Der große Bluff mit den Abschiebungen
Von Siobhán Geets und Clemens Neuhold
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Die erste Strafe kommt per SMS. Eine der unzähligen Radarsäulen, die im gesamten Hügelland Ruandas scharfgestellt sind, hat 70 statt 60 km/h gemessen. Die zweite Strafe kommt mit Videobeweis: Bei einem Zebrastreifen in der Hauptstadt Kigali haben wir nicht gewartet, bis die Fußgänger mit beiden Beinen am anderen Ende angekommen sind. Die Verkehrsstrafen sind transparent im Netz abzurufen und nur ein Beleg für die Entwicklung, die Ruanda seit seiner dunkelsten Stunde vor bald 30 Jahren hingelegt hat. 1994 schlachteten Angehörige der Hutu-Volksgruppe auf Anordnung der Regierung 800.000 Tutsi ab – meist mit Macheten. Der Völkermord machte das kleine Land im Herzen Afrikas zum Sinnbild für archaische Rückständigkeit.
Fast 30 Jahre später ist Ruanda zum Hoffnungsträger avanciert. Das Land soll helfen, den Gordischen Knoten in der europäischen Flüchtlingspolitik zu durchbrechen: Pro Jahr kommen Hunderttausende Menschen übers Mittelmeer in die EU, Tausende ertrinken bei der Überfahrt, und von jenen, die es schaffen und kein Asyl erhalten, wird nur ein Bruchteil in die Heimat zurückgebracht. Das Ziel der EU-Kommission aus dem Jahr 2018, zwei Drittel der abgelehnten Asylwerber heimzuschicken, erwies sich als große Illusion: In immer weniger Länder kann abgeschoben werden, Herkunftsstaaten nehmen ihre Staatsbürger kaum zurück, Asylwerber tauchen ab.
Daher treibt Großbritannien seit 2021 das „Ruanda-Modell“ voran: Migranten, die über den Ärmelkanal nach England kommen, sollen nach Ruanda abgeschoben werden. Erst dort könnten sie einen Asylantrag stellen. Das soll das Geschäft der Schlepper zerstören. Mehreren EU-Ländern, darunter Österreich, gefällt dieser Plan – dem Höchstgericht in London allerdings nicht. Es hat das Vorhaben vorerst gestoppt. Doch die Politik will sich nicht abhalten lassen: Der britische Premier Rishi Sunak will das Gericht per Notfallgesetz overrulen. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) meinte vor wenigen Tagen, sie sehe nach wie vor Chancen für das „Ruanda-Modell“. Ihr österreichischer Amtskollege Gerhard Karner von der ÖVP sagte in den „Salzburger Nachrichten“: „Es muss nicht Ruanda sein.“ – Asylausweichquartiere in Drittstaaten hält er nach wie vor für eine gute Lösung.
Rechte Welle folgt auf Flüchtlingswelle
Die Zeit für neue Lösungsmodelle wird knapp. Im Juni 2024 finden EU-Wahlen statt. Regierungsparteien wie die ÖVP stehen unter massivem Druck der Rechtspopulisten, die in ganz Europa Wahlerfolge feiern. In Italien wurde Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia vor einem Jahr Ministerpräsidentin, in den Niederlanden hat Islam-Hasser Geert Wilders die Parlamentswahlen im November gewonnen, und in Österreich führt die FPÖ die Wahl-umfragen deutlich an.
Die rechte Welle in Europa ist mitgetragen vom Grundgefühl, dass Europa die Kontrolle über die Zuwanderung verloren hat und die falschen Menschen anzieht. Muslimischer Antisemitismus, der sich seit dem Israel-Gaza-Krieg auch in Europa offen Bahn bricht, auf Demos oder Social-Media-Kanälen, verstärkte diese Überzeugung.
Unter dem Druck von Rechts gibt Innenminister Karner den Law-and-Border-Minister und will den Eindruck erwecken, dass Österreich bereits konsequent abschiebt. Die Asylanträge seien heuer um 50 Prozent gesunken, die Abschiebungen um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, vermeldete sein Ministerium. Doch ein Blick hinter das Zahlenwerk zeigt: Die wahre Abschiebebilanz ist negativ. Menschen, die übers Mittelmeer oder die wieder sperrangelweit offene Balkanroute nach Österreich kommen, können immer schwerer rückgeführt werden. Stattdessen wurde Österreich zum Hafen für Flüchtende aus Syrien oder Afghanistan, für die laut EU-Asylregelwerk andere EU-Staaten zuständig wären. Und bei den Asylanträgen in der EU liegt Österreich pro Kopf gemessen mittlerweile auf Platz 2 hinter der Mittelmeerinsel Zypern, von der die meisten Asylwerber rasch weiterziehen.
Heuer gibt es mehr Dublin-Abschiebungen nach Österreich als im Jahr 2022
„Es kommen zu viele. Wir müssen im großen Stil abschieben“, sagte Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor wenigen Wochen und tönte damit neuerdings wie der türkise Innenminister Karner. Doch Abschiebungen im großen Stil sind eine Illusion – aus fünf Gründen.
1) Die Menschenrechtslage in „sicheren“ Drittstaaten
Die Hauptverkehrsrouten, die aus dem Zentrum Kigali an die Landesgrenzen Ruandas führen, wirken frisch asphaltiert. 25 Kilometer südlich der Hauptstadt steht eine neue Siedlung mit Hunderten Wohnungen, finanziert von der britischen Regierung. Sie hat bisher 160 Millionen Euro zur Vorbereitung des Flüchtlingsdeals nach Kigali überwiesen. Pro Abgeschobenem ist Großbritannien bereit, bis zu 200.000 Euro aufzuwenden.
Ruanda nahm in den vergangenen Jahren bereits mehr als 100.000 Flüchtlinge aus umliegenden Krisenherden wie Kongo, Sudan oder Eritrea auf – ohne annähernd starke Finanzspritzen. Der afrikanische Tigerstaat lässt keine Zweifel daran, dass es ein paar Tausend zusätzliche Migranten, die Großbritannien und andere EU-Länder zur Abschreckung nach Afrika schicken möchten, locker aufnehmen kann.
Die Hürde: Menschenrechte. Das Londoner Höchstgericht kam zum Schluss, dass der seit dem Jahr 2000 von Präsident Paul Kagame autoritär regierte Staat keine Asylverfahren nach britischen Rechtsstandards garantieren kann. Eine Auslagerung sei daher unrechtmäßig. An der Hürde könnten auch Deals mit weiteren Drittstaaten scheitern, die sich bereit erklären, Europa aus der Asyl-Patsche zu helfen. Die Hoffnung lag unter anderem auf Tunesien. Doch das Land nimmt selbst die eigenen Staatsbürger kaum zurück und verzögert ein Abkommen zur Bekämpfung der Schlepperei übers Mittelmeer, für das die EU Hunderte Millionen springen lassen würde.
Der Salzburger Migrationsforscher Gerald Knaus, Architekt des EU-Türkei-Flüchtlings-Deals, glaubt dennoch fest an das „Ruanda-Modell“. Er schlägt vor, dass das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen UNHCR Asylverfahren im Land durchführt, in Einklang mit den Menschenrechten. Das UNHCR winkt jedoch ab. Das Tauziehen geht weiter.
2) Der statistische Bluff von „25 Prozent mehr Abschiebungen“
Glaubt man der Abschiebestatistik von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), schiebt Österreich bereits im großen Stil ab: Das Ministerium verkündete eine „Steigerung der Außerlandesbringungen um 25 Prozent“ gegenüber dem Vorjahr.
Am 15. November berichtete die Austria Presse Agentur: „Die Zahl der Österreich verlassenden Flüchtlinge ist heuer deutlich gestiegen. Von Jänner bis Ende Oktober erfolgten laut aktuellen Zahlen des Innenministeriums insgesamt 10.478 Außerlandesbringungen, davon 5496 freiwillige (52 Prozent) und 4982 zwangsweise Ausreisen (48 Prozent).“ Bei 22.000 negativen Asylentscheidungen bis Ende Oktober klingt das nach einem wahren Abschiebe-Boom.
Fast alle Medien berichteten über die 10.000 Abschiebungen. Karner konnte zufrieden mit der medialen Ausbeute sein. Im Kampf mit der FPÖ um rechte Wähler ist Härte bei Abschiebung für ihn Pflichtübung. Selbst das blaue Urgestein Andreas Mölzer, der auf eigene Faust zu den Taliban nach Afghanistan fuhr, um – so seine Begründung – die Möglichkeit von Abschiebungen auszuloten, konstatierte in seiner Kolumne in der „Kronen-Zeitung“: „Da scheint sich in der Migrationspolitik der Bundesregierung endlich etwas in die richtige Richtung zu bewegen.“
Doch Karners Statistik ist eine Schimäre. Wie schon frühere Innenminister profitiert er davon, dass sie selten genau gelesen wird und die Realität in einem Ausmaß verzerrt wie kaum ein anderes Zahlenwerk der heimischen Verwaltung. Ein Test: Woran denken Sie bei Abschiebungen? A) An Afghanen, Syrer, Nigerianer, die von Polizisten ins Flugzeug Richtung Heimat gesetzt werden? B) Oder an EU-Bürger wie Slowaken, Ungarn, Tschechen, die das Land im Bus verlassen?
B ist richtig. Drei Viertel der zwangsweisen Rückführungen finden im Bus und nicht im Flugzeug statt.
Es kommen zu viele. Wir müssen im großen Stil abschieben.
In der Statistik des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über die ersten drei Quartale 2023 machen EU-Bürger aus Osteuropa rund 70 Prozent der zwangsweisen Abschiebungen in den ersten drei Quartalen aus. Ein Drittel davon waren Slowaken mit 1000 Abgeschobenen. Dem stehen gegenüber: 92 Nigerianer, 79 Inder, 28 Marokkaner, neun Pakistani. Weitere Nationalitäten außerhalb Europas konnten nicht ausgewertet werden, weil das Ministerium nur die Top-20-Länder nennt. Der Rest: unter Verschluss.
Nordafrikaner sind in Schubhaftzentren stark vertreten, abgeschoben werden sie kaum. Aus einer Parlamentarischen Anfrage des FPÖ-Abgeordneten Hannes Amesbauer ist ersichtlich, dass im Jahr 2022 nicht mehr als sieben Tunesier, zehn Ägypter und 27 Marokkaner zwangsweise heimgeschickt wurden.
Zusammen mit Abschiebungen in Nicht-EU-Staaten wie Serbien, Georgien oder Moldau entfallen 90 Prozent der zwangsweisen Rückführungen auf Europäer. Nur 350 oder zehn Prozent der Abschiebungen gingen bis September in Staaten im Nahen Osten oder Afrika, obwohl aus diesen Weltregionen ein guter Teil der heuer bisher rund 22.000 abgelehnten Asylwerber stammt. Viele dieser Menschen tauchen als U-Boote unter oder ziehen in andere EU-Staaten weiter.
Die viel zitierten Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten sind in der Abschiebestatistik eine Randnotiz. Dominiert wird sie von Europäern.
Die Statistik ist deswegen so irreführend, weil sie auch Menschen aus Osteuropa in Österreich umfasst, die in den seltensten Fällen um Asyl angesucht haben. Es sind Obdachlose, illegal Beschäftigte oder Prostituierte; allesamt Menschen, die wegen Strafhandlungen oder der Störung der öffentlichen Ordnung ausgewiesen und mit einem Aufenthaltsverbot belegt werden. Sie werden mit dem Dr.-Richard-Reisebus in die Nachbarländer gefahren oder vor der Grenze in einen Zug gesetzt, der in Österreich nicht mehr hält. Nicht selten nehmen diese Abgeschobenen den nächsten Zug oder Bus wieder zurück nach Österreich. Je öfter sie pendeln und dabei von der Polizei aufgegriffen werden, desto besser für Karners Abschiebestatistik.
Warum das Innenministerium nicht zwischen Rückführungen innerhalb der EU und anderen Kontinenten unterscheidet oder Asylabschiebungen vom Rest abgrenzt, argumentiert ein Sprecher so: „Das kann nicht ausgewertet werden.“ Die Asylsprecherin der NEOS, Stephanie Krisper, hält das für vorgeschoben und drängt auf eine detailliertere Abschiebestatistik, die ein klareres Lagebild ermöglicht.
3) Österreich als Endstation für durchgewinkte Asylwerber
Eine weitere Verzerrung in Karners Statistik: Sie umfasst auch Flüchtende, die in andere EU-Länder zurückgeschickt wurden, weil diese für die Asylverfahren zuständig sind. Laut Dublin-III-Verordnung sollen die Asylverfahren dort stattfinden, wo Asylwerber als Erstes EU-Boden betreten haben. Ein Beispiel für eine Dublin-Abschiebung: Afghanen, die nachweislich über die Slowakei nach Österreich kommen – und deshalb dorthin zurückgeschickt werden.
In den ersten drei Quartalen 2023 wurden 990 Flüchtlinge in andere EU-Länder zurückgebracht. Doch auch diese Zahl trügt. Ihr steht eine weit höhere Zahl an Asylwerbern gegenüber, die aus anderen Ländern nach Österreich zurückgeschickt wurden. Es waren 1656. Das ergibt eine negative Bilanz im EU-Flüchtlingstransfer von 666 Personen. „Heuer gab es bereits deutlich mehr Dublin-Abschiebungen nach Österreich als 2022“, wundert sich Lukas Gahleitner von der „Asylkoordination“.
Bis 2022 hatte Österreich laut Innenministerium eine traditionell positive Dublin-Bilanz. Das ist für ein Binnenland, das nicht an der EU-Außengrenze liegt, nur logisch. Doch Österreich darf aus Menschenrechtsgründen seit 2017 nicht nach Ungarn, seit 2011 nicht nach Griechenland abschieben. Italien nimmt seit 2022 keine Asylwerber mehr zurück. Auch nach Rumänien oder Bulgarien stocken Rückführungen, obwohl heimische Behörden die Zuständigkeit für Asylverfahren in Tausenden Fällen dort vermuten. Auf der anderen Seite hat insbesondere Deutschland die Dublin-Abschiebungen von Syrern, Afghanen, Marokkanern oder Indern nach Österreich forciert und greift dabei – so ein Vorwurf von NGOs – auch zu illegalen Pushbacks (siehe Seite 16).
Wer das Kalifat ausrufen will, hat bei uns nichts verloren.
Fazit: Während Österreich diese Menschen kaum abschiebt, ist es zur Anlandeplattform für Dublin-Migranten aus anderen EU-Ländern geworden.
4) Gerade Islamisten oder Antisemiten werden nicht abgeschoben
„Wer das Kalifat ausrufen will, hat bei uns nichts verloren“, donnerte NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger Mitte November. Nach „voller Härte gegen Hassprediger und Gewalttäter“ sowie konsequenten Rückführungen von Menschen ohne Asylgrund ruft neuerdings auch SPÖ-Chef Andreas Babler. In Bayern wünscht sich Ministerpräsident Markus Söder von der CDU „prioritäre Turboabschiebungen von Menschen, die unsere Verfassung infrage stellen“.
Der Haken an der Sache: Bei den Debatten um eingewanderten Antisemitismus oder Islamismus geht es in erster Linie um Flüchtlinge aus dem muslimischen Kulturkreis.
In muslimisch geprägte Länder wie Syrien, Afghanistan, Marokko, Algerien, Pakistan, Ägypten, Iran, Irak, Bangladesch, Somalia oder Tschetschenien kann jedoch nicht oder nur vereinzelt abgeschoben werden. Ins kriegsgebeutelte Syrien lässt es die Menschenrechtslage unter Diktator Bashar al-Assad nicht zu. In Afghanistan übernahmen 2021 die radikalislamistischen Taliban die Macht. Seither ist das Land Sperrzone für Abschiebungen. Wurden bis Jahresmitte 2021 noch 66 meist straffällige Migranten abgeschoben, mussten danach sieben bereits gebuchte Abschiebeflüge gecancelt werden. Nach Tschetschenien schob Österreich noch bis ins Jahr 2021 ab. Die Kaukasus-Republik ist Teil Russlands. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 herrscht Funkstille zwischen Russland und der EU – auch bei Abschiebungen. Theoretisch wären Rückführungen weiter möglich, heißt es aus dem Innenministerium. Doch die Flieger blieben am Boden.
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Fälle von Überstellungen von Asylwerbern aus Österreich erolgen in andere EU-Länder (Dublin-Verordnung)
Jedes Land ist völkerrechtlich verpflichtet, seine Bürger zurückzunehmen. Doch wenn ein Land Njet sagt, sind die restlichen Staaten machtlos. Somalia und der Iran nehmen prinzipiell keine Staatsbürger zurück. Mit Ländern wie Pakistan oder Bangladesch gibt es Rücknahmeabkommen auf EU-Ebene. Mit Marokko, Indien und Irak unterhält Österreich seit 2023 bilaterale Vereinbarungen, die das Innenministerium als „Meilensteine“ bezeichnet. Das Abkommen mit Tunesien ist schon älter. Damit ist Österreich weiter als viele andere EU-Länder. In der Praxis gleichen solche Deals meist On-off-Beziehungen.
1656
Asylwerber wurden aus anderen EU-Ländern nach Österreich überstellt
Die Konsequenz: Im Vorjahr musste fast jeder dritte bereits gebuchte Abschiebeflug abgesagt werden, weil die Zielländer am Ende doch keine Landegenehmigung erteilten oder zu viele Migranten im Vorfeld der Abschiebung untertauchten. Abgeschoben werden können außerdem nur Personen mit amtlichen Dokumenten. Für Migranten, die ihre Dokumente absichtlich wegschmeißen, um die Heimreise zu torpedieren, müssen erst neue Pässe besorgt werden. Dafür braucht es die Botschaften der Zielländer. Doch einige kooperieren nur sehr eingeschränkt. Geldtransfers von Migranten, die es nach Europa geschafft haben, sind für manche Familien in Nordafrika ein wichtiger Teil des Monatseinkommens. Auf diese Devisen wollen die Länder nicht verzichten. Andererseits liegt der Fokus von Abschiebungen oft auf Straftätern. Und deren Rückkehr ist denkbar unpopulär.
Aus all diesen Gründen hoben in den vergangenen Jahren tendenziell weniger Abschiebeflüge in Wien- Schwechat ab: Nach 42 im Jahr 2021 waren es im ersten Halbjahr 2023 elf.
5) Die EU driftet bei Asyl und Abschiebungen immer stärker auseinander
In der EU haben sich einige Länder mit ihrer Asylpolitik längst verselbstständigt. Italien will Migranten, die aus dem Mittelmeer gerettet werden, künftig in Albanien unterbringen. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden wollen kooperieren, um Abschiebungen voranzutreiben – und setzen teils auf Abschreckung: Dänemark nimmt Ankommenden Wertgegenstände weg und drängt selbst Syrer zur Heimreise. Wer freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehrt, bekommt Tausende Euro ausgezahlt. Schweden arbeitet an einem Gesetz, das Lehrer, Sozialarbeiter und Mitarbeiter im Gesundheitswesen zwingen soll, illegale Migranten zu melden. Ausländer, die weniger als 2300 Euro verdienen, verlieren ihre Aufenthaltsberechtigung. Und Ungarn nimmt Asylanträge erst gar nicht mehr an.
Auch Deutschland schmiedet eigene Pläne. Der „Sonderbeauftragte für Migrationsabkommen“ Joachim Stamp, FPD-Politiker und ehemaliger Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, pendelt zwischen Nordafrika und Südamerika, um Rückführungsabkommen zu verhandeln. Im Gegenzug soll es Reise-Erleichterungen geben, Stipendien und Arbeitsvisa. Solche Deals, von denen die Herkunftsländer der Asylwerber profitieren, will auch die türkis-grüne Regierung in Österreich forcieren.
Anders FPÖ-Chef Herbert Kickl. Sollte er Kanzler werden, will er nicht auf Diplomatie setzen, sondern Härte. Er nennt Flüchtlinge neuerdings nur noch „Völkerwanderer“ und will nach ungarischem Vorbild Asylanträge erst gar nicht mehr zulassen. Asylwerber, die bereits hier sind, will er abschieben. „Den handelnden Personen in Österreich und Brüssel fehlt nur der Mut, sich über Regelungen, die aus der Zeit gefallen sind, hinwegzusetzen und diese Menschen einfach nach Syrien und Afghanistan zurückzuschicken“, sagt er. Mit Regelungen meint Kickl die Spruchpraxis der EU-Gerichte und die Europäische Menschenrechtskonvention.
Sollten Bootsflüchtlinge nicht bald in Länder wie Ruanda zurückgeschickt werden, um die Massenflucht übers Mittelmeer zu stoppen, „kippt das gesamte Asylsystem“, warnt Migrationsforscher Knaus. Er spielt auf das individuelle Menschenrecht jedes Flüchtlings an, einen Asylantrag zu stellen. Ein Recht, das immer mehr rechte Politiker in Europa einfach ignorieren. Die Warnung scheint nicht übertrieben.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.