Der Gegenschlag: Analyse zur Frühlingsoffensive der Ukraine
I. Die Frühjahrsoffensive – möglicher Vorstoß im Süden
Manchmal kommt es auf die Witterung an, gerade in einem Bodenkrieg. Für das Frühjahr hat die Ukraine eine große Offensive geplant – und bald dürfte es so weit sein: Der Westen hat Material geschickt, Bergungsfahrzeuge etwa und Brückenlegepanzer, damit die Kampfpanzer der Ukraine die tiefen Gräben, die der Feind in die Erde gezogen hat, überwinden können. Auch Kampfpanzer haben die EU und die USA bereits geliefert. Doch diese Fahrzeuge aus dem Westen sind besonders schwer. Damit sie unterwegs nicht stecken bleiben, muss erst die „Schlammphase“ nach der Schneeschmelze vorübergehen. Die Böden müssen trocknen.
Wie genau die Frühjahrsoffensive aussehen wird, ob es sich um eine große oder mehrere kleine handeln wird, darüber lässt sich nur spekulieren. Die militärstrategisch günstigste Variante würde sich laut Experten im Südosten abspielen: Gelingt der ukrainischen Armee ein Vorstoß von Saporischschja Richtung Süden über Melitopol bis zum Asowschen Meer, könnten die russischen Truppen geteilt werden (siehe Karte). Gelingt es weiter, die Kertsch-Brücke zu bombardieren – jenes Nadelöhr, das die Krim mit Russland verbindet –, wäre das der größte Erfolg der Ukrainer bisher. „Eine
Teilung der Truppen würde Russland vor große Probleme bei der Versorgung stellen“, sagt Militärexperte Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer. „Es würde Russland den Krieg in der Form unmöglich machen und könnte den Kreml sogar zum Einlenken bringen.“
Doch auch die Russen treffen Maßnahmen: Sie haben ihre Verteidigungslinien nördlich von Melitopol ausgebaut. „Die Ukraine muss versuchen, die Russen zu täuschen“, sagt Reisner. Denkbar sei ein Täuschmanöver durch eine amphibische Anlandung im Süden oder einen Angriff im Norden – um dann, mithilfe der Aufklärung durch die USA, woanders durchzubrechen.
II. Was braucht die Ukraine jetzt?
Rund sieben Millionen Granaten soll Russland seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine bereits verschossen haben – eine schier unglaubliche Menge. Während Russlands Arsenal noch etwa zehn Millionen Stück umfassen dürfte, gehen der Ukraine bald die Flugabwehrraketen aus. Das betrifft vor allem Artilleriegeschosse („Granaten“) mit 155-Millimeter-Kaliber.
Laut den vergangene Woche durchgestochenen US-Geheimdienstdokumenten seien die Reserven spätestens Ende Mai „vollends erschöpft“. Deshalb haben 17 EU-Staaten und Norwegen beschlossen, der Ukraine in den kommenden zwölf Monaten eine Million Granaten zu liefern. „Die Produktion dieser Granaten ist der erste Versuch der Europäer, in eine Art Kriegswirtschaft überzugehen“, sagt Reisner. Die Lieferungen reichen nur aus, wenn die Russen nicht nachstocken. „Sollten sie die Produktion erhöht haben, können sie diesen Krieg noch länger führen.“
Neben Artilleriemunition mit einem Kaliber von 155 Millimetern braucht die Ukraine Flugabwehrsysteme zum Schutz der kritischen Infrastruktur. Bisher konnten 60 bis 80 Prozent der Raketen abgefangen werden. „Doch die alten Flugkörper aus der Sowjetzeit gehen langsam zur Neige“, sagt Reisner. Nötig wären mehr westliche Modelle wie das Flugabwehrsystem IRIS-T.
Für die Frühjahrsoffensive benötigt die ukrainische Armee wiederum Kampfpanzer. Deutschland hat 18 Leopard-2-Panzer geschickt, auch andere europäische Länder haben „Leoparden“ geliefert, insgesamt dürften es mehr als 60 Stück sein. Aus Großbritannien kamen mindestens 14 Challenger-Panzer, aus den USA 31 Abrams-Kampfpanzer. Damit sie Hindernisse überwinden können, sind Brückenlegepanzer (zur Überwindung von Panzergräben) und Minenräumungspanzer nötig – und davon hat die Ukraine nicht genug.
Die Schwierigkeiten bei der Aufstockung der Truppen und Ausrüstung lässt offenbar auch die USA am Erfolg der Frühjahrsoffensive zweifeln. Laut geleakten Dokumenten aus dem Pentagon könnte Kiew seine militärischen Ziele „weit verfehlen“. Das liegt auch daran, dass ein großer Teil der kampferprobten ukrainischen Soldaten in den mittlerweile fast 14 Kriegsmonaten gefallen ist.
Aus den geleakten Dokumenten geht hervor, dass die USA neben einem Sieg der Ukraine auch eine Patt-Situation für möglich halten. „Überraschend ist das nicht“, findet Reisner.
Das Datenleck könnte laut dem Experten sogar kriegsentscheidend sein. Aus
den Dokumenten geht hervor, dass die Amerikaner Informationen aus dem Machtzentrum Russlands haben: Die USA wussten etwa, wo genau die Russen Objekte der kritischen Infrastruktur angreifen werden und konnten so die Ukraine warnen. „Wenn das jetzt versiegt, weil Russland die Lücken schließt, dann ist der Informationsvorsprung nicht mehr da“, sagt Reisner. Für die Ukraine kann das sehr gefährlich werden.
III. Wie steht es um die Truppenstärke des ukrainischen Heeres?
Für Verwirrung sorgten die Zahlen zu den gefallenen Soldaten in den geleakten US-Geheimdienstdokumenten. In der mutmaßlichen Originalversion ist die Rede von rund 43.000 russischen und 17.500 ukrainischen Gefallenen, das deckt sich grob mit den Schätzungen von Experten; in einer zweiten, auf Telegram verbreiteten Version wurden die Zahlen offenbar zugunsten Russlands manipuliert.
Sicher ist: Beide Seiten haben seit Beginn der Invasion hohe Verluste erlitten. Wie viele Soldaten sind noch einsatzfähig?
„Das ist sehr schwer zu sagen“, sagt Reisner, „niemand kennt die genaue Zahl der Toten, Vermissten und Verwundeten.“ Fakt sei: „Hier tritt ein 144-Millionen-Einwohner-Land gegen eines mit 40 Millionen an.“ Die Moral der Ukrainer dürfte zwar deutlich höher sein als jene der Russen, doch habe die Ukraine viele Eliteeinheiten verloren. „Auf beiden Seiten sind jetzt Reservisten im Einsatz.“ Das Potenzial dürfte in Russland bei zwei, in der Ukraine bei einer Million Reservisten liegen.
Wehrfähige Männer von 18 bis 60 Jahren gibt es viele. Doch diese müssen erst ausgebildet werden – und erfahrene Berufssoldaten werden sie auch dann nicht sein.
„Eine Teilung der Truppen würde Russland vor große Probleme bei der Versorgung stellen. Es würde Russland den Krieg in der Form unmöglich machen und könnte den Kreml sogar zum Einlenken bringen.“
Markus Reisner, Militärexperte
IV. Umkämpftes Land: Was wird aus Bachmut?
Meter für Meter rückt die russische Armee seit vergangenem Sommer in Bachmut vor, der Durchbruch gelang ihr bisher aber nicht. „Sie haben die Ukrainer in einen Stellungskrieg gezwungen, der den Verteidigern viel abverlangt – Ressourcen und Manpower, die anderswo fehlen, allen voran bei der geplanten Frühjahrsoffensive“, erklärt Reisner.
Der Kampf um Bachmut kostet aber auch die Russen massiv an Material und Menschenleben. Weil die ukrainische Armee drohte, die Zangenbewegung der russischen Truppen an der Flanke anzugreifen, haben sich die Kämpfe in die Stadt verlagert. Die Schlacht um Bachmut ist zu einem Häuserkampf geworden; zwischen 70 und 80 Prozent der Stadt sind in russischer Hand.
Dabei ist Bachmut strategisch nicht von besonderer Bedeutung. Rund 1000 Meter westlich der Stadt stehen auf Hügeln die nächsten Verteidigungsanlagen. Sollte Bachmut fallen, könnten die Ukrainer sich dorthin zurückziehen.
Wieso also wird dermaßen verbissen um die Stadt gekämpft?
„Das hat vor allem politische Gründe“, meint Reisner. Nach den Erfolgen der ukrainischen Armee bei der Rückeroberung von Cherson und Charkiw versprach
Präsident Wolodymyr Selenskyj, keinen Meter mehr zurückzuweichen. Kiew argumentiert auch damit, in Bachmut russische Kräfte zu binden und den Feind „abzunutzen“. Geschwächt werden aber freilich auch die Ukrainer. „Die Russen setzen Leute ein, die entbehrlich sind, nämlich Soldaten der Wagner-Gruppe“, sagt Reisner. „Die Eliteeinheiten der Ukraine, die in Bachmut kämpfen, sind weniger entbehrlich.“
Jahrgang 1978, ist Leiter der Forschungs-und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit Kommandant der Garde des Österreichischen Bundesheeres. Reisner studierte Rechtswissenschaften und Geschichte in Wien. Zuletzt erschien im Kral Verlag mit "Die Schlacht um Wien 1945" sein Buch über die "Wiener Operation" der sowjetischen Streitkräfte im März und April 1945.
V. Wann und wie kann der Krieg enden?
Bei den traditionellen Friedensmärschen zu Ostern ging es dieses Jahr vor allem um eines: den Krieg in der Ukraine. In vielen Städten Europas gingen Menschen auf die Straße, um Friedensverhandlungen und einen Waffenstillstand zu fordern. Die Bedingungen Russlands dafür kennt man: Anerkennung aller bisherigen Annexionen inklusive des gesamten Donbas, Sturz der Regierung in Kiew („Entnazifizierung) – kurz: die Kapitulation der Ukraine. Für den Westen war das bisher keine Option, er unterstützt die Ukraine, damit sich das Land gegen den Aggressor zur Wehr setzen kann. Noch sind beide Seiten überzeugt, den Krieg gewinnen zu können – und haben daher auch kein Interesse an Verhandlungen.
Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?
„Nur, wenn es gelingt, die Russen auf die Linien von vor der Invasion zurückzudrängen“, sagt Reisner – und warnt davor, den Kreml in seinen imperialistischen Bestrebungen gewähren zu lassen. „Schafft es Russland, sich große Gebiete einzuverleiben, dann kann das Schule machen.“
Aus den geleakten Dokumenten geht hervor, dass die USA neben einem Sieg der Ukraine auch eine Patt-Situation für möglich halten. „Überraschend ist das nicht“, findet Reisner.
Das Datenleck könnte laut dem Experten sogar kriegsentscheidend sein. Aus den Dokumenten geht hervor, dass die Amerikaner Informationen aus dem Machtzentrum Russlands haben: Die USA wussten etwa, wo genau die Russen Objekte der kritischen Infrastruktur angreifen werden und konnten so die Ukraine warnen. „Wenn das jetzt versiegt, weil Russland die Lücken schließt, dann ist der Informationsvorsprung nicht mehr da“, sagt Reisner. Für die Ukraine kann das sehr gefährlich werden.