Dauerstreit in deutscher Regierung: Chronik einer Zerrüttung
Von Siobhán Geets
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Am Anfang war es – wie so oft – geradezu harmonisch. Nicht irgendeine Regierung sollte es werden, sondern eine „Fortschrittskoalition“: Drei Parteien legen ihre Differenzen beiseite und finden Kompromisse, um Deutschland voranzubringen. So lautete zumindest der Plan von SPD, Grünen und FDP im Herbst 2021. Die SPD hatte die Bundestagswahlen knapp gewonnen, die Grünen erzielten mit 14,8 Prozent ein Rekordergebnis, und die FDP lag mit 11,5 Prozent immerhin noch vor der AfD. Die CDU landete knapp hinter der SPD auf dem zweiten Platz und ging in Opposition.
„Die Fortschrittskoalition ist mit einem richtigen Spirit aus den Verhandlungen herausgegangen“, sagt jemand, der damals bei den Gesprächen dabei war. „Doch damit ist es vorbei.“ Nach knapp drei Jahren Ampelregierung herrscht Dauerstreit. Zwischen der Regierung und der Opposition. Zwischen den Koalitionspartnern. Und selbst innerhalb der Parteien. Das Vertrauen ist verspielt, der gute Wille scheint dahin.
Das zeigt sich an der aktuellen Auseinandersetzung über den Umgang mit irregulärer Migration. Sie soll begrenzt werden, darin sind sich die Regierung und die Opposition einig. Doch die Frage, wie das geschehen soll, liefert viel Material für Auseinandersetzungen – schon wieder. Chronik einer Zerrüttung.
Friedrich Merz – der Unberechenbare
CDU-Chef Friedrich Merz gilt schon lange als einer, der gerne einmal die Kontrolle über sein Temperament verliert. Der alles persönlich nimmt, Kollegen im Parlament auffordert, „den Mund zu halten“; Parteifreunde vor Publikum anschreit oder Bundeskanzler Olaf Scholz als „Klempner der Macht“ beschimpft.
Doch seit dem Anschlag in Solingen, Nordrhein-Westfalen, scheint Merz endgültig die Contenance verloren zu haben. Ende August erstach ein als Flüchtling über Bulgarien nach Deutschland eingereister Syrer bei einem Stadtfest drei Menschen – und in Deutschland wurde die Debatte über den Kampf gegen irreguläre Migration neu entfacht. Angetrieben wird sie von Merz und dessen Forderungen für eine härtere Asylpolitik.
Mit der Integration von Flüchtlingen sind die Kommunen seit Jahren überfordert. Es fehlt an Wohnraum und Kassenärzten, an Schul- und Kindergartenplätzen. Doch Merz verknüpft das Thema Migration seit Solingen ausschließlich mit Kriminalität und Gewalt.
Ein Treffen zwischen der Regierung und der Union über einen Migrationspakt wurde nach gerade einmal zwei Stunden abgebrochen. Die Ampel „kapituliert vor der Herausforderung der irregulären Migration“, ätzte Merz auf X.
Der CDU-Chef hatte eine alte Forderung der in Teilen rechtsextremen AfD aufgewärmt: Er will Flüchtlinge an den deutschen Grenzen ohne Asylverfahren zurückzuweisen. Weil das rechtlich nicht möglich ist, schlug er vor, dass die Regierung eine nationale Notlage erklärt. Das Europarecht erlaubt das allerdings nur bei „plötzlichem Zustrom von Drittstaatsangehörigen“ – was derzeit nicht der Fall ist, die Zahlen liegen unter dem Niveau des Vorjahres. Und auch in einer Notlage müsste sich Deutschland zuerst mit den Nachbarländern und den EU-Institutionen abstimmen.
Doch das kümmert Merz nicht. Der CDU-Chef spielt seine Rolle als Oppositionsführer nahezu perfekt, wirft markige Sprüche in die Debatte und treibt die Regierung vor sich her. Über die Umsetzbarkeit seiner Vorschläge muss er sich keine Sorgen machen, es reicht, wenn seine Aussagen verfangen. Und das tun sie: In Umfragen liegt die Union bei rund 34 Prozent, das ist mehr als die Summe aller drei Parteien der Ampelregierung.
Olaf Scholz – der Unbeliebte
Gleich mehrere Rekorde knackt auch die SPD, allerdings zu ihren Ungunsten. Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen fuhr die Partei mit 6,1 und 7,3 Prozent historisch schlechte Ergebnisse ein. Bundeskanzler Scholz ist im Beliebtheitsranking so weit abgestürzt, dass sogar Tino Chrupalla von der vom Verfassungsschutz in Teilen als rechtsextrem eingestuften Alternative für Deutschland (AfD) vor ihm liegt. In der SPD mehren sich die Stimmen, die Scholz vor den Wahlen in einem Jahr austauschen wollen.
Dabei hat der Bundeskanzler, der für seine einschläfernde Wirkung bekannt ist, zuletzt sogar durch so etwas wie Leidenschaft überrascht. „Sie sind der Typ von Politiker, der glaubt, mit einem Interview in der ‚Bild am Sonntag‘ hätte er schon die Migrationsfrage gelöst“, donnerte er Merz vergangene Woche bei einer Rede vor dem Bundestag entgegen. Kaum habe Merz die Redaktionsräume verlassen, hätte er schon wieder vergessen, was er vorgeschlagen habe: „Weil Sie niemals vorhatten, sich darum zu kümmern!“
Olaf Scholz versucht seit Wochen, Merz als Sprücheklopfer darzustellen – und sich selbst als Macher. Merz hat nie regiert, Scholz war Bürgermeister von Hamburg, Finanzminister, Bundeskanzler. Die Strategie ist schlüssig, doch sie hat einen Haken: Eine Mehrheit der Wähler ist alles andere als zufrieden mit seiner Regierungsbilanz.
Und jetzt auch noch die Angelegenheit mit den Grenzen. Am vergangenen Montag weitete die Bundesregierung in Berlin die Grenzkontrollen im Süden und Osten des Landes auf alle Landesgrenzen aus – unter scharfer Kritik aus Brüssel, Luxemburg, Polen und Österreich.
Lob für seine Pläne bekam Scholz hingegen von Rechtsaußen. „Bundeskanzler Scholz, willkommen im Klub!“, schrieb Ungarns Premier Viktor Orbán auf X. Und der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders nannte die Berliner Pläne im Kampf gegen irreguläre Migration eine „gute Idee“.
Die Ampel plant nämlich auch, sogenannte Dublin-Fälle voranzutreiben. Dabei können Asylwerber in jene Länder zurückgebracht werden, auf deren Gebiet sie die EU erstmals betreten haben.
Die Regierung riskiere eine neue Migrationskrise, sagen Kritiker, Deutschland setze seine Vorbildfunktion aufs Spiel.
Davon will man in der SPD nichts hören. „Es war die Bundesrepublik, die die europäische Asylreform GEAS vorangetrieben hat“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese im Gespräch mit profil. Die Ampel bringe lediglich national auf den Weg, was EU-weit ab 2026 in Kraft trete.
Annalena Baerbock – Grüne im Dilemma
Für die Grünen werden die Beschlüsse für Grenzkontrollen und Zurückweisungen zur Zerreißprobe. Zwar tragen Außenministerin Annalena Baerbock und Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck die Verschärfungen in der Asylpolitik mit. Doch in der Basis brodelt es.
In einem offenen Brief an die Parteispitze fordern Europa-, Bundes- und Landtagsabgeordnete eine Rückbesinnung auf europäische Werte. Die Grenzkontrollen widersprächen dem Schengener Kodex, heißt es da, die Politik der Abschottung stehe im Widerspruch zu Menschenrechten.
In den vergangenen Jahren haben die Grünen zahlreiche Verschärfungen in der Migrationspolitik mitgetragen; vor Kurzem hat Deutschland zum ersten Mal seit der Machtübernahme der Taliban wieder Straftäter nach Afghanistan abgeschoben. Der linke Parteiflügel nahm all das zähneknirschend hin – bis jetzt.
Für viele Grüne war schon die europäische Asylreform GEAS zu viel. „Baerbock hat am Ende für mehr Härte in der Asylpolitik gestimmt, das war für den linken Parteiflügel ein Verrat“, heißt es aus Grünen-Kreisen in Berlin. Mit der Verschärfung der Migrationspolitik durch die Ampel sei das Fass endgültig übergelaufen.
Die Grünen stecken in einem Dilemma. Sie müssen ihre Wähler aus der Mitte halten, ohne die Basis zu vergraulen. „Da sind viele Menschen dabei, die sich in den Kommunen engagieren oder in der Flüchtlingshilfe, die sehen, dass die Schulplätze nicht reichen und die Unterkünfte überfüllt sind“, sagt eine Grüne, die nicht namentlich genannt werden will. „Diese Menschen sehen den Frust in den Dörfern, sie wollen konkrete Lösungen für die Probleme und fremdeln mit dem Teil der Partei, der sich ausschließlich auf Menschenrechte bezieht.“
Das Thema Migration droht, die Partei zu zerreißen.
Mit dem Rechtsruck der CDU scheint auch der Wunschtraum der Grünen für eine Koalition mit der Union nach den Wahlen in einem Jahr dahin. Friedrich Merz hat einer Zusammenarbeit mit den Grünen bereits eine Absage erteilt – zumindest „aus heutiger Sicht“.
Björn Höcke – Feuerwehrmann mit Ölkanister
Eine profitiert vom Streit in Berlin zweifellos am meisten: die AfD. Sie hat vor drei Wochen die Wahlen im ostdeutschen Bundesland Thüringen gewonnen, auch in Sachsen erhielt sie mehr als 30 Prozent der Stimmen. Und in Brandenburg, wo am Sonntag gewählt wird, liegt die AfD in Umfragen mit 28 Prozent auf dem ersten Platz.
Angeführt wird die AfD von Alice Weidel und Tino Chrupalla, doch Björn Höcke, AfD-Spitzenkandidat in Thüringen, gilt schon lange als heimlicher Parteichef.
Die AfD Höckes in Thüringen ist laut dem Landesverfassungsschutz „erwiesen rechtsextremistisch“, Höcke darf sogar als Faschist bezeichnet werden.
Toleranz und Vielfalt sind für ihn Bestandteile einer gefährlichen Ideologie, die es zu vernichten gilt, Migration soll nach dem Willen der AfD auf null reduziert werden.
Die Partei hat Erfahrung darin, Migration mit Kriminalität zu verknüpfen. In Thüringen und Sachsen beschwor die AfD den Untergang Deutschlands herauf. Migration bedrohte das deutsche Volk – und allein die AfD könne das Land retten. Das hat verfangen.
Kommt es wie geplant nicht zu einer Regierungsbeteiligung der AfD in den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg, kann die Partei ihre Oppositionsrolle weiter nutzen und womöglich noch stärker werden. Die AfD schneidet immer dann besonders gut ab, wenn die anderen Schwäche zeigen. Deutlich wurde das in der Debatte um das umstrittene Heizungsgesetz der Ampelkoalition vor einem Jahr. Der Dauerstreit zwischen Grünen, SPD und FDP verunsicherte Wählerinnen und Wähler und brachte ein Umfragehoch für die AfD. Seit dem Antritt der Ampel vor drei Jahren hat sie ihre Umfrageergebnisse nahezu verdoppelt.
Sahra Wagenknecht – die Unvermeidbare
„Wir sind zu einem Machtfaktor geworden“, sagte Sahra Wagenknecht, und wenn sie „wir“ sagt, dann meint die Co-Vorsitzende der Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) nicht zuletzt sich selbst. Wagenknecht, bis Oktober 2023 Bundestagsabgeordnete der Linksaußen-Partei „Die Linke“, hat ihre Strahlkraft als Lieblingsgast aller Polit-Talkshows erfolgreich in Stimmen und Mandate umgewandelt.
Das BSW kam bei seinem ersten Antreten bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen jeweils auf Platz drei und rückte dadurch sofort als möglicher Mehrheitsbeschaffer in den Fokus. Das ist nicht ohne Pikanterie, denn die Positionen der neuen Partei sind einerseits – wirtschaftspolitisch – weit links und bei vielen Themen denen der Rechtsaußen-Partei AfD nicht unähnlich: migrationsfeindlich, gegen militärische Hilfe für die Ukraine, gegen Russland-Sanktionen …
Das Phänomen Wagenknecht wird von den Mitbewerbern mit einer Mischung aus Grusel und Hoffnung beäugt. Einerseits hielt man es für möglich, dass das BSW der AfD das Wasser abgraben könnte – das hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Andererseits macht sich neben der teils rechtsextremen AfD mit dem BSW nun eine weitere populistische Kraft im Bundestag und nach und nach auch in den deutschen Landtagen breit.
Zumindest in den einzelnen Bundesländern ist das BSW ein potenzieller, weil quasi unvermeidlicher Koalitionspartner. Ein allfälliges Regierungsbündnis aus CDU, SPD und BSW hat auch schon einen Namen: „Brombeer-Koalition“ (schwarz, rot, violett). Wagenknecht kann sich freuen. Sie weiß, sie wird gebraucht.
Christian Lindner – neoliberaler Sprengmeister
Will man den Beginn des Dauerstreits in Berlin an einem Zeitpunkt festmachen, dann ist es wohl der Februar 2023. „Habeck will Öl- und Gasheizungen verbieten“, titelte die Boulevardzeitung „Bild“– und leakte den Gesetzesentwurf zum „Heizungsgesetz“: Es sah vor, dass ab 2024 möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll. SPD und Grüne wollten etwas gegen die hohen Energiepreise unternehmen, konkret sollte der Austausch von Gasheizungen durch Wärmepumpen gefördert werden.
Die Angelegenheit wurde bald zum größten Streit in der Ampelregierung. Der Koalitionspartner FDP sprach von einer „Verbotsorgie“ und forderte „Technologieoffenheit“. Und in großen Teilen der Bevölkerung setzte sich die Überzeugung durch, Wirtschaftsminister (und Vizekanzler) Robert Habeck wolle den Menschen ihre alten Heizungen herausreißen und ihnen teure Wärmepumpen aufzwingen.
Am Ende gelang zwar ein Kompromiss, doch der Schaden war angerichtet. Habecks Beliebtheitswerte stürzten ab, das Gerangel um das Heizungsgesetz beschädigte die Beziehungen zwischen FDP und Grünen nachhaltig.
Und der Streit ging weiter.
Scholz will die Schuldenbremse aussetzen, um ein Haushaltsloch in Milliardenhöhe zu stopfen? Lindner ist dagegen – und fordert Einsparungen im Sozialbereich. Die EU beschließt das Aus für Verbrenner-Motoren? Nicht mit der FDP; sie schickt kurzerhand Verkehrsminister Volker Wissing nach Brüssel, um im letzten Moment Ausnahmen hineinzuverhandeln. SPD und Grüne wollen das Waffenrecht verschärfen? Lindner blockiert, weil er erst einmal alle geltenden Regeln umfassend prüfen lassen will. Ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen? Auf keinen Fall! Oder doch, aber nur, wenn die Grünen im Gegenzug einem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zustimmen.
Es scheint, als habe die FDP ihre Blockadehaltung zur politischen Strategie ausgebaut.
Sage und schreibe null Prozent sprechen sich in einer aktuellen Umfrage für die Ampel-Koalition aus.
Genutzt hat ihr das offenbar nicht, im Gegenteil. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein flogen die Liberalen aus der Regierung, in Niedersachsen und Berlin aus dem Parlament. Bei den Wahlen in Thüringen erlangte die FDP gerade einmal 1,1 Prozent, in Sachsen wird sie mit weniger als einem Prozent der Stimmen in den Wahlergebnissen in der Spalte „Andere“ angeführt.
Geändert hat das alles nichts. Seinen Regierungspartnern in Berlin droht Lindner regelmäßig damit, die Koalition zu sprengen, bei Grünen und SPD ist er mittlerweile ein rotes Tuch.
Immer öfter stellt sich die Frage: Wie lange kann das noch gut gehen?
In einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders ZDF schneidet die Ampel von allen möglichen Regierungskonstellationen am schlechtesten ab: Bemerkenswerte null Prozent sprachen sich für das Bündnis aus, das Deutschland seit drei Jahren regiert.
Der Drang zu Neuwahlen hält sich in Grenzen, die Angst vor Wahlen hält die Koalition zusammen.
Der Dauerstreit kann weitergehen.
Mitarbeit: Robert Treichler
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.