Nehammer-Reise nach Kiew: Der bewegendste Moment für den Kanzler
Bundeskanzler Karl Nehammer steht am Rande eines Grabes, rundherum eine Traube von Menschen: Personenschützer, ukrainische Soldaten, Diplomaten und Journalisten. Fünf Meter weiter ragt eine Hand aus der Erde, die Fingernägel sind blau, man sieht Anzeichen von Verwesung. Hier, auf einer Wiese vor der Sankt-Andreas-Kirche in der Stadt Butscha nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wurde vor zwei Tagen mit der Exhumierung begonnen. 21 Leichen fand man in diesem einen Grab, insgesamt sollen um die 150 Menschen im Garten der Kirche notdürftig verscharrt worden sein. Das sagt der Priester, der Nehammer an diesem regnerischen Samstagmittag zeigt, welchen Schrecken die russischen Truppen hinterlassen haben.
Rund 42.000 Menschen lebten vor Beginn des Kriegs in Butscha etwa 20 Kilometer nördlich von Kiew, heute dürften es nur noch ein paar Tausend sein. Einen ganzen Monat lang war die Stadt belagert. Etwa die Hälfte der Einwohner hat Butscha nach dem Einmarsch der Russen verlassen. Als die Soldaten vor knapp zwei Wochen abzogen, zeigte sich das volle Ausmaß des Schreckens. In den Straßen, Häusern und Gärten wurden mehrere hundert Leichen gefunden. Viele der Opfer waren gefesselt und gefoltert worden, etliche offenbar regelrecht hingerichtet. Auch Frauen, Alte und Kinder sind unter den Opfern.
Die Bilder aus Butscha haben die Welt erschüttert. Sie haben die Debatte darüber, ob der Westen genug tut, um die Ukraine zu unterstützen, weiter angefeuert. Kurz nachdem vergangene Woche die ersten Videos und Fotos aus Butscha in die Sozialen Medien gelangten, beschloss Nehammer, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew zu besuchen – als vierter Regierungschef nach Slowenien, Tschechien und Polen. Es ist, wie Nehammer sagt, „das, was mich in meinem politischen Leben bislang am meisten bewegt hat“.
Ob die Reise die Spannungen mit Moskau verschärfen würde, wird er gefragt. Nehammer antwortet mit auffallend scharfer Rhetorik: „Das ist das Problem der Russen und nicht meines.“
Mit dieser Ansicht ist der Bundeskanzler nicht allein. Am Donnerstag war die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen zu Besuch bei Selenskyj, am Samstag, wenige Stunden nach Nehammer, kam der britische Premier Boris Johnson nach Kiew, um mit Selenskyj zu sprechen und sogar durch die Stadt zu spazieren.
Großbritannien gehört zu den Ländern, die die meisten Waffen in die Ukraine liefern. Das kann Österreich aufgrund seiner Neutralität nicht. Auch ein Gasembargo kommt für die Regierung in Wien nicht infrage. Ein solches würde, sagt Nehammer, zu einer schweren Rezession in Europa führen – inklusive Massenarbeitslosigkeit und politischer Instabilität. „Ich mag das russische Gas auch nicht“, sagt er im Gespräch mit den Journalisten, „aber es hat in Europa für Wohlstand gesorgt, weil es so billig war.“ Bis zur Unabhängigkeit von den Rohstoffen aus Russland werde es Jahre brauchen.
„Wieso fahren Sie dann nach Kiew?“, lautet eine der ersten Journalistenfragen an den Kanzler während dieser Reise. Es ist eine gute Frage, die sich hier alle stellen. Mehr als 12 Stunden Zugfahrt sind es vom polnischen Przemyśl an der ukrainischen Grenze bis nach Kiew. Die Reise ist mit Sicherheitsrisiken verbunden, die Delegation wird von Beamten der Cobra und ukrainischen Soldaten geschützt. Komfortabel ist das alles nicht. Und der Besuch ändert auch nichts daran, dass Österreich weiterhin Gas aus Russland bezieht. „Die Ukraine kämpft für ihre territoriale Souveränität“, sagt Nehammer. Darin müsse man sie unterstützen, deswegen sei auch Von der Leyen hier gewesen.
Ist Nehammers Reise ins Kriegsgebiet also rein symbolischer Natur?
Nicht ganz, immerhin kann Nehammer verkünden, 20 Rettungsfahrzeuge, zehn Tanklöschfahrzeuge sowie Treibstoff zu schicken. Außerdem trage Österreich die EU-Sanktionen mit, so der Bundeskanzler, und es werde noch weitere Sanktionspakete geben, „mit dem Ziel, dass der Krieg endet“. Allerdings lassen die Ankündigungen Nehammers, wonach künftige weitere Sanktionsmechanismen „feingliedriger und zielsicherer“ sein würden im Umkehrschluss vermuten, dass sie nach den Wünschen des Kanzlers eher nicht massiver werden sollten.
Doch Selenskyj scheint sich gegenüber dem Gast aus Österreich damit zufrieden zu geben. Forderungen darüber hinaus stellt er bei der Pressekonferenz im Anschluss an das Gespräch mit Nehammer jedenfalls nicht.
Der emotionale Kanzler
In der Jablonska Straße im Zentrum von Butscha bietet sich ein postapokalyptisches Bild. Nirgends ist das Ausmaß der Verwüstung so groß wie hier. Die Häuser wurden allesamt dem Erdboden gleichgemacht, kaum eine Wand steht mehr. Ein halbes Dutzend ausgebrannte russische Panzer stehen herum. Der Boden ist bedeckt mit einer schwarzen Schicht aus Öl und Russ, der Regen hat einen klebrigen Schlick daraus gemacht.
Auf einer halbverfallenen Mauer sitzt eine Katze und raunzt einen patrouillierenden Soldaten an. Sie ist nicht das einzige herrenlose Haustier hier. Überall tummeln sich Katzen, ganze Rudel von Hunden laufen durch die Straßen. Mitten in einem Garten liegt die Luke eines Panzers, der Rest steht auf der Straße, darunter eingeklemmt ein weiteres Militärfahrzeug. Patronenhülsen liegen auf dem Gehsteig.
„Für die Ereignisse in Butscha fehlt uns der Sprachschatz“, sagt Nehammer später vor den österreichischen Journalisten. „Das verändert einen, auch mich, als ich heute dort war.“ Umso wichtiger sei die internationale Aufklärung und Strafjustiz, auch in anderen Städten, in denen die russischen Truppen wüteten. Bisher haben allerdings weder der Internationale Strafgerichtshof noch die Vereinten Nationen Experten zur Untersuchung des Massakers von Butscha geschickt.
Die Klitschkos
Bei der Pressekonferenz nach dem Treffen mit Selenskyj sagt Nehammer einen Satz, den die politischen Vertreter der Ukraine so oder so ähnlich jeden Tag hundertfach wiederholen: „Die finanziellen Schmerzen, die Österreich wegen der Sanktionen erleidet, sind nichts im Vergleich zu den Schmerzen der Ukraine.“
Ähnlich formuliert es wenige Stunden später Vitali Klitschko. „Jeder Cent, der nach Russland fließt, ist das Blut von Ukrainern“, sagt der Bürgermeister Kiews. Nehammer und Klitschko kennen einander seit 2019, der Kanzler hat die alten Boxhandschuhe des ehemaligen Profis in seinem Büro hängen. Die vergangenen Jahre standen sie lose in Kontakt, seit dem Beginn des Kriegs schreiben und telefonieren sie regelmäßig.
Klitschko schickt Nehammer Nachrichten und Neuigkeiten aus seinem Land über Messenger-Dienste. Die Bitte, Splitterschutzwesten und Helme zu schicken, die Österreich bekanntlich erfüllte, kam von ihm.
Klitschkos Bruder Wladimir möchte dem Kanzler und den österreichischen Journalisten auch noch etwas mitgeben: „Wenn wir fallen, fallt ihr auch.“ Er verstehe, dass ein Gasembargo schmerzhaft für Länder wie Österreich und Deutschland sei, aber: „Wir zahlen mit Blut, nicht mit Geld.“
Die Forderungen der Klitschkos nach noch härteren Sanktionen, allen voran nach einem Gasembargo, war für Nehammer, wie er später eingestehen wird, der schwerste Teil der Reise.
„Dass wir dazu nicht bereit sind, ist für die Ukrainer keine gute Nachricht“, sagt der Kanzler, „aber sie sind trotzdem bereit, meine Argumentation nachzuvollziehen.“ Von Österreich forderten die Klitschkos, dass „wir auf unterschiedliche Weise auf Russland einwirken“. Gemeint sind neben wirtschaftlichen Sanktionen etwa Druck auf Moskau, um einen Waffenstillstand zu erreichen und den Menschen die Flucht über humanitäre Korridore zu ermöglichen – vor allem jetzt, da im Osten der Ukraine Hunderttausende vor der erwarteten russischen Großoffensive fliehen.
„Das Treffen mit Bürgermeister Klitschko“, sagt Nehammer gegen Ende der Reise, „war ein emotionaler Abschluss. Es sei eine unglaubliche Leistung, eine Millionenstadt durch eine solche Krise zu führen.
Personenschützer im Kriegsgebiet
Zwanzig Journalisten begleiten Bundeskanzler Karl Nehammer auf seiner Reise nach Kiew. Für den Personenschutz sorgen sieben Cobra-Leute, dazu kommen ein Notfallsanitäter und ein Arzt. An der ukrainischen Grenze steigt ein Dutzend Soldaten zu. Sie werden die Österreicher während der nächsten 30 Stunden begleiten. Die gesamte Truppe ist schwer bewaffnet und trägt auch panzerbrechende Waffen.
Seit dem Rückzug der russischen Truppen in den Norden hat sich die Lage in Kiew zwar entspannt. Für die Beamten der Cobra ist die Reise des Bundeskanzlers aber dennoch außergewöhnlich. Zwar waren einige von ihnen bereits mit dem damaligen Außenminister Sebastian Kurz in Krisengebieten. Aber nicht in einem Krieg, wie er gerade in der Ukraine tobt. Da stehen sie nun mit ihren Maschinengewehren, Samstagmittag nach 12 Stunden Zugfahrt am Hauptbahnhof in Kiew neben ukrainischen Soldaten, und blicken sich nach allen Seiten um. Sie sehen, sofern man das durch die Masken beurteilen kann, beunruhigt aus.
Für die Personenschützer ist die Aufgabe „ein Horror“, wie es einer von ihnen gleich zu Beginn formuliert. Die Männer haben den Bundeskanzler, die Kabinettsmitglieder und 20 Journalisten zu bewachen, sind nicht ortskundig und können sich mit den ukrainischen Kollegen nur rudimentär verständigen. Rund um die Gruppe, heißt es bei der Anreise, gebe es „einen harten Schutzring“, den niemand verlassen dürfe. Einen praktischen Rat sollten die Journalisten noch beherzigen: Beim Besteigen der Fahrzeuge solle man möglichst schnell sein, vor allem, wenn es die Ukrainer eilig haben: „Das wird dann einen Grund haben.“
Für den Fall der Fälle, also wenn es Beschuss gibt oder in der Nähe kracht, haben die Cobra-Leute Nebelgranaten mitgenommen. Im Schutz des Nebels würde man den Rückzug antreten, so der Plan. Dazu kommt es zum Glück nicht – in Kiew bleibt es an diesem Tag ruhig. Doch der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Ein Großteil der Menschen auf der Straße trägt Uniform, die Parks und Plätze sind leer, die Fenster mit Sandsäcken gesichert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist geflohen.
Je näher man der Hauptstadt kommt, desto mehr Abwehrgräben und Panzersperren, Spähposten und Checkpoints sind zu sehen. Etliche Ortsschilder sind mit Planen verhängt.
Bei allem Schrecken gibt es auch Geschichten, die sich dem Horror entziehen.
Nehammer erzählt vom Treffen mit Verteidigungsminister Olexij Resnikow, der ihm von einem Vorfall in einer Roma-Siedlung erzählt habe. Russische Soldaten seien mit einem Panzer eingerollt, dann aber ausgestiegen. Die Roma nutzten die Gelegenheit, um den Panzer zu stehlen.
Alles in allem ist Kanzler Nehammer am Ende der Reise sichtlich mitgenommen. Das Grab in Butscha, die zerbombten Häuser und ausgebrannten Panzer – die Bilder gehen auch ihm nicht aus dem Kopf. „Ich habe heute für mich persönlich gelernt, dass es kein Limit gibt an schrecklichen Erfahrungen“, sagt er.
Es ist Samstag, kurz nach acht Uhr Abends, am Kiewer Bahnhof wartet der Zug, der die Delegation zurück nach Polen bringen wird. Auf dem Bahnsteig bleibt Nehammer kurz stehen und dreht sich zu den Journalisten um. Er spricht von der Wucht des Krieges und davon, wie ihm ein alter Spruch nicht mehr aus dem Kopf geht. „Der Mensch“, sagt er, „ist des Menschen Wolf“.