Der Fantasiestaat Groß-Albanien und die Fußball-Schlacht von Belgrad
Die Provokation kam von ganz oben: Die erste Halbzeit des EM-Qualifikationsspiels zwischen Serbien und Albanien war fast vorbei, als Dienstag vergangener Woche am Abendhimmel über dem Belgrader Partizan-Stadion eine Drohne auftauchte. Das unbemannte, ferngesteuerte Flugobjekt zog ein Transparent unter sich her und setzte zum Sturzflug auf den Fußballrasen an.
Schlägerei auf dem Spielfeld
Wenig später musste das Match abgebrochen werden: Auf dem Spielfeld lieferten sich Teams und Zuschauer eine wüste Schlägerei, albanische Spieler und Zuschauer mussten unter Polizeischutz in Sicherheit gebracht werden. Gleichzeitig strömten 500 Kilometer entfernt Serben und Albaner auf die Straßen von Wien-Ottakring. Sie hatten den Vorfall im Fernsehen mitverfolgt und begannen nun, aufeinander einzuprügeln.
Es war das Fetzchen Stoff unter der Drohne, das die Emotionen so hochgehen ließ. Darauf zu sehen: die Porträts zweier bärtiger Männer aus dem 19. Jahrhundert - die Nationalisten Isa Boletini (1865-1916) und Ismail Qemal (1844-1919); und die Umrisse des blutrot eingefärbten Territoriums von Groß-Albanien.
Groß-Albanien? Das Land, das in den Köpfen von Hardlinern herumspukt, umfasst nicht nur die Republik Albanien, sondern auch Teile Griechenlands, Mazedoniens und Montenegros, den gesamten Kosovo und das südliche Serbien. Überall dort leben ethnische Albaner. In Mazedonien stellen sie beispielsweise ein gutes Drittel der Bevölkerung.
Fantasiestaat mit nur wenig Rückhalt
Allein die Erwähnung des Fantasiestaats lässt jene Serben, die den faktischen Verlust des albanisch dominierten Kosovo durch eine NATO-Militärintervention vor 15 Jahren noch immer nicht verwunden haben, rot sehen. Dabei hat die Idee in Albanien und im Kosovo selbst nur wenig Rückhalt. Als der Philosoph Koco Danaj im vergangenen Juli eine einschlägige Unterschriftenaktion startete, hoffte er auf eine Million Befürworter. Er wurde offenbar enttäuscht, denn seither hat man kein Wort mehr von der Forderung gehört.
Die Regierung in Tirana hält ohnehin nichts davon. Geführt wird sie von Edi Rama, einem Europa-affinen Sozialisten, der diesen Mittwoch zum ersten Staatsbesuch seit 68 Jahren in Serbien erwartet wird. Sein jüngerer Bruder Olsi war unter den Zuschauern im Partizan-Stadion, als der Drohnen-Angriff erfolgte - und wurde umgehend verdächtigt, die Drohne gesteuert zu haben. Darauf deutet allerdings nichts hin, zumal keiner der beiden Ramis bislang nationalistische Tendenzen gezeigt hat. "In der Vergangenheit immer wieder unterstellte Bestrebungen nach einem, Groß-Albanien sind kein Element der albanischen Außenpolitik, stellt auch das deutsche Außenministerium in seinen Länderinformationen lapidar fest.
Die Polit-Clans im Kosovo sind wiederum so glücklich, endlich über einen eigenen Staat herrschen zu können, dass sie nicht einmal im Traum daran denken, ihre Unabhängigkeit für die abstruse Idee der Eingliederung in ein albanisches Großreich aufzugeben.
Serbien will in die EU
Und die Regierung in Belgrad hängt den serbischen Großmachtträumen, für die der spät-kommunistische Herrscher Slobodan Milosevic in den 1990er-Jahren blutige Kriege vom Zaun gebrochen hatte, längst nicht mehr an. Derzeit sind in Belgrad zwar Figuren aus dem zweiten Glied des Milosevic-Regimes an der Macht: etwa Ministerpräsident Aleksander Vucic, ehemals Informationsminister unter Milosevic, und Außenminister Ivica Dacic, einst dessen Sprecher. Sie haben freilich ihre Rhetorik geändert, sich auch politisch den neuen Zeiten angepasst und wollen ihr Land nun in die EU führen.
Dennoch: Einen Nerv trifft die nationalistische Idee ethnisch reiner Siedlungsräume am Balkan durchaus. Dort wird nicht nur von Groß-Albanien deliriert, sondern auch von Groß-Serbien und von Groß-Kroatien und in der unmittelbaren Nachbarschaft auch noch von Groß-Ungarn. Diese Utopien erinnern "an die ungebrochene Tradition des Kleinstaaten-Imperialismus, an die ( ) bis heute erschreckende Wirksamkeit der über Generationen gepflegten Vorurteile und Feindbilder, schrieb der österreichische Publizist Paul Lend-vai bereits in seinem Buch "Zwischen Hoffnung und Ernüchterung - Reflexionen über den Wandel in Osteuropa - eine Einschätzung, an der sich 20 Jahre und drei Kriege später wenig geändert hat.