lauf seiner langen Karriere zwei wesentliche Entwicklungen durchgemacht: Er ist in der Wahl seiner Mittel zunehmend rücksichtsloser geworden, und er verfolgt, wie der Russland-Experte Ivan Krastev im profil-Interview sagt, eine Mission: die Wiedererrichtung des alten, vorsowjetischen Russlands. Dazu gehört auch der heutige Staat Ukraine.

2016 nahm Putin an der Einweihung eines Denkmals für Wladimir I. teil, das auf dem Roten Platz in Moskau errichtet wurde. Wladimir I. war im 10. Jahrhundert der Herrscher der Kiewer Rus – also des mittelalterlichen Großreichs, das die heutigen Staaten Russland, die Ukraine und Belarus umfasste. Putin hielt eine Ansprache und würdigte dabei die Leistung der Vorfahren, „Siege zum Ruhm des Vaterlandes zu erzielen, um es mit jeder Generation stärker und größer zu machen“. Daran knüpft Putin an, und in seinem Drang, eine russische Zivilisation wiederauferstehen zu lassen, hat er für moderne Errungenschaften wie das Völkerrecht, Demokratie und Freiheit nur Verachtung übrig.

Damit war ein Frontalzusammenstoß mit dem Westen nur eine Frage der Zeit. Mit Wolodymyr Selenskyj trifft Putin auf einen Kontrahenten, den er anfangs wohl kaum ernst genommen hat. Sogar jetzt noch, beim Interview im Bunker, sagt Selenskyj: „Es ist ernst, das ist kein Film.“ Denn immer noch wird ihm die Formulierung „der Clown, der Präsident wurde“ beigefügt. Die Tatsache, dass der heute 44-Jährige nach einem Studium der Rechtswissenschaften Kabarettist und Schauspieler wurde und an der ukrainischen Version der TV-Show „Dancing Stars“ teilnahm, disqualifizierte ihn in den Augen vieler für den Beruf des Politikers. In der Fernsehserie „Diener des Volkes“ spielte er einen Englischlehrer, der quasi versehentlich zum Präsidenten gewählt wird. 2019 trat er mit der Partei „Diener des Volkes“ und dem Versprechen, die Korruption im Land zu bekämpfen, bei den echten Präsidentschaftswahlen an – und siegte mit 73 Prozent der Stimmen.

Jetzt ist es ernst und kein Film.Präsident Selenskyj kann den russischen Angriffskrieg nicht stoppen. Der Bevölkerung wird, so ist zu befürchten, von den vorrückenden russischen Truppen noch schlimmeres Leid angetan werden. Zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatte der erwartete Großangriff auf die Hauptstadt Kiew noch nicht begonnen. Die großen Städte des Landes waren belagert, das Atomkraftwerk Saporischja zuerst beschossen und danach von russischen Kräften eingenommen worden.

Eine Résistance muss nicht unbedingt militärisch siegen, um erfolgreich zu sein. Am Donnerstag gab der Präsident eine Pressekonferenz, als neuerliches Zeichen, dass die Staatsführung noch funktioniert. Er sprach von den Anstrengungen der Leute in Kiew, Barrikaden zu errichten. Auch die werden die Panzer nicht stoppen können, aber jeder Akt der Verteidigung hat symbolische Kraft.

Selenskyj ist müde, er schläft nach eigenen Angaben nur drei Stunden pro Tag. Die meiste Zeit ist er von seiner Frau Olena Selenska und deren beiden Kindern getrennt. Selenska versucht wie ihr Mann unermüdlich, via sozialer Medien in Kontakt mit der Bevölkerung zu bleiben.

Wann hat die Welt zuletzt einen so unumstrittenen Helden wie Wolodymyr Selenskyj gesehen? Besonders im deutschsprachigen Raum ist die Skepsis gegenüber Huldigungen von Staatsmännern, wie sie dem ukrainischen Präsidenten jetzt zuteilwerden, aus historischen Gründen groß. Selenskyj hat nun große Verantwortung; Was er sagt, hat Gewicht. Die Gefahr besteht, dass er die Forderungen nach Unterstützung überdreht. Bisher hat der Westen etwa seinen Wunsch nach einer Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt. Diese Maßnahme hätte unweigerlich zu Luftgefechten zwischen Russland und der NATO – und damit zu einer unkontrollierbaren Ausweitung des Krieges – geführt.

Bisher jedoch verhält sich Selenskyj tatsächlich wie ein Held. Sein Status als internationales Idol ist unübersehbar. Applaus brandet auf, wo immer er via Videolink auftaucht. Am Freitag unternahm der russische Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin einen weiteren Anlauf, Selenskyj zu diskreditieren. Auf dem Messaging-Dienst Telegram schrieb er, der ukrainische Präsident halte sich bereits in Polen auf.

Der Versuch der Desinformation scheiterte erneut kläglich. 

Mehr Geschichten zum Schwerpunkt "Krieg in der Ukraine" finden Sie in der profil-Ausgabe 10/2022 - hier als E-Paper.

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Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur