Der Einfluss Russlands in Südosteuropa steigt: Putins zweite Front
Einmal im Jahr treffen sich im mondänen Hotel „Excelsior“ im Adriabad Budva Montenegros Spitzenpolitiker, Diplomaten und internationale Balkan-Wissenschafter. Die Konferenz „To Be Safe“ ist eine Veranstaltung der Freunde der NATO-Allianz. Es gab sie schon, bevor Montenegro dem nordatlantischen Bündnis beitrat. Das war 2017. Im Oktober zuvor hatten Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU zusammen mit serbischen Para-Militärs einen Putsch gegen den westfreundlichen Präsidenten Milo Djukanović versucht. Das Vorhaben misslang.
Die Spannungen jedoch blieben. Seit mehr als 100 Jahren ist die Bevölkerung des kleinen Adria- und Balkanlandes in der Frage, ob Montenegro ein souveräner Staat bleiben oder mit Serbien vereinigt sein soll, gespalten. Eigentlich hatten sich die Bürger 2006 in einem Referendum klar für die Loslösung aus dem damaligen Staatenbund mit Serbien ausgesprochen. Doch seitdem Russland seine Aktivitäten auf dem Balkan – schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine im Februar – verstärkt hat, fühlen sich die proserbischen Kräfte in Montenegro im Aufwind.
„Wenn Russland Kiew eingenommen hätte, hätte die Republika Srpska die Sezession erklärt.“
Aber nicht nur dort. Mithilfe von käuflichen und erpressbaren Politikern, mit geheimdienstlicher Wühlarbeit, Desinformationskampagnen und geschickten Täuschungen hat Moskau auf dem Balkan eine zweite Front eröffnet. Das Ziel: Staaten von einer weiteren Annäherung an die Europäische Union abzuhalten, indem sie destabilisiert werden. Als Mittel zum Zweck dienen innere Zwistigkeiten und Nationalismus.
Welche Form solche Turbulenzen in der Realität annehmen können, zeigte ein überraschender Vorfall Anfang Oktober bei der eher akademischen „To Be Safe“-Konferenz. Savo Kentera, Chef des Inlandsgeheimdienstes ANB, Gastprofessor an der Harvard-Universität und überzeugter Transatlantiker, hatte gerade auf dem Podium Platz genommen, als der Moderator Adnan Rondić, ein regionsbekannter Anchorman des Nachrichtensenders „Al Jazeera Balkans“, von seinem iPhone die eben veröffentlichte Nachricht verlas: Die Regierung habe bei ihrer Online-Sitzung soeben Kentera seines Amtes enthoben.
Der Saal erstarrte. Kentera blickte gefasst in die Runde. „Es ist kein gutes Zeichen für jene, die Montenegro als Teil des Westens sehen. Aber überrascht bin ich nicht“, sagte er. Ministerpräsident Abazović und die ihn unterstützenden proserbischen Parteien hatten Kenteras Arbeit als Geheimdienstchef seit seiner Amtsübernahme im Mai gar nicht goutiert. „Wir haben 35 Agenten des russischen Spionagenetzwerks, darunter sechs Diplomaten, entlarvt und des Landes verwiesen“, sagte Kentera zu profil. „Was will man mir da vorwerfen?“
Diese Episode ist nur ein Mosaikstein in einem viel größeren Machtkampf. In Montenegro haben sich die Kräfteverhältnisse seit dem Unabhängigkeitsreferendum vor 16 Jahren verschoben. Viele promontenegrinische und prowestliche Bürger haben sich von Präsident Djukanović abgewandt, weil sie die Korruption und Vetternwirtschaft in seinem Umfeld satthatten. Nach den Wahlen im Sommer 2020 verlor die Präsidentenpartei DPS erstmals nach 30 Jahren die Macht. Die Schalthebel der Regierung übernahmen bunte, mehrheitlich proserbische Koalitionen. Sie zerfielen und gruppierten sich neu. Die Regierung in Belgrad führt diskret im Hintergrund die Regie.
Konstante und Schlüsselfigur des Koalitionsreigens ist Dritan Abazović. Er ist jung, schillernd, ethnischer Albaner. Die von ihm geführte Partei URA gibt sich als ökoliberal und prowestlich. Im 81-sitzigen Parlament hat sie gerade mal vier Mandate. Doch sie ist das Zünglein an der Waage. Von Dezember 2020 bis April dieses Jahres war der 36-jährige Abazović stellvertretender Ministerpräsident mit Zuständigkeit für die Sicherheitsdienste. Seit April ist er Regierungschef, seit August aber nur noch geschäftsführend – das Parlament hatte ihm das Vertrauen entzogen, nachdem er einen umstrittenen Kirchenvertrag mit der serbisch-orthodoxen Kirche unterzeichnet hatte. Die Belgrader Quasi-Staatskirche hat viel Einfluss in Montenegro. Zugleich lehnt sie die Eigenstaatlichkeit des Landes ab, betrachtet es als Teil Serbiens.
Wenn er sich aufregt, gestikuliert Abazović wild mit den Armen, seine Stimme wird schneidend und schrill. Seine Rolle und Funktion entsprechen dem, was im russischen Geheimdienstjargon eine maskirovka genannt wird: eine Vortäuschung, ein Etikettenschwindel mit Überzeugungskraft. Der angeblich prowestliche Politiker tauchte beim „To Be Safe“-Forum auf und legte den Arm um die Schulter seines Geheimdienstchefs Kentera. Von der noch am selben Tag vorgesehenen Entlassung sagte er ihm nichts. Auf dem Podium meinte Abazović auf die Frage von Starmoderator Rondić, ob er die Einmischungen des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić in Montenegro als schädlich empfinde: „Sein Einfluss wird überschätzt.“
Tatsache ist aber, dass Abazović mit praktisch allen seinen Handlungen an der Regierungsspitze in irgendeiner Weise stets serbischen Interessen entgegenkommt. Im Hintergrund werden personelle Abhängigkeiten vermutet. Sein Bruder lebt und arbeitet seit Jahrzehnten als Arzt in Belgrad. Serbische Journalisten fanden heraus, dass der Abazović-Bruder zusammen mit der Lebenspartnerin der serbischen Ministerpräsidentin Ana Brnabić eine Privatklinik betreibt. Diese befindet sich in einem modernistischen Repräsentativgebäude im Belgrader Stadtteil Senjak aus dem Jahr 1937. Der Besitzer ist eine Immobilienfirma, die mit dem serbischen Finanzminister Siniša Mali verbunden ist, einem Vertrauensmann von Vučić.
In Montenegro stehen im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen an, möglicherweise zusammen mit vorgezogenen Parlamentswahlen. Die Ära Djukanović könnte definitiv zu Ende gehen. Die Kommunalwahlen am 23. Oktober brachten eine weitere Stärkung des proserbischen Lagers. In der Hauptstadt Podgorica verlor Ivan Vuković, ein reformfreudiger Politiker aus dem Präsidentenlager, die Mehrheit. Ihn wird ein Akteur aus einer neu gegründeten Partei mit dem klingenden, aber irreführenden Namen „Europa jetzt“ ablösen – sie entstand im Dunstkreis der europafeindlichen serbisch-orthodoxen Kirche.
Montenegro ist nur ein Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen prorussischen und prowestlichen Kräften am Balkan. Auch in Bosnien und Herzegowina brodelt es. Dort unterstützt Russland offen den serbischen Separatisten Milorad Dodik. Er bestimmt die Politik im serbischen Landesteil, der Republika Srpska (RS). Er trifft sich auffallend häufig mit dem Kremlherrn Wladimir Putin. Die RS will er aus dem bosnischen Staatsverband herauslösen. Während die bosnische Armee integriert ist und Provinzfürst Dodik keinen Zugriff auf sie hat, verfügt der bosnische Serbe inzwischen über eine eigene paramilitärische „Sonderpolizei“. Die 2000 Mann starke Einheit wurde von Russland ausgebildet und ausgestattet.
Bosnien ist kein „gescheiterter Staat“, kämpft aber permanent mit politischen Blockaden, sinnlosen Bürokratien und massiven Reformstaus. Die Nationalparteien der Bosniaken, Kroaten und Serben sind am Status quo interessiert, durch den sie straflos der Korruption frönen können. Die verschiedenen linken, liberalen und konservativen, nicht nationalistischen Parteien gewannen bei den landesweiten Wahlen am 2. Oktober ein wenig hinzu, können aber die Gesamtdynamik im Land nicht bestimmen.
Wie hängt das alles mit dem Krieg Russlands in der Ukraine zusammen?
Die weiche Flanke Südosteuropas hat für Moskau seit dem Beginn seines Angriffskrieges weiter an Bedeutung gewonnen. Serbien, das größte Land der Region, will sich den EU-Sanktionen gegen Russland nicht anschließen. Im EU-Land Ungarn, das die Sanktionen – mit gewissen Ausnahmeregelungen – bislang mittrug, poltert der wortgewaltige Autokrat Viktor Orbán gegen den Westen und die Ukraine. Die von Orbán kontrollierten Medien verbreiten weitgehend russlandfreundliche Narrative. Sowohl Serbien als auch Ungarn sind in höchstem Maße von Öl- und Gaslieferungen aus Russland abhängig. Das Erdgas erhält Ungarn – anders als etwa Österreich und Deutschland – ohne Abstriche. Zuletzt erhielt Budapest sogar einen teilweisen Zahlungsaufschub. „Den brauchten wir schon wie einen Brocken Brot“, meinte ein Energieexperte mit Einblick in die Lage gegenüber dem ungarischen Recherche-Portal „direkt36“. Orbán verpulverte Euro-Milliarden für Wahlgeschenke vor den Parlamentswahlen im April und leerte damit die Staatskasse. Über den politischen Preis, den er für den russischen Zahlungsaufschub bezahlen wird, lässt sich vorerst nur spekulieren.
Dass Moskaus hybride Kriegsführung auf dem Balkan in Waffengänge umschlagen könnte, gilt dennoch als ausgeschlossen. Oder vielleicht doch nicht ganz? Der bosnische Sicherheitsexperte Ismet-Fatih Čančar, Absolvent des King’s College in London, geht davon aus, dass eine Abspaltung der Serben-Republik in einen Krieg münden würde. Der Reststaat würde die Republika Srpska im Augenblick der Sezessionserklärung als besetztes Gebiet betrachten und die bosnische Armee losschicken. Es sei kein völlig unwahrscheinliches Szenario, gibt Čančar zu bedenken. Denn: „Wenn Russland nach dem 24. Februar innerhalb von 72 Stunden, so wie es ursprünglich geplant war, Kiew eingenommen hätte, hätte die Republika Srpska die Sezession erklärt.“
Alle Augen sind auf die Ukraine gerichtet. Nicht zu Unrecht. Dennoch sollte man den Balkan nicht aus dem Blick verlieren.