Der Terror der Taliban: Was es bedeutet, Hazara zu sein
Mehrullah Mehrdad darf nicht sagen, wo er sich befindet. Seinen aktuellen Wohnort preiszugeben, wäre zu gefährlich, immerhin sind die Taliban hinter ihm her. Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit profil befindet sich der 25-jährige Journalist in einer Unterkunft irgendwo in Afghanistan, doch auch hier wird er nicht lange bleiben. Er ist nicht nur Journalist, sondern auch Angehöriger der verfolgten afghanischen Volksgruppe der Hazara.
„Mit Ihnen zu sprechen, ist extrem gefährlich für mich“, sind seine ersten Worte zu profil. Das Handy vor sich – das Gespräch findet per Videocall statt – hält er ein Notizbuch in der Hand. Seine Haare sind gewachsen, Mehrdad findet sein Aussehen ungepflegt, er entschuldigt sich lächelnd, es gehe darum, nicht erkannt zu werden.
Mehrullah Mehrdad ist einer der wenigen Journalisten, die regelmäßig von Protesten in Afghanistan berichten. Vergangenen Sommer, als sich die Machtübernahme durch die Taliban zum ersten Mal jährte, forderten Demonstrantinnen das Recht auf Arbeit und politische Teilnahme. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift „Der 15. August ist ein schwarzer Tag".
Seitdem die Taliban im August 2021 die Regierung stürzten, darf nicht protestiert werden. Wer von Demonstrationen berichtet, wird festgenommen. Als die Taliban bei einer dieser verbotenen Versammlungen auf Frauen einschlagen, zückt Mehrdad sein Handy und tut so, als würde er mit jemanden videochatten. Taliban enttarnen und schnappen ihn, erzählt er gegenüber profil. „Was glaubst du, wer du bist, was machst du hier?“, fragen sie den Journalisten.
Was hat sich während seiner Gefangenschaft zugetragen? Die Frage ist, genau wie die Antwort, kaum aussprechbar. Einige Momente lang wirkt es, als ginge sie zu weit. Mehrdad schildert unter Tränen, wie ihn die Taliban am 26. August gemeinsam mit etwa einem Dutzend anderer Journalisten in einer Lagerhalle vier Stunden lang festhielten und folterten.
Mehrullah Mehrdad arbeitet seit acht Jahren als Journalist, unter seine Jobbeschreibung fallen Folter und ständige Ortswechsel, um den Taliban zu entkommen. Sie seien hinter ihm her, denn er berichtet auch regelmäßig über Missstände im Land. Er sagt: „Die Menschen auf der ganzen Welt müssen erfahren, was in Afghanistan passiert.“
Nach seiner Freilassung aus der Haft musste Mehrdad den Taliban schriftlich versprechen, nie wieder von diesen Dingen zu berichten, ein Versprechen, das er immer wieder bricht. „Als ich angefangen habe, als Journalist zu arbeiten, habe ich geschworen, für die Menschen zu arbeiten“, sagt er. „Die Menschen hier sollten das Recht auf freie Presse haben, sie müssen informiert werden. Weiters: „Wir hatten eine Vision. Die haben wir immer noch, obwohl die Lage ungeheuer schwierig ist.“
Wer sind die Hazara?
Es gibt Ungerechtigkeiten, die einen abstumpfen lassen. Für die Hazara gehört dazu, dass viele Menschen im Westen nicht wissen, wer sie überhaupt sind. Hazara sind eine ethnische Gruppe, die in Afghanistan und den Nachbarländern wie Iran leben. profil sprach mit Angehörigen, die am eigenen Leib erlebt haben, was Verfolgung und Ablehnung bedeutet.
Sie erzählen, wie es ist, als Zugehörige einer benachteiligten Minderheit keine Perspektive im eigenen Land zu haben und darüber hinaus innerhalb der Gesellschaft diskriminiert zu werden. Es sind Berichte von Folter und Flucht. Aber auch Zeugnisse von Durchhaltevermögen und Widerstand.
Die Volksgruppe der Hazara hat eine 130-jährige Verfolgungsgeschichte hinter sich. Zwischen 1891 und 1893 ließ der damalige Emir Abdur Rahman Khan über 60 Prozent der Hazara-Bevölkerung hinrichten. Den Rest machte er zu Sklaven. Frauen wurden verkauft und verloren all ihre Rechte.
Auch unter dem ersten Talibanregime in Afghanistan wurden zahlreiche Massaker an den Hazara verübt. Aus diesen Zeiten blieben gesellschaftliche Diskriminierung und Rassismus gegenüber der Volksgruppe.
Die Mehrheit flüchtete vor dem Völkermord ins Ausland – auch nach Österreich. Daten bezüglich der ethnischen Zugehörigkeit werden in Österreich zwar nicht erhoben. Von Hilfsorganisationen, wie etwa der Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), heißt es aber, dass mehr Hazara als Paschtunen um Asyl ansuchen. Die Verfolgung der Hazara sei oft der Fluchtgrund. Heutzutage identifizieren sich angesichts der aktuellen Angriffe immer mehr Hazara mit ihrer Herkunft.
Angegriffen, verwundbar, entschlossen
An ihrem Aussehen, das sich von den anderen ethnischen Gruppen in Afghanistan unterscheidet, merkt man ihnen die ethnische Zugehörigkeit sofort an. Ihre Gesichtszüge werden den Hazara zum Nachteil.
„Die Hazara standen in Afghanistan während des größten Teils des 20. Jahrhunderts am unteren Ende der Gesellschaft“, sagt Dawlat Dawlatyar, Forscher am Think Tank „Balkan Institute“ in Belgrad mit Fokus auf Rassismus und Nationalismus. Um über die Runden zu kommen, übten sie meist jene Berufe aus, die sonst niemand haben möchte – in der Landwirtschaft oder als billige Arbeitskräfte. Der Zugang zur Bildung und höheren Berufen war ihnen weitgehend verwehrt.
Mit der Einführung einer demokratischen Grundordnung, in der allen Afghanen die gleichen Rechte zugestanden wurden, „haben die Hazara in den vergangenen 20 Jahren die ihnen jahrzehntelang verwehrten Chancen genutzt und sich zur gebildetsten und fortschrittlichsten Volksgruppe in Afghanistan entwickelt“, so Dawlatyar. Auf politischer Ebene seien sie jedoch nach wie vor Zielscheibe systematischer Diskriminierung.
Neben sozialer Abgrenzung sind sie auch örtlich vom Rest der Bevölkerung abgegrenzt. Die afghanische Hauptstadt Kabul sei geteilt, erklärt Dawlatyar: Hazara leben vor allem im Westen der Stadt, im Süden und Osten etwa Paschtunen und Tadschiken im Norden.
Die Spaltung betrifft auch die Politik. „Hazara haben noch nie bedeutende politische Beteiligung erfahren“, sagt Dawlatyar. Je nach Schätzungen machen Hazara neun bis 20 Prozent der afghanischen Bevölkerung aus. Volkszählungen gibt es schon lange nicht mehr. Der Menschenrechtsforscher begründet dies damit, dass die Taliban die politische Repräsentation und somit die Mitbestimmung der Hazara verhindern wollen.
„Die Tadschiken sollen nach Tadschikistan gehen, die Usbeken nach Usbekistan. Die Hazara aber nach Gurestan.“ Gurestan bedeutet auf Persisch „Friedhof“. Dieser Satz von Mullah Abdul Manan Niazi klingt noch immer nach. Für die Anhänger des mittlerweile erschossenen Talibs gilt: Die vorwiegend schiitischen Hazara müssen weg.
„Hazara haben noch nie bedeutende politische Beteiligung erfahren“
Dawlat Dawlatyar, Menschenrechtsforscher
Nach der Besetzung durch internationale Truppen Anfang der Nuller-Jahre fanden Hazara Zugang zu Bildung und adoptierten eine weltliche Wertehaltung – ein Dorn in den Augen konservativer Afghanen sowie aktueller Machthaber, wie auch der 33-jährige Majeed Burhani erfuhr.
Burhani arbeitete bis zum Sturm auf Kabul am 15. August 2021 für die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghan Independent Human Rights Commission, AIHRC). Er gehörte zu jenen, die militärische Streitkräfte im Kampf gegen die Taliban in Sachen Menschenrechtsnormen ausbilden. Die Islamisten sorgten damals schon für Unruhen. Hauptsächlich ging es darum, die Zivilgesellschaft zu schützen. „Aber in den Augen der Taliban waren wir die Agenten des Westens. Selbst während unserer Arbeit, als wir in verschiedenen Provinzen des Landes unterwegs waren, erhielten wir viele Drohbriefe“, sagt er im Gespräch mit profil.
Er zeigt den Brief, den er aufbewahrt hat. Ein Auszug:
„Diese Gruppe (Anm. Das Bildungsteam) wird vom Islamischen Emirat nachdrücklich gewarnt, wenn sie sich nicht von ihren schmutzigen Arbeiten und Programmen fernhält und nicht aufhört, Propaganda gegen die Werte und Prinzipien des Islamischen Emirats (Anm. So bezeichnen sich die Taliban, sie verstehen sich als die offizielle Regierung Afghanistans) zu verbreiten, indem sie ihre vergangenen Fehler bereut, dann werden die Mudschaheddin hinter ihnen her sein und sie alle werden die Strafe für ihre bösen Taten sehen.“
„In den Augen der Taliban waren wir Agenten des Westens.“
Majeed Burhani erhielt zahlreiche Drohbriefe von den Taliban.
Die Ausbildner für Menschenrechte seien geldsüchtig, heißt es weiter in dem Brief. Etwa eine Woche lang ging Burhani nicht aus dem Haus. „Wenn ich erkannt worden wäre, hätten sie mich verhaftet.“ Vor vier Monaten fand er in Deutschland Zuflucht.
Der Mut der Frauen
Jetzt, wo es vermehrt Anschläge in Hazara-Vierteln gab, lassen sich viele Hazara das nicht mehr gefallen. Im Gegensatz zu Österreich, Kanada oder Australien, wo Hazara-Angehörige sich zu Protesten versammeln, ist es den Betroffenen in Afghanistan allerdings nicht möglich, sich über Soziale Netzwerke zu organisieren. Vielmehr entstehen die Bewegungen durch einzelne Initiativen.
„Bildung ist unser Recht, Völkermord ist ein Verbrechen“, skandieren Demonstrantinnen in Kabul nach dem tödlichen Selbstmordanschlag in der Frauenabteilung eines Bildungszentrums in der afghanischen Hauptstadt Ende September.
Sie sammeln all den Mut, den es braucht, um sich den tödlichen Waffen der Taliban auf den Straßen Kabuls zu stellen, und kämpfen gegen die immense Marginalisierung der Frauen in Afghanistan, die nach vier Jahrzehnten Krieg mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Schläge und Luftschüsse treiben die Demonstrantinnen immer wieder auseinander. Journalisten, die davon berichten, werden verhaftet und mit Folter eingeschüchtert. Eltern trauen sich kaum, ihre Kinder in die Schule zu schicken.
Für viele in Afghanistan gelten Frauen als Hoffnungsträgerinnen. Bei einer Podiumsdiskussion über den Hazara-Genozid an der Central European University in Wien ist Menschenrechtsaktivistin Masomah Regl überzeugt, es gehe um mehr als die Rechte der Hazara, nämlich um Menschenrechte im Allgemeinen: „Alle afghanischen Mädchen sind vereint.“ Homira Rezai sieht das ähnlich. Wenn die Aktivistin und Vorsitzende des Hazara Komitees in Großbritannien auf die Bewegungen in Afghanistan blickt, sieht sie „Hazara-Frauen, die alle Frauen ermutigen, Initiative zu ergreifen.“ Dies könnte wohl bewirken, dass Hazara mehr soziale Akzeptanz erfahren. Doch die Taliban tun alles, ihre Bemühungen um Fortschritt lahmzulegen.
Falsche Versprechen
Am 15. August 2021 haben die Taliban nach dem überstürzten Abzug der US-Truppen in Afghanistan die Macht wieder übernommen. Den radikalislamischen Taliban wurden schon Übergriffe auf die Hazara vorgeworfen, als sie zwischen 1996 und 2001 erstmals an der Macht waren. Die Taliban hatten beim Machtwechsel 2021 versprochen, alle ethnischen und religiösen Gruppen zu schützen.
Tatsächlich richteten sie eine Sittenpolizei ein, um bei Frauen einen strengen Kleidungs- und Verhaltenskodex durchzusetzen. Sie müssen ihr Gesicht verhüllen und dürfen nicht aus dem Haus, es sei denn, ein dazu berechtigter Mann begleitet sie, etwa ein Bruder oder Vater. Dies muss auf Nachfrage glaubhaft gemacht werden.
In die Schule gehen, Freunde treffen, Hausaufgaben machen, an der Universität studieren – eine Straftat für Mädchen und junge Frauen. Laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF dürfen rund drei Millionen Mädchen und junge Frauen in Afghanistan ihren Wissensdurst nicht stillen. Ohne Möglichkeiten sich weiterzubilden, riskieren sie Ausbeutung, Missbrauch, oder Zwangsehe.
Kürzlich haben die Taliban Frauen auch den Zugang zu öffentlichen Parks in der Hauptstadt Kabul verboten. Die bestehenden Regeln des nach Geschlecht getrennten Zugangs seien „an vielen Orten“ gebrochen worden, sagte Mohammed Akif Sadeq Mohajir, Sprecher des sogenannten Ministeriums für den „Schutz vor Laster und die Förderung der Tugend“, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Anschläge, bei denen Hazara ums Leben kamen
- 30. September 2022. Kaaj Educational Center, Kabul. 53 Todesopfer, 110 Verletzte. Es hat sich noch keine Terrorgruppe zum Selbstmordanschlag bekannt.
- 5. August 2022. Nähe einer Moschee in Sar-e Karez, Westen Kabuls. IS-Anschlag. Acht Tote, 18 Verletzte.
- 21. April 2022. Sia Dukan Moschee, Balkh. IS-Anschlag. Mind. 31 Tote, 87 Verletzte
- 3. Bis 5. August 2017. Mirza Olang, Sare Pul (Hazarajat). Massenmorde von Taliban und IS. Mindestens 50 Tote.
- August 1998. Mazar-e Sharif, Balkh. IS-Anschlag. Je nach Quelle 2000 - 15.000 Tote.
Hazara werden ausgegrenzt, verfolgt, und ermordet. Warum unternehmen internationale Organisationen nichts? Wer einen Völkermord anerkenne, trage auch die Verantwortung, einzugreifen – doch es fehlen die Mechanismen, bemängelt Aktivistin Homira Rezai. Das Ziel bleibt also, unter der weltweiten Kampagne #StopHazaraGenocide Bewusstsein für die systematische Verfolgung der Hazara zu schaffen. „Wir dokumentieren alles, damit es künftig keine Entschuldigung mehr gibt, vom Genozid nichts gewusst zu haben“, sagt Rezai.
Nach dem Gespräch mit profil reagiert Mehrullah Mehrdad nicht mehr auf Nachrichten. Wurde er entdeckt und verhaftet? Einige Tage später schreibt er: „Wie geht es Ihnen, alles gut? Ich konnte nicht länger unter der Herrschaft der Taliban leben. Ich wurde aus Afghanistan herausgeschmuggelt und bin jetzt in Pakistan.“ Die Erleichterung ist groß. „Jetzt“, schreibt Mehrdad, „können Sie meinen vollen Namen in den Bericht schreiben.“