Der Neo-Sultan
Die Textbotschaft, die Präsident Erdogan seinen Landsleuten am vergangenen Donnerstag auf ihre Mobiltelefone schickte, konnte als gefährliche Drohung empfunden werden. Der türkische Präsident, der gemeinsam mit seiner Regierung wenige Tage zuvor erfolgreich einen Staatsstreich eines Teils der Armee abgewehrt hatte, forderte darin absolute Loyalität: "Setzt den Widerstand fort, um den Verrätern und Terroristen eine Lektion zu erteilen!“ Wie weit Erdogan die Gruppe der "Terroristen und Verräter“ fasst, zeigen die Massenverhaftungen und groß angelegten Säuberungsaktionen in der Armee und anderen staatlichen Institutionen, vor allem auch den Schulen.
Mit Sorge sehen Europa und Amerika, wie der Sultan mit Volldampf in Richtung Diktatur steuert. In der EU ist man über Ankaras Absicht erschrocken, die Todesstrafe wieder einzuführen. Sollte das passieren, sei ein Beitritt der Türkei zur EU undenkbar, signalisieren die europäischen Hauptstädte. "Die Welt ist nicht nur die Europäische Union“, erwidert Erdogan salopp. Er scheint gerade den Abschied der Türkei von ihrer europäischen Orientierung zu besiegeln und auch ein Zerwürfnis mit den USA in Kauf zu nehmen.
Was aber bedeuten die aktuellen türkischen Turbulenzen? Sind sie nur aus der innertürkischen Dynamik zu erklären? Oder aber drücken sie doch auch allgemeine weltpolitische Tendenzen aus?
Autoritäre Wende
Das 21. Jahrhundert schien es gut mit den Türken zu meinen. Erdogan und seine AK-Partei kamen 2002 an die Macht. Überraschung: Der konservative Politiker mit islamistischem Background zeigte sich anfangs als Erneuerer. Er forcierte den von der EU versprochenen Beitritt, zog kühn so manche von Brüssel geforderte demokratische Reform durch. Sogar eine Versöhnung mit den Kurden stand auf der Tagesordnung. In Europa hatte sich freilich bald der Wind gedreht: Die Euphorie der Erweiterung war verflogen, der Motor der europäischen Einigung begann gewaltig zu stottern, und die Kräfte, die Angst vor "dem Islam“ schürten, wurden immer stärker. Plötzlich hieß es in Paris, Berlin und Wien: Eigentlich wollen wir die Türken nicht im europäischen Club. "Privilegierte Partnerschaft“ sei das Äußerste, was sie zu erwarten hätten. So freilich war es nicht ausgemacht. Erdogans autoritäre Wende der vergangenen Jahre wäre wohl auch ohne das ablehnende Verhalten wichtiger EU-Länder gegenüber Ankara erfolgt, aber wahrscheinlich erst später und nicht so radikal.
Nun legt die Geschichte eine paradoxe Volte hin: Just die aufkeimende Abschottungspolitik Europas, die in Ankara als feindseliger Akt empfunden wurde, ließ schließlich die europäischen Länder wieder die Nähe zur Türkei suchen, denn für die "Abwehr“ der Flüchtlinge aus dem blutig zerfallenden Nahen Osten braucht Europa die Türken ganz dringend.
Ende des Atatürk-Systems?
Jetzt wird erst so recht kenntlich, was Erdogan offenbar immer schon im Sinn hatte und nun erst durchziehen zu können glaubt: die Beseitigung des säkularen Polit-Systems von Kemal Atatürk, des Gründervaters der modernen Türkei. Erdogan will die Trennung von Staat und Politik rückgängig machen und ein auf dem Islam basierendes Präsidialsystem errichten. Damit ist das Phänomen Erdogan ein Teil jener globalen Wiederkehr der Religion, die gerade in der islamischen Welt ihre so zerstörerische Kraft entfaltet.
Noch vor wenigen Jahren wurde die Türkei als Modell für eine gelungene Demokratie in der islamischen Welt gepriesen. Und Erdogans Ambitionen, sein Land zur Führungsmacht in der Region zu machen, erschienen nicht unrealistisch. Dieser Traum ist spätestens seit dem Scheitern der arabischen Revolution des Jahres 2011 ausgeträumt. Seit damals wird die Türkei immer mehr in die nahöstlichen Religions- und Bürgerkriege hineingezogen, das Land selbst zeigt sich zerrissener als je zuvor. Und das Regime in Ankara, das sich eine Zeitlang rühmen konnte, keine Feinde, sondern nur Freunde zu haben, sieht sich jäh in einer prekären Isolation inmitten einer im Chaos versinkenden Weltgegend.
Welcher der Umbrüche, die heute zeitgleich passieren, sich als geschichtsmächtig erweisen wird, können wir nicht wissen. Wird Donald Trump einst eine Fußnote in der US-Historie sein? Hält sich das IS-Kalifat oder bleibt die Gruppe ein auf wenige Jahre beschränkter Spuk? Wird die Türkei zur Diktatur? Und kündet der Brexit vom Zerfall der Europäischen Union? Fest steht: Das eine wird das andere beeinflussen, verstärken oder abmindern. Wir stecken da alle mit drinnen.