Schwarz-Rot in Berlin: Weiter so, aber wohin?
Von Walter Mayer
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Es war ein Auftritt, der Zuversicht und Tatkraft vermitteln sollte. Nach 45 nervenfordernden Verhandlungstagen präsentierten die Spitzen von Union und SPD in einem nichts als Kälte ausstrahlenden Bürogebäude im Berliner Regierungsviertel ihren 141-seitigen Koalitionsvertrag mit dem schnörkellosen Titel „Verantwortung für Deutschland“.
Aus den Mündern der Parteichefs tönten Worte wie Fanfarenklänge: „Vor uns liegt ein starker Plan, mit dem wir unser Land wieder nach vorne bringen können“ (CDU-Chef Friedrich Merz); „Es ist vollbracht! Das, was jetzt vorliegt, ist eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit“ (CSU-Chef Markus Söder); „Es ist uns gelungen trotz unterschiedlicher Standpunkte Brücken zu bauen“ (SPD-Co-Chef Lars Klingbeil; „Wir starten die große Initiative zur Modernisierung Deutschlands“ (Klingbeils Konkurrentin, die SPD-Co-Chefin Saskia Esken).
Während all das vor den versammelten Kameras und Korrespondenten gesagt wurde, schien es, als ob die Körper der Koalitionäre ihren eigenen Statements und der beschworenen Harmonie widersprechen wollten: Sie schwitzten (Merz), sie streckten sich, ruderten unkoordiniert mit den Armen, machten abfällige Handbewegungen (Söder, als Merz und Esken dran waren), sie brachen anlasslos in Grinsen aus und kratzten sich die Ohren (Klingbeil, als Esken sprach) oder strahlten ein generelles Unwohlsein aus (Esken).

© Illustration: profil-Grafik; Fotos: Michael Kappeler/dpa/picturedesk.com; APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ; APA/AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT; APA/DPA
Alles nicht so einfach
Dem künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz (vorn links) sitzt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im Nacken; SPD-Chef Lars Klingbeil (vorn rechts) soll Vizekanzler werden, ist aber lange nicht so beliebt wie Verteidigungsminister Boris Pistorius. Und die AfD von Alice Weidel (Hintergrund) liegt in Umfragen nur noch knapp hinter der Union.
Und dennoch: Die nun geschmiedete schwarz-rote Koalition verheißt, trotz ihrer Widersprüche und der kaum verdeckten persönlichen Animositäten, außen- und innenpolitische Kontinuität. Die Botschaft ist ein sanftes „Weiter-so!“ in unübersichtlichen Zeiten. Für jede Klientel hält der Koalitionsvertrag Beruhigendes bereit, die Zumutungen sind überschaubar.
Für jeden etwas
CDU und CSU erreichten Steuersenkungen für Unternehmen, die Abschaffung der grünen Lieblinge Lieferketten- und Heizungsgesetz. Zuwanderungspolitisch gelingt zwar bestimmt nicht die im Wahlkampf vielbeschworene, „Migrationswende“, aber die Parteien einigten sich auf ein Ende des Familiennachzugs und der „Turbo-Einbürgerung“, also der von der Ampel-Regierung geschaffenen Möglichkeit, schon nach drei Jahren Aufenthalt die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Die bayrische CSU bekam die „Mütterrente“ durch – obwohl diese Wohltat Milliarden kosten wird. Und die Sozialdemokratie freut sich über die Beibehaltung des Deutschlandtickets, eine Festschreibung des Rentenniveaus von 47 Prozent des letzten Bruttolohns (gedeckelt) sowie über gleich sieben Ministerien, darunter jenes für Finanzen sowie das Arbeits- und Sozialministerium – also die jeweils wichtigsten Ressorts auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite.
Gleichzeitig soll – jetzt aber wirklich – die Bundeswehr „kriegstüchtig“ (noch-und-vermutlich-bald-wieder-Verteidigungsminister Boris Pistorius) werden, ohne allerdings die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen. Und auch vom Hochfahren der, einst nach der Katastrophe von Fukushima durch Angela Merkel stillgelegten, Atomkraftwerke kann keine Rede mehr sein – wiewohl eine solche Maßnahme ein Unions-Dauerbrenner im Wahlkampf war.
Ministertauglich
Deutschlands beliebtester Politiker, Verteidigungsminister Boris Pistorius, will die Wehrpflicht einführen.
Während sich weltweit die Tektonik der Macht und die Grenzen der Moral verschieben, politische und soziale Gewissheiten wanken, Kettensägen der Disruption geschwungen werden und die mächtigste Demokratie der Welt zur autoritären Clownokratie wird, scheint Deutschland mit seiner künftigen Regierung als feste Burg der Demokratie und Heimatland der „westlichen Werte“ dazustehen.
Ein Gespenst namens „Stimmung im Volk“
Man könnte also noch mal durchatmen, säße der „liberalen Demokratie“ nicht auch in Deutschland ein Gespenst namens „Stimmung im Volk“ im Nacken. Die Tageszeitung „Welt“ spricht sogar von einer „Machtverschiebung in Deutschland“: Die in weiten Teilen rechtsextreme (und in den restlichen Teilen diese rechtsextremen Teile duldende) AfD liegt in den Tagen nach Präsentation des schwarz-roten Koalitionsvertrages bei allen Meinungsforschern fast gleichauf mit der Union.
Der Durchschnitt aus sechs Umfragen zeigt zu Ostern 25,3 Prozent für die Union, 24,3 für die AfD, 15,3 für die SPD, 11,4 für die Grünen und 10,1 für die Linke. Sarah Wagenknechts querfrontiges BSW und Ampelkiller FDP verlieren weiter und bleiben unter der Fünf-Prozent-Hürde. Hermann Binkert, der Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA, analysiert: „Die Parteien der künftigen Koalition haben seit der Bundestagswahl jeden neunten Wähler verloren“. Mit Perlenkette um den Hals und maliziösem Lächeln triumphiert AfD-Chefin Alice Weidel auf Instagram: „Die Bürger wollen keine weitere Linksregierung. An der AfD führt kein Weg mehr vorbei.“
Traumabewältigung für Merz
Für den In-spe-Kanzler Merz mindestens genauso gefährlich wie die AfD: relevante Teile der Union zweifeln an seiner Führungsfähigkeit und fremdeln mit dem ausgehandelten Koalitionsvertrag. Merz habe sich von der Sozialdemokratie über den Tisch ziehen lassen, heißt es da, es könne doch nicht sein, dass eine Partei wie die SPD, die 2025 ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erzielt hat, erneut die Regierungslinie bestimme.
Die künftige Regierung wäre eine Ampel 2.0, nur eben mit einem Unionskanzler. Die Berliner CDU bat ihre 12.000 Mitglieder, den Koalitionsvertrag mit Schulnoten zur bewerten. Dabei kam im Durchschnitt eine „3“ raus, ein glattes Solala. Das konservative Debattenmagazin „Cicero“ schreibt, Merz habe das „Tafelsilber der Union“ verramscht. Der Philosoph Rüdiger Safranski wiederum formuliert in der „Welt“: „Die CDU hatte einen Politikwechsel versprochen. Und nun gibt es alles Mögliche, nur keinen Politikwechsel“.
Wenn es schon keinen Politikwechsel gibt, dann wenigstens einen Personalwechsel.
Von den Ampel-Spitzen Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck wird man nicht mehr viel hören. Im Mai übernehmen Friedrich Merz und sein sozialdemokratischer Vize Lars Klingbeil. Die beiden sind seit den Koalitionsverhandlungen per Du. Klingbeil, dessen freundlicher Umgangsstil seinen Machtinstinkt überdeckt, profitiert sowohl von Scholz’ Niederlage, als auch davon, dass Pistorius, Deutschlands unangefochten beliebtester Politiker, die SPD nicht in die Wahl führen durfte (und mutmaßlich mehr geholt hätte als die Scholz’schen 16,3 Prozent). So wurde Klingbeil zum mächtigsten Roten des Landes.

© APA/dpa/Kay Nietfeld
Alte Rivalitäten
Seit Angela Merkel Friedrich Merz im Kampf um den Fraktionsvorsitz vor einem Vierteljahrhundert an den Rand der CDU drängte, stand das einstige finanzpolitische Supertalent als Verlierer da.
Alte Rivalen
Seit Angela Merkel Friedrich Merz im Kampf um den Fraktionsvorsitz vor einem Vierteljahrhundert an den Rand der CDU drängte, stand das einstige finanzpolitische Supertalent als Verlierer da.
Für Merz wiederum geht es auch um persönliche Traumabewältigung. Seit ihn Angela Merkel im Kampf um den Fraktionsvorsitz vor einem Vierteljahrhundert an den Rand der CDU drängte, stand das einstige finanzpolitische Supertalent als Verlierer da. Damals, und erst recht in der Macho-Partei CDU, muss es für den im konservativen Sauerland sozialisierten Merz besonders schmerzhaft gewesen sein, einer Frau, und noch dazu einer Ostdeutschen, unterlegen zu sein; Karriere beim internationalen Investment-Verwalter BlackRock hin oder her.
„Germany is back on track“ („Deutschland ist wieder auf Schiene“), sagt Merz nun voller Stolz in seiner Videobotschaft, und es klingt ein bisschen nach „Ich bin wieder da!“.
Vom Schlachten Heiliger Kühe
„Back on Track“. Dass Deutschlands Schienen in absehbarer Zeit überhaupt wieder ansatzweise pünktlich befahrbar sein werden, dass die marode Infrastruktur unter der die Bundesrepublik seit Jahrzehnten in entscheidenden Bereichen (Bahn, Bildung, Gesundheit, Bundeswehr, Digitalisierung) leidet, in Ordnung gebracht werden kann, dafür braucht es Milliarden. Dass ohne diese Summen kein Staat zu machen ist, dass also an einer Reform der Schuldenbremse kein Weg vorbeiführt, dürfte Merz schon in den letzten Tagen der Ampel klar geworden sein.
Die Ampel-Regierung
Volker Wissing (FDP), Annalena Baerbock (Grüne), Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne) zu Beginn der Ampel-Koalition: kein Happy End.
Vor einem halben Jahr entließ Scholz in der denkwürdigen Crashnacht der Ampelkoalition vom 6. November 2024 seinen Finanzminister Christian Lindner, weil dieser sich weigerte, einem Sondervermögen für die Bundeswehr zuzustimmen. Damit beendete Scholz das monatelange Gezerre im Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Das ganze Elend hatte damit begonnen, dass der Bundesgerichtshof in Karlsruhe der Klage von 197 Abgeordneten der CDU stattgegeben hatte und den Bundeshaushalt, in dem 60 Milliarden Euro, die ursprünglich für Coronahilfen gedacht waren, für Verteidigung und Infrastruktur ausgegeben werden sollten, als Verstoß gegen die Schuldenbremse und damit als Verfassungsbruch bewertete.
Die Normalisierung der AfD
Die Schuldenbremse war nun endgültig die heilige Kuh, die man nicht vom Eis bekam. Die FDP verteidigte sie bis zuletzt und zerbrach an ihr. Und für die Union blieb sie den ganzen Wahlkampf über ein Eckpfeiler der versprochenen „Wirtschafts- und Politikwende“. Man sollte und würde den Haushalt durch Einsparungen (etwa beim „Bürgergeld“) sanieren und keinesfalls durch neue Schulden.
Es ist in naher Zukunft ausgeschlossen, dass wir die Schuldenbremse reformieren.
Merz am 25. Februar 2025
Zwar deutete Merz vor kleinem Publikum, etwa beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ im Herbst 2024, eine Korrektur der Schuldenbremse an, verneinte dies jedoch später kategorisch („Es ist in naher Zukunft ausgeschlossen, dass wir die Schuldenbremse reformieren“, sagte Merz am 25. Februar 2025). Ein paar Tage später allerdings begann er mit SPD und Grünen eilig über die Auflage eines gigantischen, kreditfinanzierten Sondervermögens von 500 Milliarden für Infrastruktur und Klimaschutz zu verhandeln. Der Bundestagsbeschluss über dieses Sondervermögen war die Voraussetzung für die nun abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen. Schulden? Niemals! Schulden? Vielleicht! Schulden? Ja, wenn sie Sondervermögen heißen! So schwankte und wankte Friedrich Merz Richtung Bundeskanzleramt.
Gleich nach Veröffentlichung des schwarz-roten Koalitionsvertrages, ziemlich zeitgleich mit den Umfrage-Ergebnissen, über die sich die AfD freut, entsicherten die Heckenschützen in Union und SPD ihre Erregungskanonen und feuerten via „Bild“, “X“ und „Tagesschau“ auf die künftigen Koalitionskollegen. Mit gezielten Provokationen testeten sie die Belastbarkeit des Koalitionsbündnisses.
Der Spieler
CDU-Querschießer Jens Spahn empfiehlt seiner Partei eine Normalisierung ihrer Beziehungen zur AfD.
Lars Klingbeil warf zu Ostern eine Bombe Richtung CDU/CSU. In einem Interview stellte er das Thema Steuererhöhungen zur Debatte, gleichzeitig forderte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch eine gesetzliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro pro Stunde. Ein rotes Tuch für die Union.
CDU-Mann Jens Spahn wiederum, der „Spiegel“ nennt ihn „Spahn, der Spieler“, empfiehlt seiner Partei eine Normalisierung ihrer Beziehungen zur AfD. Die CDU-CSU-Fraktion solle AfD-Politiker wie Vertreter jeder anderen gewählten Partei behandeln und sie beispielsweise auch zu Vorsitzenden von parlamentarischen Ausschüssen wählen. Eine Horrorvorstellung für die SPD.
Prognose Nullwachstum
Tatsächlich dürfte dem mit dem Trump-Vertrauten Richard Grenell befreundeten, eher glücklosen Ex-Gesundheitsminister Spahn trotz zahlreicher Affären etwa um Coronamaskenkäufe und Immobilienkredite eine Schlüsselrolle in der Union zufallen – als Rechtsverbinder zur AfD und Schreckgestalt der SPD. In den kommenden Tagen sollte klar werden, ob Spahn Fraktionschef oder Minister wird.
Einer, mit dem man sicher gerechnet hatte, wird nicht dabei sein. Der studierte Volkswirt und ausgewiesene Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann, viele Jahre Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU und zuletzt Merz’ loyaler Generalsekretär, schien gesetzt für den Posten des Wirtschaftsministers, hat nun aber ebenso überraschend wie entschlossen kundgetan, keine Position im Kabinett übernehmen zu wollen. Linnemann mag Zweifel haben, dass das sanfte „Weiter so“ der richtige Kurs ist, um Europas wichtigste Wirtschaftsmacht gut durch die kommenden Jahre der Veränderung zu führen. Auf jeden Fall weiß er, dass der ökonomische Aufschwung in weiter Ferne liegt.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) veröffentlichte am vergangenen Dienstag seine Konjunkturprognose für Deutschland. Nach zwei Jahren der Rezession gehen die Experten nun von einem Nullwachstum aus.
Die Wirtschaft am Boden, die Weltpolitik im Chaos und die Rechten im Nacken. In dieser Gemengelage wirkt das Merz’sche „Weiter so!“ nicht gerade heroisch. Es ist trotzdem wahrscheinlich der mutigste Weg.