Deutschland vor Neuwahlen: Vielen Dank für die Blumen
Von Walter Mayer
Schriftgröße
Am Montagabend, es war der fünfte Tag nach dem Platzen der Ampelkoalition, brachte die SPD einen prächtigen Strauß Blumen ins Büro von CDU-Chef Friedrich Merz. Der Bote war SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Während in der Öffentlichkeit weiter mit drastischen Worten übereinander hergezogen wurde (Merz über Bundeskanzler Olaf Scholz: „Respektlos“, „auf Dissens ausgerichtet“, „Sie spalten das Land“), sollten hinter verschlossenen Türen Blumen sprechen. Denn: Man braucht einander noch. Beziehungsweise: Das Land braucht, dass man einander braucht.
Die Entlassung des Finanzministers war unvermeidlich.
Und tatsächlich, hinter den Kulissen einigten sich Merz und Mützenich auf geordnete Wahlen und weitgehend konstruktives Abstimmungsverhalten. Es geht also weiter. Die Regierungskrise wird nicht zur Staatskrise. Jetzt wird wieder nach vorn geblickt. Es ist bereits Wahlkampf. Und so stellt sich die Frage: Was ist am Abend des 6. November 2024 wirklich geschehen? Woran ist die Ampel nach drei Jahren Streit und Stagnation gescheitert? Und was könnte eine künftige Regierung, bevor sie ihre eigene Agenda angeht, daraus lernen?
„Die Entlassung des Finanzministers war unvermeidlich“, sagte Bundeskanzler Scholz in seiner Regierungserklärung eine Woche nach dem Ampel-Aus.
Nur: Hat tatsächlich der Crashkurs von Ex-Finanzminister Christian Lindner, dessen FDP spätestens, seit sie nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen in keinem einzigen ostdeutschen Landesparlament mehr vertreten ist und in der politischen Todeszone um plus/minus fünf Prozent Wähleranteil schwebt, das Scheitern der Ampel provoziert? Oder wurde er entlassen, weil er sich konsequent weigerte, am Heiligtum der deutschen Politik, der Schuldenbremse, zu rütteln, also keinen Verfassungsbruch begehen wollte?
Wie viel Schuld trifft die offensichtliche Kommunikations- und mutmaßliche Führungsschwäche von Olaf Scholz, der selbst in den größten Krisen nur ein gepresstes „Ich bin der Kanzler“ über die Lippen kriegt und seine emotionalste Rede, die nach dem Rauswurf des Finanzministers, Wort für Wort verfasst von seinem Staatssekretär Steffen Hebestreit, vom Teleprompter ablas? Sind die inneren Widersprüche der SPD verantwortlich, deren rechter und linker Flügel einander paralysieren, die mal auf Klassenkampf, mal auf Wokeness und dann wieder auf Industriefreundlichkeit setzt und mit dem Generalsekretär Kevin Kühnert gerade eines ihrer wenigen Talente (aus, wie es hieß, gesundheitlichen Gründen) verloren hat?
Intrigen, Durchstechereien, Gegeneinander
Wie destruktiv war das übergroße Ego von Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, der sich trotz problematischer Performance als Wirtschaftsminister zum Kanzlerkandidaten der Grünen ausrief? Welchen Anteil hat der allgemeine Vertrauensverlust der Bevölkerung in die liberale Demokratie, von der nur noch knapp jeder Zweite glaubt, dass sie die Probleme des Landes lösen kann? Sind das Haushaltsloch, die schrumpfende Wirtschaft, oder gar die Migranten schuld? Wäre alles gut gegangen ohne Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine, der die ökonomische, politische und emotionale Verfasstheit der Bundesrepublik und die allermeisten Vorhaben der Koalition aus den Angeln hob, weil sie in Folge der explodierten Energiepreise nicht mehr finanzierbar waren?
Und schließlich kann man fragen, inwieweit die Nachricht von Donald Trumps Wahlsieg die Gefühlslage der Verhandler an jenem 6. November durcheinanderwirbelte und so das Ende der Ampel beschleunigte, wie nachrichtenresilient die Nerven politischer Akteure heute also sein sollten.
Sie spalten das Land!
Vermutlich ist die rot-gelb-grüne Ampel – und diese Diagnose fasst einerseits all die vorgenannten Fragestellungen zusammen und ist andererseits die allerernüchterndste Erklärung für das Ende eines Bündnisses – ganz einfach am Makel der menschlichen Maßlosigkeit gescheitert. Zu den politischen Differenzen in der Koalition ist nämlich ein entscheidender Faktor hinzugekommen: Sie konnten einander auch persönlich nicht mehr ausstehen. Vor allem die Alpha-Macker Lindner und Habeck gingen einander mit wechselseitigen Vorwürfen und elaborierten Konzepten zur Ankurbelung der Wirtschaft zunehmend auf die Senkel. Intrigen, Durchstechereien, Gegeneinander.
Dabei erschien Rot-Gelb-Grün am Anfang mehr als Clique denn als Koalition. Die Schritte waren federnd, die Körper wirkten wach, all die zukünftigen Macher und Minister waren schlank und fit, in den Gesichtern spiegelten sich Kraft und Zuversicht. Sympathie über Parteigrenzen hinweg. Politik als Lächeln. Scholz, Lindner, Habeck und Baerbock strotzten vor Wollen. Sogar die SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken schienen neben ihnen irgendwie jung und dynamisch.
© APA/FDP/instagram/Volker Wissing
Ampelkoalition in der Krise
FDP-Generalsekretär Volker Wissing , Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock, FDP-Chef Christian Lindner und Robert Habeck, grüner Co-Chef (v. l.) im Herbst 2021: Wokeness und Wirtschaftswachstum
FDP-Generalsekretär Volker Wissing , Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock, FDP-Chef Christian Lindner und Robert Habeck, grüner Co-Chef (v. l.) im Herbst 2021: Wokeness und Wirtschaftswachstum.
Polit-Archäologen werden, sollten sie irgendwann das ruhmlose Scheitern der „Zukunftskoalition“ (Selbstbezeichnung) untersuchen, die Fotos vom Spätherbst 2021 ausgraben, auf denen die Ampelakteure in Kameras lächelten, als hätten sie sich zu einer Rave-Nacht im Kult-klub Berghain verabredet. Am frühen Nachmittag des 15. Dezember 2021 unterschrieben sie den Koalitionsvertrag. Wer heute die 144 Seiten dieses Dokuments liest, muss den Glauben an die Wirkmächtigkeit schöner Worte verlieren. Das Versprechen der Ampel nach den bleiernen Merkel-Jahren der herabhängenden Mundwinkel: Wir verbinden Wokeismus mit klimabewusstem Wirtschaftswachstum, sozialen Goodies und viel guter Laune.
Führungslos in den Winter
Fast 1000 Tage später sind die Mienen müde und die Körper schwer. Inflation. Sinkendes Bruttoinlandsprodukt. Beschäftigungskrise. Die Autoindustrie angezählt. VW will drei Werke schließen. Dazu kommt die Digitalisierung nicht in Fahrt. Die Bahn muss ihre Pünktlichkeitsversprechen zurücknehmen. Die Infrastruktur kracht.
Und jetzt geht Deutschland, trotz mittlerweile zweijähriger Rezession immer noch Europas größte Volkswirtschaft und die drittgrößte der Welt, führungslos in den Winter. Alle Indizes zeigen nach unten, die einzige Kurve, die stark nach oben geht, ist die der AfD. „Wir haben es verkackt“, sagt SPD-Außenpolitiker Michael Roth.
Ein paar Zahlen: Zuletzt waren laut Deutschlandtrend der ARD nur mehr 14 Prozent der Deutschen zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung. 75 Prozent halten das neue „Bürgergeld“ (Hartz IV plus mehr Geld, minus Kontrollen) für ungerecht. Besonders alarmierend: Nach drei Jahren Ampel stimmen 20 Prozent der bei der Leipziger „Autoritarismus-Studie“ Befragten der Aussage zu, dass „unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Regierungsform“ sei.
Natürlich weiß kein Mensch, ob die Ampel ohne den russischen Einmarsch in die Ukraine und das darauf folgende Wirtschaftsbeben nicht auch zerbrochen wäre. Aber Tatsache ist: Die explodierten Gaspreise, die Mittel zur militärischen Unterstützung der Ukraine, das milliardenschwere „Sondervermögen“ für die Bundeswehr und schließlich die Kosten der Hunderttausenden ukrainischen Geflüchteten diktierten seit Februar 2022 die Wirtschaftspolitik.
Die einzige realistische Chance ist mit der SPD. Aber ohne Olaf Scholz.
Dann: Habecks vielleicht gut gemeintes, jedenfalls aber vermasseltes Wärmepumpengesetz, das, noch bevor es fertig ist, an den Boulevard durchgestochen wird und den Eindruck erweckt, jeder Hausbesitzer müsse sich bald hoch verschulden, um Wärmepumpen einzubauen.
Bauernproteste. Ein Boot mit Habeck an Bord wird an der Kieler Förde von einer wilden Menge fast gestürmt.
Dann: Das Urteil des Verfassungsgerichts, das den Haushalt kassiert, weil die Schuldenbremse umgangen worden sei – jene Regelung, die seit 2009 Verfassungsrang hat und der Bundesregierung Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits macht. Ab nun muss gespart werden, und der Finanzminister streicht immer wieder bereits gemeinsam beschlossene Vorhaben.
Dann: Immer neuer Streit um die Ukraine-Politik, hier marschieren Grüne und FDP gemeinsam, werfen Kanzler und SPD Zögerlichkeit vor.
Jedenfalls: Die Ampel macht bald keinen Spaß mehr. Nach drei Jahren Rot-Gelb-Grün ist Deutschland die einzige entwickelte Volkswirtschaft, die nicht mehr wächst.
Christian Lindner erkennt früh: Im politischen Parallelogramm ist die kleinste Kraft die stärkste. Er klammert sich an die Schuldenbremse und wird immer mehr zum Spielverderber der Koalition.
Billige Bluffs
Am Ende bleiben als gemeinsame (und quasi kostenlose) Herzensprojekte nur das „Selbstbestimmungsgesetz“, das die freie Wahl des Geschlechts ab 14 Jahren gestattet (tritt nächste Woche in Kraft) und die Haschischlegalisierung. Dass das Ende der ökosozialliberalen Koalition auf den Tag von Donald Trumps triumphalem Comeback und die in ihrem Ausmaß überraschende Niederlage von Kamala Harris fällt, ist nur eine unverschämte Laune der Geschichte, beleuchtet aber das globale Ende des „Obama-Zeitalters“ umso greller. Die Welt rückt nach rechts und verabschiedet sich in Riesenschritten vom liberal-demokratischen Versprechen auf Teilhabe, Diversität, Freizügigkeit, Gendergerechtigkeit, Internationalisierung. Egal wie die künftige Berliner Regierung aussieht, sie wird in vielerlei Hinsicht illiberaler, härter und gesellschaftspolitisch konservativer sein, als es die Ampel war.
Und nun? In den Tagen nach dem Ampel-Aus übten sich Sozialdemokratie und Union zunächst in billigen Bluffs und wechselseitiger Verachtung. Die CDU/CSU-Vertreter kündigten an, sämtliche Gesetzesvorhaben der Restregierung zu blockieren, bis sich Bundeskanzler Scholz der Vertrauensfrage stellt. Doch dann sprachen die Blumen. Und während in den Talkshows noch heftig
gestritten wurde, vereinbarten Merz und Mützenich einen belastbaren Fahrplan zur neuen Regierung: Der Bundeskanzler stellt am 16. Dezember die „Vertrauensfrage“ (um sie zu verlieren), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dann „zeitnah“ den Bundestag auflösen, und am Sonntag, dem 23. Februar 2015, mitten in der beschwingten Karnevalszeit, sind rund 60 Millionen Deutsche zur Wahl aufgerufen.
Gleichzeitig handelten Union und SPD aus, welche Gesetze sie noch in diesem Jahr gemeinsam beschließen wollen. Eine erleichterte Telefonüberwachung von Banden der organisierten Kriminalität scheint fix. Die Stärkung des Verfassungsgerichts ebenso. Wohl auch der Abbau der kalten Progression. Die Union verzichtet darauf, ihren geplanten Antrag zur weiteren Begrenzung illegaler Migration einzubringen (auch aus Sorge, dass dieser mit AfD-Unterstützung durchkommt).
Das Grummeln ist mit Händen zu greifen.
Die SPD wiederum wird sich vom beliebten günstigen Deutschlandticket (mit dem man für 49 Euro im Monat den öffentlichen Nahverkehr nutzen kann) verabschieden müssen. In der Bundestagsdebatte vom 13. November machte Merz schließlich das hochoffizielle Angebot, sämtliche von der FDP blockierten und nun liegen gebliebenen Vorhaben von Rot-Grün mit der Union abzustimmen, bevor sie ins Parlament kämen.
GroKo ohne Scholz?
Und mit Blick auf eine kommende Legislaturperiode spricht CDU-Chef Merz, bislang ein entschiedener Verfechter der Schuldenbremse, dieses heißeste Eisen der Ampel an: jene Schuldenbremse, die Lindner so eisenhart einhalten wollte und die dann wohl letztendlich zu seinem Rauswurf führte. Merz verspricht nun einen flexibleren Ansatz: Wenn man mehr Geld brauche „für Investitionen, für die Zukunft, für unsere Kinder“, so wird Merz von der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert, wäre es gerechtfertigt, die Schuldenbremse zu lockern, sie sei ja auch ein „technisches Instrument“.
Friedrich Merz wird, solange er keine groben Fehler mehr macht, wohl Deutschlands nächster Bundeskanzler.
Hat sich Christian Lindner, der gerne Finanzminister in einem künftigen Kabinett Merz werden würde, verzockt?
„Es riecht nach großer Koalition“, schreibt „Bild“-Chefredakteur Robert Schneider am vergangenen Mittwoch. „Die einzige realistische Chance ist mit der SPD. Aber ohne Olaf Scholz“, sagt auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.
Wenn nicht mit Olaf Scholz, dann vielleicht mit Boris Pistorius, dem basisnahen Sozi aus Osnabrück, den Scholz zum Verteidigungsminister machte und der lange nicht so stylish rüberkommt wie die Ampelhelden von 2021, aber jedes Politikerranking anführt und mit Aussagen wie jener, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, offenbar einen Zeitgeist trifft. Zwar versucht die SPD-Führung, die Partei auf Scholz als den „natürlichen Spitzenkandidaten“ einzuschwören, aber es mehren sich die Stimmen, die sich Pistorius als Nummer eins im Wahlkampf wünschen. Laut Forsa-Institut sind 58 Prozent der SPD-Anhänger für ihn, lediglich 30 Prozent für Scholz. Ein Funktionär: „Das Grummeln ist mit Händen zu greifen.“
Aber es geht natürlich um mehr als um Leute. Es braucht einen Plan, damit Deutschland nicht an seinen verpassten Chancen erstickt. Blumen, auch wenn sie betörend duften, reichen da nicht aus.