Bundestagswahl in Deutschland: Mutti Merkel ist weg

Mit der Bundestagswahl im September endet die Ära Merkel. Keine der bisher üblichen Koalitionen wird eine Regierung bilden können.

Drucken

Schriftgröße

Zur Einstimmung ein bisschen Geschichte

Im Jahr 2005, als Angela Merkel Kanzlerin wurde ...

  • hieß Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.
  • gab es die Sendung "Germany's Next Topmodel" noch nicht. 
  • wurde Joseph Ratzinger als Benedikt XVI. zum Papst gewählt.
  • war die Kurznachrichten-Plattform Twitter noch nicht online.

Deutschland, im April 2021, fünf Monate bis zu den Bundestagswahlen. Die meisten deutschen Jugendlichen haben  noch nie erlebt, dass auch ein Mann Bundeskanzler sein kann. Angela Merkel hat das Amt seit dem 22. November 2005 inne, hat vier Wahlen gewonnen (2005, 2009, 2013 und 2017), und es ist keine Übertreibung, festzustellen, dass mit der Bundestagswahl am 26. September 2021 eine Ära zu Ende geht. Deutschland muss sich neu sortieren.

Und, noch wichtiger: Es wird mit etwas ganz Neuem beginnen. Die politischen Kräfteverhältnisse haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten so sehr verschoben, dass die nächste Regierung aussehen wird wie noch keine zuvor.

Der Umbruch kam schleichend. Die Großparteien – erst die SPD, jetzt die Unionsparteien CDU/CSU – verloren ihre Dominanz und schrumpften zu bloß noch mittlerer Größe. Die „Große Koalition“ – CDU/CSU und SPD – existiert nur noch als historischer Begriff, längst ist sie nicht mehr groß. Folgerichtig wurde sie zur „Groko“ verulkt.

Die Option, sich einen kleinen Partner zu holen, um eine Regierung zu bilden, ist ebenfalls verschwunden, so groß ist keine Partei mehr. Die kommende Wahl und vor allem die Regierungsbildung danach ist schwer vorhersehbar, deutsche Politik wird lebendiger.

Noch fehlt eine überragende Persönlichkeit, aber was heißt das schon? Auch Angela Merkel hatte man lange nicht zugetraut, eine dominante Figur der deutschen Politik zu werden. „Kohls Mädchen“ beschied man herablassend, nur durch die Großherzigkeit des Langzeitkanzlers Helmut Kohl (1982–1998) etwas werden zu können. Nun ist sie länger im Bundeskanzleramt als Konrad Adenauer und fast so lange wie Kohl. Und selbst der spöttisch gemeinte Spitzname „Mutti“ wurde dank Merkels Unaufgeregtheit zu einem Markenzeichen. Bald ist Mutti weg, die Hosenanzüge und die Raute auch. Und wenn die Union nicht aufpasst, geht ihr Machtanspruch ebenso flöten, denn im volatilen neuen Deutschland kann auch eine Kanzlerpartei aus der Kurve fliegen.

Erlebt die Union ein böses Erwachen? Triumphieren die Grünen? Könnte gar mit Annalena Baerbock eine Politikerin ins Kanzleramt einziehen, die 2005, als Merkel dort Platz nahm, noch Studentin war?

Deutschland wird im September 2021 ein neues politisches Antlitz bekommen.

So ist die Lage

Umfragen sind fünf Monate vor einer Wahl mit besonderer Vorsicht zu genießen. Doch manche Trends halten nun schon einige Zeit an:
Die Unionsparteien weisen im Moment die stärkste Dynamik auf – allerdings nach unten. Von 37 Prozent zu Beginn des Jahres sackten sie zuletzt auf 27 ab.

Die SPD, derzeit noch Juniorpartner in der Bundesregierung, verliert seit der Amtszeit des bislang letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder fast kontinuierlich an Boden. Lag die SPD 1998 über 40 Prozent, waren es 2005 noch knapp über 30 Prozent und seit etwa zwei Jahren konstant weniger als 20 Prozent.

Die Grünen hingegen klebten jahrelang im Bereich der Zehn-Prozent-Marke, derzeit jedoch erreichen sie ihre besten Umfrageergebnisse aller Zeiten. Bei den Wahlen 2017 lagen sie noch auf Platz 6, jetzt ist Platz 2 fast sicher – und Platz 1 in Reichweite.

Die FDP, die 2013 aus dem Bundestag geflogen war, liegt ebenso wie die Linke und die Alternative für Deutschland stabil im Bereich um 10 Prozent.

Alles, was schon mal da war, geht sich nicht mehr aus

Aus den Umfragen folgt schon einmal die erste große Neuerung: Alle Koalitionen, die von den aktuell im Bundestag vertretenen Parteien schon einmal gebildet worden sind, haben derzeit keine Mehrheit. Die alte Formel „Großpartei plus FDP“, also Schwarz-Gelb oder Rot-Gelb, hat mangels Mandaten ausgedient. Auch Rot-Grün reicht nicht. Und schließlich steht auch die derzeitige Regierung aus Union und SPD in den Umfragen ohne Mehrheit da. Die letzte Alleinregierung war übrigens von 1960 bis 1961 unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) im Amt.

Welche Koalitionen sind noch möglich?

Die Wähler könnten dem Bundestag ein kniffliges Rätsel bescheren.

Ohne die Union wird es sich auch diesmal kaum ausgehen. Für die Grünen wäre zwar eine Koalition mit der SPD am attraktivsten. Doch ein linkes Bündnis aus Grünen, SPD und Linken kommt laut aktuellen Umfragen nicht auf eine Mehrheit der Sitze im Bundestag. Äußerst knapp dürfte es für eine Ampelkoalition aus Grünen, SPD und der liberalen FDP werden.
Eine Regierung unter Beteiligung der Linken hat die Union ausgeschlossen. 

Schwarz-Grün hingegen (oder Grün-Schwarz, je nachdem, wer Erster wird) könnte sich knapp ausgehen – und ist auch jene Option, die sich viele Konservative wünschen.
Als Dreier-Koalition mit der SPD ergäbe sich eine sogenannte „Kenia-Koalition“ (wegen der Farben der Flagge Schwarz-Grün-Rot).
Eine satte Mehrheit hätte auch eine sogenannte „Jamaika-Koalition“ (Schwarz-Grün-Gelb) aus Union, Grünen und FDP. Doch Letztere hatte Verhandlungen darüber nach den Wahlen von 2017 platzen lassen – ein Ärgernis, das Union und Grünen allzu gut in Erinnerung geblieben ist.

Keine Gedanken über Koalitionsgespräche braucht sich die AfD zu machen. Mit ihr will niemand zusammenarbeiten.

Die angesagte Sensation trägt grün

Jung waren die Grünen mal. Mittlerweile gibt es sie seit 41 Jahren – im Gründungsjahr 1980 kam übrigens Annalena Baerbock, eine der beiden derzeitigen Vorsitzenden, zur Welt. Aus dem politischen Spektrum sind sie nicht mehr wegzudenken. Bloß: Den Sprung nach ganz oben hat man ihnen nie zugetraut, zu sehr waren sie als Nischenpartei mit gelegentlichen Krawalltendenzen positioniert. Mit der Regierungsbeteiligung unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 wurden sie immerhin zu einer etablierten Kraft. Doch sie schienen von ihrer ideologischen Ausrichtung her an eine Koalition mit der SPD gebunden, und mit deren Abstieg ging diese Option verloren.

Doch die Grünen bekamen ihren Fundi-Flügel in den Griff, wurden berechenbarer, bürgerlicher, und ihre Themen – Umwelt, Klima, Menschenrechte – betreffen immer mehr Menschen. Plötzlich stehen „Bündnis 90/Die Grünen“, wie die Partei mit vollem Namen heißt, im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Parteienlandschaft zugleich.

Wenn die angesagte Sensation stattfindet, werden die Grünen am Abend des 26. September jenseits der 20-Prozent-Marke und einander in den Armen liegen. Sie sind so etwas wie eine neue Volkspartei geworden und haben die SPD von diesem Platz verdrängt.

Realo oder Realo, Mann oder Frau – Wer wird Spitzenkandidat der Grünen?

Im Gegensatz zur Union geht es bei den Grünen äußerst harmonisch zu – zumindest nach außen. Mit den Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck zieht zwar auch diesmal ein Spitzenduo in den Wahlkampf, doch nur einer der beiden wird als Spitzenkandidat antreten. An diesem Montag will der Bundesvorstand seinen Vorschlag präsentieren, die formelle Entscheidung wird am Parteitag Mitte Juni gefällt. 

In der Bevölkerung konnte sich die Mehrheit lange eher Robert Habeck als Annalena Baerbock im Kanzleramt vorstellen. Doch dann holte die ehemalige Trampolinspringerin auf – und überholte ihren Kollegen in den jüngsten Umfragen. 

Kritische Stimmen werfen ein, dass die 40-Jährige keine Regierungserfahrung hat. 

Baerbock hat Völkerrecht studiert und für eine Europaabgeordnete sowie in der Bundestagsfraktion der Grünen gearbeitet, ehe sie selbst 2013 ein Mandat errang. Habeck hingegen blickt auf eine Karriere als Landtagsabgeordneter, stellvertretender Ministerpräsident Schleswig-Holsteins sowie Minister des Bundeslandes zurück. Das scheint aber auch schon der einzige große Unterschied zwischen den beiden zu sein.

Baerbock und Habeck teilen sich nicht nur ein Büro, sondern auch einen Büroleiter und eine Pressesprecherin. Inhaltliche Differenzen sucht man umsonst. Mit der Ernennung Habecks und Baerbocks zum neuen Spitzenduo im Parteivorsitz im Jahr 2018 brachen die Grünen mit ihrem alten Prinzip, die Doppelspitze mit Vertretern beider Flügel (Realos und linke „Fundis“) zu besetzen. Beide stehen in der politischen Mitte, beide sind bürgerlich, beide setzen sich für Umweltschutz und die Aufnahme von Flüchtlingen ein.

Die Kandidatenfrage bei den Grünen dreht sich ausschließlich um die Personen – Baerbock ist, im Gegensatz zu den bisher feststehenden Spitzenkandidaten der anderen Parteien, eine Frau und mit 40 noch dazu relativ jung. 

Habeck war Schriftsteller, bevor er in die Politik ging. Man kennt ihn schon länger, vor allem durch seine Versprecher und ein paar öffentlich verbuchte Wissenslücken. Wirklich frech sind beide nicht.

Und trotzdem ist die Frage, wer für die Grünen antritt, für das Land diesmal von ganz besonderer Bedeutung . Der TV-Sender ProSieben hat deshalb für Montagabend gleich einmal das Hauptabendprogramm freigemacht: Um 20.15 Uhr wird ein Live-Interview ausgestrahlt; Gast: Habeck oder Baerbock.

Chaostage in der Union

Zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe dauerte die Tragikomödie „Die Union kürt ihren Spitzenkandidaten“ noch an, wobei die komischen Elemente dominierten. Insbesondere die Tatsache, dass zunehmend unklarer wurde, wer eigentlich die Entscheidung treffen soll, ob nun CDU-Parteichef Armin Laschet oder Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ins Rennen gehen soll. Die Umfragen? Die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion? Die Parteispitzen? Die Präsidien?

Die beiden Unionsparteien, die für Ordnung, Verlässlichkeit und überlegtes Handeln stehen wollen, agierten wie maoistische Splittergruppen an der Uni. Das Einzige, worauf sich CDU und CSU einigen konnten, war der Satz: „Keiner weiß, wie es weitergeht.“

Zwischen Laschet und Söder klafften Abgründe – menschliche und auch in den Umfragewerten. Die Ungewissheit stachelte die Medien an, Blitzbefragungen in Auftrag zu geben, die allesamt ergaben, dass Söder sowohl bei der Gesamtbevölkerung als auch unter den Unionsanhängern der weitaus beliebtere Kandidat wäre, und dass die Union mit ihm ein um bis zu zehn Prozentpunkte besseres Gesamtergebnis erzielen würde.

Söder, der lange zugewartet hatte, ehe er sein Interesse an einer Kandidatur deklarierte, wollte plötzlich nicht mehr zurückstecken, obwohl das CDU-Präsidium sich Montag der vergangenen Woche eindeutig für Laschet ausgesprochen hatte.

Das offene Rennen zwischen dem logischen Kandidaten Laschet und dem möglicherweise erfolgreicheren Kandidaten Söder hätte ein Musterbeispiel für innerparteiliche Demokratie werden können – wenn man sich wenigstens auf ein Prozedere geeinigt hätte.

Oder vielleicht eine Regierung ohne Union?

„Ab in die Opposition“ betitelte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vergangene Woche seinen Leitartikel. Adressat der barschen Aufforderung: die Union. Sie verfüge über „keinen geeigneten Kanzlerkandidaten“ und sei nach 16 Jahren an der Regierung „verbraucht“, so die eindeutige Analyse. Eine deutsche Bundesregierung ohne Unionsbeteiligung ist seit dem Zweiten Weltkrieg eher die Ausnahme, doch wie die Grafik zeigt, war dies immerhin schon unter den Kanzlern Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder der Fall. 

Ein Linksruck? Nicht wirklich.

Erlebt Deutschland einen Linksruck? Das ist wohl Interpretationssache. Einerseits verlieren laut Umfragen Union, FDP und auch die AfD, während auf der anderen Seite die Grünen mehr dazugewinnen als SPD und die Linke einbüßen – netto wandern also voraussichtlich Stimmen nach links. Andererseits stehen die Grünen derzeit fest in der Mitte, der linke Flügel ist weitgehend abgemeldet. Auch die SPD hat mit Finanzminister Olaf Scholz einen Kandidaten der Mitte nominiert. Die Linke schließlich kann kaum Zugewinne erwarten. Sie gilt außerdem als Problemkind eines – bisher im Bund nie da gewesenen – grün-rot-roten Bündnisses.

Vor allem die allzu freundliche Haltung gegenüber Russland macht die Partei, deren Vorgängerorganisation PDS aus der DDR-Partei „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) hervorgegangen ist, in den Augen vieler regierungsunfähig. „Was die Linke macht, ist unterirdisch“, urteilte etwa Grünen-Chef Habeck, nachdem sich Politiker der Linken vergangenen September skeptisch über eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes an der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny geäußert hatten.

Verfassungsschutz, übernehmen Sie!

Die Alternative für Deutschland macht zwar regelmäßig Schlagzeilen, allerdings kaum aufgrund inhaltlicher Äußerungen. Der größte Erfolg der AfD bestand zuletzt darin, dass das Verwaltungsgericht Köln dem Bundesverfassungsschutz bis zu einer endgültigen Entscheidung vorläufig untersagte, die gesamte Partei als „Verdachtsfall“ zu beobachten. Die rechtsextremen Umtriebe des sogenannten „Flügels“ innerhalb der AfD hatten die Verfassungsschützer auf den Plan gerufen, die ihre Aktivitäten auf die Gesamtpartei ausdehnen wollten.

Tatsächlich hatte es noch Ende 2019 so ausgesehen, als könnte die AfD ihr politisches Gewicht vergrößern. Damals lag sie vorübergehend bei rund 15 Prozent – und damit gleichauf mit der SPD. Doch die notorische Zerstrittenheit der Rechtsaußen-Partei und ihre eindeutig rechtsextremen Tendenzen ließen sie wieder auf rund zehn Prozent fallen.
Der Parteitag vor zehn Tagen entschied zwar, dass ein Duo antreten soll – wer die beiden Personen sind, blieb jedoch offen. Die Parteichefs Jörg Meuthen und Tino Chrupalla sind in einen innerparteilichen Kleinkrieg verstrickt.

Eine Prognose

Langweilig wird die Wahl ganz sicher nicht. Eine deutsche Bundestagswahl kann, streng genommen, für Europäer gar nicht ohne Interesse sein. Zu bedeutsam ist, wer in Berlin, Willy-Brandt-Straße Nummer 1, Platz nimmt. Wer wird die Raute formen, wenn mitten in einer Krise alles bange aufs Kanzleramt blickt?

Dass die Union sich wenige Monate vor der Wahl über der Frage, wer Spitzenkandidat werden soll, zu zerfleischen begonnen hat, erhöht die Spannung. 

Trotz aller Unwägbarkeiten, trotz möglicherweise schwieriger Koalitionsbildung und trotz des Fehlens eines alle anderen überstrahlenden Talents drängt sich eine Prognose auf: Deutschland wird von einer Regierung geführt werden, die solide in der politischen Mitte verankert ist. Union, Grüne, SPD, FDP – und damit voraussichtlich drei Viertel der Mandatare – zeigen keinerlei Anzeichen, nach weit rechts oder links abzudriften.

Keine Bange also, oder, wie Merkel einmal sagte: „Ich kann versprechen, das Brandenburger Tor steht noch eine Weile.“  

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur