Der Mann, der Viktor Orbán zu Fall bringen will, hat weder eine politische Funktion noch ein Programm. Sein wichtigstes Werkzeug ist eine Facebook-Seite, der mittlerweile mehr als eine Viertelmillion Menschen folgen. In einem Posting teilt er das Cover eines ungarischen Magazins. Es zeigt ein verstopftes Abflussrohr und daneben eine Flasche mit Magyars Konterfei. Die Headline: „Der Saubermacher“.
Péter Magyar inszeniert sich als eine Art Alexei Nawalny der ungarischen Politik. Wobei Magyar selbst einmal Teil des Systems war, das er jetzt bekämpfen möchte.
„Es gibt einen Weg aus der Dunkelheit“, schreibt er in einem seiner zahlreichen Posts. Und: „Holen wir uns unser Land zurück!“
Péter Magyar war ein Günstling Orbáns. Der studierte Jurist leitete das Zentrum für Studentenkredite und war Leiter der EU-Rechtsabteilung in der Ungarischen Entwicklungsbank (MFB). Als Diplomat an der ungarischen Botschaft war er jahrelang in Brüssel stationiert. Noch wichtiger aber: Er war 16 Jahre lang mit der früheren Justizministerin Judit Varga verheiratet und hat drei Kinder mit ihr. Ausgerechnet dieser Mann fordert Viktor Orbán seit einigen Wochen öffentlich heraus. In Facebook-Postings wirft er ihm vor, einen korrupten Mafia-Staat errichtet und das Land unter einer Handvoll Familien aufgeteilt zu haben.
Diese Vorwürfe sind nicht neu. Die Opposition kritisiert seit Jahren die grassierende Korruption in Ungarn. Die EU hat aufgrund der mangelnden Rechtsstaatlichkeit Milliarden eingefroren. In keinem EU-Mitgliedsland deckt das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) so viele Fälle auf, bei denen Fördergelder missbräuchlich verwendet wurden, wie in Ungarn. Weil die Justiz als politisiert gilt, verlaufen die Verfahren im Sand. Péter Magyar hat jetzt einen Beweis vorgelegt, der ein solches Beispiel illustriert – auf höchster politischer Ebene.
Die ehemalige Justizministerin Ungarns ist Peter Magyars Ex-Frau.
Das Audio-Tape
Es handelt sich dabei um einen zwei Minuten langen Audiomitschnitt aus dem Jänner 2023. Zu hören ist Magyar im Gespräch mit seiner Ex-Frau Judit Varga, damals Justizministerin. Das Paar ist seit einem Jahr geschieden.
Varga spricht in der Aufnahme über einen Mann namens Antal Rogán, einen der mächtigsten Männer in Orbáns Umfeld. „Rogán ist sowohl für Geheimdienste als auch für Propaganda zuständig und so etwas wie Orbáns rechte Hand“, erklärt der Journalist Paul Lendvai, der Ungarns Politik seit Jahrzehnten beobachtet.
In der jetzt publik gewordenen Tonaufnahme sagt Judit Varga, dass besagter Rogán Ermittlungsakten manipulieren ließ. Im Wortlaut heißt es: „Sie gaben der Staatsanwaltschaft Anweisungen, was zu streichen ist, und die hielten sich daran.“
Dieser Satz hat in Ungarn ein politisches Erdbeben und Proteste ausgelöst.
„Wir sagen seit Jahren, dass die Justiz in Ungarn nicht unabhängig ist. Die Aufnahme beweist das eindrücklich. Die Justizministerin gibt zu, dass Politiker in Ungarn einfach so in das Büro eines Staatsanwaltes spazieren können, um Beweise aus Ermittlungen zu tilgen. In jedem anderen Land würde das eine Regierungskrise auslösen“, sagt etwa Katalin Cseh, die für die ungarische Oppositionspartei „Momentum“ im EU-Parlament sitzt.
Ungarns Regierungschef hat das Land seit 14 Jahren fest im Griff.
Judit Varga bestreitet die Echtheit der Aufnahme nicht, sagt aber, zu der Aussage gedrängt worden zu sein. Ihr Ex-Mann sei gewalttätig gewesen, habe sie manipuliert und mit der Aufnahme erpresst. Magyar bestreitet das. „Ich habe meiner Frau niemals etwas angetan“, sagt er dem „Guardian“.
Die von Orbán kontrollierten Medien bezeichnen Magyar als „narzisstischen Psychopathen“ und stellen die Affäre als Rosenkrieg dar. Aber immer mehr Menschen sehen in Magyar einen glaubwürdigen Whistleblower, der auspackt. „In Ungarn ist etwas in Bewegung geraten. Magyar wird das System nicht stürzen, aber er ist ein neues Gesicht. Nicht von links, sondern aus dem Inneren des Regimes. Er kommt aus einer bürgerlichen Familie, kann Reden halten, und die Massen scheinen ihn zu bewundern“, sagt Paul Lendvai. An diesem Samstag will Magyar Hunderttausende vor dem Parlament versammeln.
Was Magyar Orbán vorwirft
Wer verstehen will, wo Magyar herkommt und wo er hinwill, sollte sein erstes großes Interview mit dem unabhängigen und beliebten Internet-TV-Sender „Partizán“ gesehen haben. Magyar – weißes Hemd, Krawatte, gegelte Igelfrisur – sitzt in einem Studio und hält eine Kaffeetasse in der Hand, während er erzählt.
2002, als Orbán nach seiner ersten Ministerpräsidentschaft überraschend die Parlamentswahl verlor und die links-liberale Koalition für acht Jahre an die Macht zurückkehrte, sei er in die Fidesz-Partei eingetreten. „Von der Familie her war ich immer schon im nationalen Lager“, sagt er. Ferenc Mádl, der erste Staatspräsident aus dem konservativen Lager, der von 2000 bis 2005 amtierte, war ein Großonkel von ihm. „Doch unabhängig davon, wo ich herkomme und dass ich nie im anderen (Anm. links-liberalen) Lager stehen werde, muss es gesagt werden: So geht es nicht weiter! Wenn unsere Kinder nicht in einer Familien-Aktiengesellschaft namens Ungarn aufwachsen sollen, dann braucht es einen Wandel.“
Das Interview zählt mittlerweile über 2,5 Millionen Aufrufe, in einem Land, das knapp zehn Millionen Einwohner zählt.
Ein Talent, aber ein Populist
Und wer verstehen will, wo Magyar hinwill, sollte den Politikwissenschaftler Zoltán Lakner aus Budapest treffen. Er ist Miteigentümer und Herausgeber der Wochenzeitung „Jelen“ (Gegenwart), die mit ihren fundierten Analysen eine eher liberale Leserschaft anspricht. Die Redaktion liegt in einem der klassizistischen Bürgerhäuser am Josephsring im Zentrum von Budapest, die Zeitungsmacher teilen sich die hohen Räumlichkeiten des Altbaus mit einer Marketing-Agentur und einen Foto-Studio.
„Péter Magyar will, und das sagt er selbst, einen dritten politischen Block schaffen“, ist Lakners Befund. Er wolle Bürger ansprechen, die nach all den Jahren in Apathie und Passivität versunken, aber immer noch politisch interessiert sind. Er wolle unzufriedene Oppositionsanhänger und auch Fidesz-Wähler für sich gewinnen. Letzteres sei aber illusorisch, denn die Propaganda und Machtpraxis der Orbán-Leute habe die Kernwählerschaft des Fidesz „zu einem unzerstörbaren Block zusammengeschweißt“. Erreichbar für ihn seien hingegen mehrere hunderttausend Wechselwähler, die bei der letzten Wahl 2022 für Orbán stimmten, obwohl sie keine treuen Fans von ihm sind.
Die Bürger wollen Stabilität und keine wirklichen Veränderungen. Mögen die Führer nicht korrupt sein, aber sonst möge alles beim Alten bleiben
Zoltán Lakner
Politikwissenschafter
Lakner hält Magyar für ein politisches Talent – und einen Populisten. Er gehe es geschickt an. Er definiert sich grundsätzlich als proeuropäisch, kritisiert aber die EU für ihr angeblich „doppeltes Maß“, wenn sie Ungarn wegen eklatanter Rechtstaatsverstöße die Fördermittel kürzt. Das würde die EU nur mit Ungarn machen, sagt Magyar, und das sei ungerecht. „Das stimmt zwar inhaltlich nicht“, sagt Lakner, „aber die Menschen hören es gerne, es bestätigt sie in ihrer Gekränktheit.“ Das Opfer-Narrativ – „Immer sind alle gegen uns“ – habe in Ungarn eine lange Tradition.
Als Populist verstehe Magyar die Erwartungen und Gefühle seines Publikums zu bespielen. Anders als Orbán oder Trump sei er aber weder autoritär noch ausgrenzend. Geschickt inszeniere er sich als Held der Volksmärchen, der sich auf die „gute“ Seite gestellt hat und den Mächtigen die Stirn bietet. Zugleich gebe er sich keineswegs radikal, sondern vielmehr konformistisch. Seine Anhänger rufe er nicht dazu auf, sich zu organisieren. Vielmehr laute sein Angebot an sie: „Ich gründe eine Partei. Meine Partei wird gut sein. Gebt mir eure Stimme und ich erledige alles für euch.“ Kurzum: Magyar tut so, als würde alles in Ordnung sein, wenn er an die Macht komme. „Aber auch damit spricht er eine weitverbreitete staatsbürgerliche Erwartung an“, meint Lakner. „Die Bürger wollen Stabilität und keine wirklichen Veränderungen. Mögen die Führer nicht korrupt sein, aber sonst möge alles beim Alten bleiben", sagt er.
Die Kinderheim-Affäre
Judit Varga, Magyars Ex-Frau, ist mittlerweile zurückgetreten. Allerdings nicht wegen des Tonbandes, sondern aufgrund einer Missbrauchsaffäre.
Dazu muss man ein Jahr zurückblicken. Anlässlich des Besuches von Papst Franziskus im April 2023 ließ Ungarns Präsidentin Katalin Novák eine Reihe von Straftätern begnadigen. Darunter auch einen Mann, der dabei mithalf, sexuellen Missbrauch an Kindern in einem Heim zu vertuschen. Wegen Beihilfe wurde dieser Mann zu drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Bis ihn Präsidentin Katalin Novák begnadigte. Ausgerechnet Novák, die als bekennende Christin, Familienministerin und dreifache Mutter immer wieder zum Schutz von Kindern aufgerufen hatte. Die Bedrohung sah sie allerdings nicht so sehr in pädophilen Straftätern, sondern in einer vermeintlich gefährlichen „Gender-Ideologie.“ Ein Fidesz-naher Bischof namens Zoltán Balog soll bei Novák interveniert haben. Sie war früher seine Mitarbeiterin gewesen und Balog jahrelang Minister in Orbáns Kabinett.
Die Präsidentin ließ den Helfer eines pädophilen Straftäters begnadigen.
Balog, der die Amnestie eingefädelt hat, arbeitet bis heute als Bischof. Er hat sich nie bei den Opfern entschuldigt. Für die Regierung ist das nicht nur ein politischer, sondern auch ein moralischer Skandal
Paul Lendvai
Orbán-Biograf
Dazu muss man wissen, dass sich Ungarns Ministerpräsident seit Jahren als Verteidiger von Kinderrechten inszeniert. Vergangenen September fand in Budapest ein „Demografischer Gipfel“ statt, um die niedrige Geburtenrate anzukurbeln. Orbán bezeichnete seine Regierung in seiner Rede als familienfreundlich und lobte die „moderne Kooperation“ zwischen dem Staat und der Kirche. Wenige Monate später wurde die Affäre publik.
Nicht nur die Präsidentin, sondern auch die Justizministerin Judit Varga hatten die Begnadigung unterzeichnet. Beide traten daraufhin auf einen Wink Viktor Orbáns hin zurück. Der Rechtspopulist verlor damit mit einem Schlag die einzigen zwei Frauen in führenden Ämtern. Vargas Abgang ist für die Fidesz besonders bitter. Die 43-Jährige war als Spitzenkandidatin bei der Europawahl im Juni vorgesehen. Ihr Ex-Mann Péter Magyar trat unmittelbar nach dem Doppelrücktritt in seiner neuen Rolle als Regierungskritiker hervor. „Keine Minute“ wolle er Teil eines Systems bleiben, in dem sich Leute wie Orbáns Kanzleichef Antal Rogán maßlos bereichern würden, während Menschen, die selbstlos für das Land und seine Bürger arbeiten, „geopfert“ werden, schrieb er in einem Facebook-Posting. Magyar legte daraufhin seinen Direktionsratsposten in der staatlichen Ungarischen Autobahn- und Schnellstraßenverwaltung (Magyar Közút) zurück und darüber hinaus seinen Aufsichtsratsposten in der MBH-Bank, die mehrheitlich dem Orbán-Strohmann und Milliardär Lőrinc Mészáros gehört.
Folgen für die EU-Wahl?
„Ich gehe davon aus, dass Fidesz bei der EU-Wahl Stimmen einbüßen wird. Allerding nicht wegen des Tonbandes, sondern wegen der Missbrauchsaffäre“, sagt Frank Furedi, Direktor eines konservativen Thinktanks namens MCC in Brüssel. MCC gilt als Kaderschmiede der Fidesz und wurde von der Regierung mit 1,3 Milliarden Euro ausgestattet. Furedi, ein Soziologe, der in Ungarn geboren wurde, betont seine Unabhängigkeit.
An einem Mittwoch Anfang April empfängt Furedi profil in seinem Büro in Brüssel. Die Missbrauchsaffäre habe ihn erschüttert, gibt er zu, insbesondere die Tatsache, dass ein Orbán nahestehender Bischof involviert war. Das Tonband hingegen findet Furedi dubios. Von Péter Magyar hält er wenig: „Er hatte einen sehr schlechten Ruf. Sein Verhalten gegenüber Judit war immer wieder Thema hier in Brüssel.“ Wenn man nachfragt, was er damit meint, sagt er: „Er hat sie geschlagen.“ Furedi zweifelt deswegen auch den Inhalt der Aufnahme an: „Das Gespräch klingt wie eine Polizeibefragung. Wer genau hinhört, merkt, dass er sie in eine bestimmte Richtung drängt. Die Aufnahme spricht Bände über ihre Beziehung.“
Er hatte einen sehr schlechten Ruf. Sein Verhalten gegenüber Judit war immer wieder Thema hier in Brüssel.
Frank Furedi
Direktor, MCC Brüssel
Ob es zu häuslicher Gewalt kam oder nicht, könne am Ende niemand sagen, meint der EU-Abgeordnete Daniel Freund von den Grünen. Er gilt als Viktor Orbáns lautstärkster Kritiker in Brüssel. „Die Theorie, dass die gesamte Tonbandaufnahme unter Gewaltandrohung stattgefunden hat, scheint mir an den Haaren herbeigezogen zu sein. Orbán macht es wie Donald Trump: Wenn man keine Argumente mehr hat, dann versucht man die Person zu zerstören, die das Tonband öffentlich gemacht hat“, so Freund gegenüber profil.
An diesem Samstag wird sich vielleicht schon zeigen, was Magyar politisch vorhat und ob er die EU-Wahlen im Juni als ersten Stimmungstest nutzen wird.