Die Metropole als Kriegsgebiet. Viele Menschen hätten Kiew bereits verlassen, sagt Dmitry Belobrov. Er selbst will weiterhin aus der Hauptstadt berichten. 
Stimmen aus dem Krieg

Dmitry Belobrov: „Der Westen muss jetzt zeigen, dass er keine Angst vor Putin hat“

Dmitry Belobrov aus Kiew ist wütend auf den Westen. Neutralität nach dem Vorbild Österreichs, sagt er, komme für sein Land nicht infrage.

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Die Angst, sagt Dmitry Belobrov, sei einer seltsamen Ruhe gewichen.

In den ersten Tagen der russischen Invasion ist der 32-Jährige Journalist in Panik verfallen, konnte weder essen noch richtig schlafen. „Wir haben die russische Propaganda gelesen, dass Kiew in drei Tagen fallen wird. Das hat uns Angst gemacht. Doch jetzt sehen wir, dass unsere Soldaten diesen Irrsinn stoppen konnten.“

Tatsächlich ist der Vormarsch der russischen Truppen auf die Hauptstadt Kiew ins Stocken geraten. Artillerieangriffe gibt es zwar regelmäßig, doch sie sind längst nicht so schlimm wie in Charkiw oder Mariupol. Die belagerte Hafenstadt Mariupol am Schwarzen Meer steht unter heftigem Beschuss. Die Wasserversorgung ist zusammengebrochen, aus Verzweiflung trinken die Menschen Wasser aus den Heizsystemen. Am Mittwoch wurde das Theater im Zentrum der Stadt zerstört, in dem sich Frauen und Kinder verschanzt hatten, kurz darauf brachten russische Truppen ein Krankenhaus unter ihre Kontrolle.

„Die Russen werden nervös, weil sie nicht vorankommen“, sagt Belobrov, „deswegen greifen sie jetzt vermehrt Städte an. Sie wollen Zivilisten treffen.“ In Kiew sei die Lage vergleichsweise ruhig. Alle paar Stunden seien Detonationen zu hören, doch die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Strom und Gas funktioniere nach wie vor.

Belobrov schreibt für die online-Plattform liga.net, als Journalist sieht er sich auch an, wie im Westen über den Krieg in seiner Heimat berichtet wird. Am Mittwoch ging der Vorschlag des Kremls um die Welt, die Ukraine solle einen Neutralitätsstatus nach dem Vorbild Österreichs oder der Schweiz annehmen. 

Kiew schlägt das aus – es brauche ein Modell mit rechtlich eindeutigen Sicherheitsgarantien, alles andere sei keine Option.

Belobrov sieht das ähnlich: „Neutralität kann für uns keine Option sein, auf dieses Angebot fallen wir nicht rein. Wir werden keine Sicherheitsgarantien bekommen.“ Während eines Krieges über Neutralität zu sprechen, sei absurd und helfe dem Aggressor. „Wir spielen Putin damit in die Hände.“

Auf die Rolle der EU und der USA angesprochen, wird der 32-Jährige wütend. Lediglich für den britischen Regierungschef Boris Johnson, der das zögerliche Vorgehen Europas gegen Russland nach der Annexion der Krim 2014 kritisiert, findet er freundliche Worte. Die Vereinten Nationen würden ihre Aufgaben nicht erfüllen, die NATO funktioniere nicht, der Westen habe sich in den vergangenen 20 Jahren der Heuchelei verschrieben.

„Das ganze Gerede von den Werten ist nicht ernst gemeint“, sagt er. „Sie sehen zu, wie die Russen unsere Städte zerstören. Niemand steht für uns auf.“

Die Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens begrüßt er freilich, nur: „Das hätte schon 2008 passieren sollen, als Putin Georgien attackiert hat.“ Doch damals sei nichts geschehen. Und auch nach der Annexion der Krim blieb Putin gern gesehener Gast in Europas Hauptstädten. Österreichs Bundespräsident Heinz Fischer empfing Putin noch 2014, wenige Monate nach der Eroberung der Krim. Kurz zuvor hatte Belobrov seinen Master in Kultur- und Sozialanthropologie an der Uni Wien abgeschlossen. Den freundlichen Umgang Österreichs mit Russlands Autokraten nennt Belobrov, in Anspielung auf den SPD-Altkanzler Gerhard Schröder, der gute Kontakte zu Putin pflegt, „Schröderisierung“: „Alle Werte sind damit wie weggefegt.“ Niemand habe verstanden, wie gefährlich Putin sei.

„Der Westen muss jetzt zeigen, dass er keine Angst vor Putin hat“, sagt der Journalist. „Er muss gegen Putins Truppen kämpfen. In der Ukraine.“ Das schließt die NATO allerdings kategorisch aus.

Auf die Frage, wie es in der Ukraine weitergehen könnte, hat Belobrov keine Antwort. Was Kiew betrifft, schwingt Optimismus durch. Rund zwei Drittel der Bewohner hätten die Stadt mittlerweile verlassen, schätze er, auch seine eigene Familie sei nach Moldawien geflohen. Doch in Kiew ginge das Leben weiter. Immer mehr Menschen trauten sich wieder auf die Straße, man sehe sie mit ihren Hunden und Kindern in der Stadt spazieren. Am Montag hätten viele Cafés und Restaurants wieder aufgemacht.

„Wir sind noch am Leben“, sagt Dmitry Belobrov. Und: „Wenn man sich zu sehr fürchtet, hilft einem das auch nicht weiter.“

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.