Den Konservativen ist sie mit ihrer Klimapolitik zu grün, linke Kräfte werfen ihr vor, Ungarn gegenüber zu nachgiebig gewesen zu sein. Bleibt Ursula von der Leyen Europas mächtigste Frau?
Ursula von der Leyens Kandidatur beginnt mit einer Demütigung.
Anfang März reisen Hunderte Delegierte der Europäischen Volkspartei (EVP) in die rumänische Hauptstadt Bukarest. Der Parteikongress der Christdemokraten dauert zwei Tage, Höhepunkt ist Ursula von der Leyens Wahl zur Spitzenkandidatin der EVP bei den Europawahlen Anfang Juni. Seit 2019 ist die deutsche CDU-Politikerin Präsidentin der EU-Kommission – und sie will es bleiben. Doch in ihrer Parteienfamilie bleibt die Euphorie aus.
In Bukarest hält von der Leyen ihre Bewerbungsrede in einem gigantischen Kuppelsaal, in dem sonst Popkonzerte stattfinden. Rund 24 Minuten spricht von der Leyen vor ihren Parteifreunden, Stimmung kommt keine auf. Es wird geplaudert, Selfies werden gemacht, die Hälfte der Sitze ist leer.
Auf der Bühne steht die mächtigste Frau Europas, oder, wie das US-Magazin „Forbes“ es kürzlich wieder formulierte: „Die mächtigste Frau der Welt“. Doch bei ihren Parteifreunden bleibt die Euphorie aus, vielen von ihnen ist von der Leyen zu grün, ihre Positionen zu wenig konservativ, ihre Politik zu weit weg von dem, was sie zu Hause in den Nationalstaaten vertreten.
Seit mehr als 20 Jahren bekleidet Ursula von der Leyen Regierungsämter (siehe Zeitleiste), von 2003 bis 2005 als Familienministerin in Niedersachsen, von 2009 bis 2013 als Bundesministerin für Arbeit und Soziales, von 2013 bis 2019 als Verteidigungsministerin in Berlin. Seit 2019 ist sie Präsidentin der EU-Kommission.
Eine europäische Bilderbuchgeschichte
Der Umzug nach Brüssel war eine Rückkehr an jenen Ort, an dem von der Leyen das Licht der Welt erblickte. „Für ihre Rolle in Europa ist der Lebenslauf perfekt“, heißt es in ihrer Biografie, die 2019 erschien (siehe Kasten). Geboren wird von der Leyen 1958 in der belgischen Hauptstadt als Ursula Gertrud Albrecht. Ihre Brüder nennen sie Röschen, weil sie das erste Mädchen ist. Ihre Mutter gibt ihren Job als Theaterkritikerin auf und wird mit der Geburt der Kinder – sieben sollen es insgesamt werden – Hausfrau. Die Familie lebt in einem Brüsseler Backsteinhaus, der Vater jagt am Wochenende Fasane mit dem belgischen Adel. Auf den Familienfesten wird Theater gespielt, von der Leyen nimmt Reitunterricht und lernt Französisch.
Ursula von der Leyens Vater Ernst Albrecht, ein CDU-Politiker und später Ministerpräsident von Niedersachsen, ist Spitzenbeamter in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem Vorgänger der EU.
Als von der Leyen 2019 zur Kommissionspräsidentin gewählt wird, ist er bereits fünf Jahre tot. Ein Parteifreund soll ihr nach der Wahl im EU-Parlament ins Ohr geflüstert haben: „Er beobachtet dich jetzt!“ Von der Leyen ist gerührt, kämpft mit den Tränen. Die Tochter hat es bis an die Spitze der Kommission geschafft. Als erste Frau in der Geschichte.
„Mein Vater hat immer zu mir gesagt: Europa ist kostbar, und wir müssen gut darauf achtgeben, denn es ist alles, das wir haben“, so von der Leyen in ihrer Antrittsrede in Bukarest. Ernst Albrecht arbeitete gemeinsam mit dem CDU-Urgestein Konrad Adenauer an den Römischen Verträgen der EU. Bei Besprechungen darf die kleine Ursula unter dem Schreibtisch ihres Vaters sitzen und zuhören.
Mein Vater hat immer gesagt: Europa ist kostbar und wir müssen gut darauf achtgeben
Ulrike Demmer und Daniel Goffart haben sich auf die Spur der Ausnahmepolitikerin Ursula von der Leyen gesetzt und ein kritisches Porträt der prominenten Christdemokratin verfasst.
Eine Bilderbuchgeschichte für eine Konservative, noch dazu für eine, die als Kommissionschefin in Brüssel von der Corona-Pandemie über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bis hin zum Kampf gegen den Klimawandel eine ganze Reihe an Krisen gemeistert hat. Doch ihre Parteienfamilie fremdelt. Dabei habe Angela Merkel, die langjährige deutsche Kanzlerin, von der Leyen gezielt gefördert, um die CDU zu modernisieren und für neue Wählergruppen attraktiv zu machen, erzählt ein Insider.
Von der Leyen mag in einem CDU-Haushalt aufgewachsen sein, der Partei beigetreten ist sie erst mit 32 Jahren. „Sie war immer schon offen für andere Sichtweisen“, sagt eine Politikerin, die von der Leyen aus ihrer Zeit in Berlin kennt. Als sie mit Mitte 20 ihren heutigen Mann kennenlernte, war dieser SPD-Mitglied, auf seinem Auto klebte ein Anti-Atomkraft-Sticker. Als Ministerin in Deutschland setzte von der Leyen das Elterngeld durch, eigentlich ein Wahlversprechen der Sozialdemokraten. Sie knüpfte die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten an die Erwerbstätigkeit beider Elternteile. Das stieß der CDU sauer auf, weil es die klassische Einverdiener-Ehe infrage stellte.
Die eigenen Leute waren gegen sie
Das Parteibuch stand bei Ursula von der Leyen nie im Vordergrund. Manchen ist sie zu feministisch, zu grün für eine Konservative.
Schon in ihrer Zeit in Berlin wurde von der Leyen von ihrer Partei attackiert. „Die eigenen Leute waren gegen sie“, sagt die Politikerin, die damals mit dabei war, „sie wurden nie wirklich warm mit ihr.“
Suche nach Mehrheit
Jetzt braucht von der Leyen die Unterstützung ihrer Parteienfamilie mehr denn je. Nach der EU-Wahl vom 6. bis 9. Juni muss der Rat der Staats- und Regierungschefs von der Leyen als Kommissionschefin nominieren; das EU-Parlament muss sie in einer Bewerbungsrede von sich überzeugen.
Für ihre Wiederwahl an die Spitze der Kommission braucht sie neben einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten auch die Zustimmung einer absoluten Mehrheit im EU-Parlament. Spricht sich ein Teil ihrer eigenen Fraktion gegen die Spitzenkandidatin aus, könnte es eng werden.
Zur Kommissionschefin gewählt wurde Ursula von der Leyen 2019 mit gerade einmal acht Stimmen Überhang von konservativen, sozialdemokratischen und liberalen Europa-Abgeordneten. Auch die rechtsnationalistische EKR dürfte teils hinter ihr gestanden haben. Genau weiß man es nicht, die Wahl ist geheim.
Angesichts der zu erwartenden neuen Machtverhältnisse könnten ihr diesmal um die 30 Stimmen fehlen, schätzt ein langjähriger Mitarbeiter des EU-Parlaments.
Sicher ist: Ohne den Großteil der europäischen Konservativen an ihrer Seite kann von der Leyen es diesmal kaum schaffen. Doch das könnte schwierig werden.
Der Applaus nach ihrer Rede in Bukarest dauert keine Minute. Dann wird abgestimmt, obwohl kein anderer Kandidat antritt. So will es das Parteistatut. Auch diese Wahl ist geheim, von 499 Delegierten stimmen 89 gegen sie, zehn enthalten sich, 400 sind für Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin. Das sind knapp 82 Prozent – von jenen, die da sind. Die rund 300 abwesenden Delegierten sind nicht mitgezählt. Überwältigend ist das nicht.
„Ich war entsetzt über die 89 Gegenstimmen“, sagt eine hochrangige EVP-Politikerin, die dabei war, „ich hätte mehr Disziplin erwartet.“ Und: „Viele waren gar nicht da, das wird von der Leyen nicht gerecht, sie hat in den vergangenen fünf Jahren hart gearbeitet.“ Das Abstimmungsergebnis sei enttäuschend und eine Demütigung für von der Leyen.
Ich hätte mehr Disziplin erwartet
EVP-Politikerin
Teile der EVP stoßen sich am „European Green Deal“
Teile der EVP stoßen sich an von der Leyens ambitionierter Klimapolitik. Ihr „European Green Deal“ sieht vor, dass Europa bis 2050 klimaneutral wird. Es war die EVP, von der Leyens eigene Fraktion, die zentrale Bausteine des Green Deals boykottierte. Im EU-Parlament sorgten die Christdemokraten gemeinsam mit rechten und rechtsnationalistischen Kräften dafür, wichtige Gesetzesvorhaben zu stoppen oder zumindest zu verwässern. Sogar das Kernstück des Green Deals, das bereits beschlossene Verbot des diesel- und benzinbetriebenen Verbrennermotors ab 2035, wollen die Parteifreunde wieder rückgängig machen.
„Sie hat zu viel nach links geschaut, das wirft man ihr in der EVP vor“, sagt eine EVP-Politikerin im Gespräch mit profil. Nun müsse das Pendel wieder in die Mitte schwingen – und die Interessen der Industrie in der Klimapolitik mitgedacht werden.
Das Kaninchen aus dem Zylinder
Ursula von der Leyen kämpft an mehreren Fronten. Da ist zunächst ihre eigene Partei, die deutsche CDU. Angeführt wird sie von Friedrich Merz, einem alten Rivalen Angela Merkels, die von der Leyen stets gefördert hat.
Nach der Abstimmung in Bukarest wird die Spitzenkandidatin von jenen Leuten umringt, die ihr das Leben in den vergangenen fünf Jahren schwer gemacht haben: Neben Merz lachen CSU-Chef Markus Söder und EVP-Chef Manfred Weber in die Kameras. Söder und Merz kritisieren von der Leyen seit Jahren: wegen ihrer Politik in der Coronapandemie, dem Green Deal, der ausufernden Bürokratie ihrer Kommission.
Insbesondere mit dem wichtigsten Mann der EVP in Brüssel, Partei- und Fraktionschef Manfred Weber, ist das Verhältnis seit Jahren notorisch zerrüttet – oder war es zumindest bis vor Kurzem. Weber trat bei den EU-Wahlen 2019 als Spitzenkandidat der EVP an. Nach deren Sieg sollte er den Posten des Kommissionspräsidenten bekommen, so sah es das Spitzenkandidatensystem vor. Doch im Rat der Staats- und Regierungschefs fehlte Weber die nötige Mehrheit – und von der Leyen bekam den Posten. Sie sei „wie das Kaninchen aus dem Zylinder gezogen worden“, sagte damals der Chef der liberalen FDP, Christian Lindner.
„Sie war eine Erfindung Merkel. Macron hat sie dann als seine Idee verkauft, und alle, die etwas zu sagen haben, waren zufrieden“,
EVP-Mitarbeiter
Das Dilemma: Es geht nicht ohne Meloni
„Sie war eine Erfindung Merkels; Macron hat sie dann als seine Idee verkauft, und alle, die etwas zu sagen haben, waren zufrieden“, erinnert sich ein hochrangiger EVP-Mitarbeiter: „Ein brillanter Coup.“
Manfred Weber dürfte das anders sehen. Als Chef der EVP stellte er sich in den vergangenen Jahren an die Spitze derer, denen von der Leyens Klimapolitik zu grün ist. Die Kommissionschefin gehe zu wenig auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft und der Industrie ein, so das Narrativ.
Heute stellt sich Weber demonstrativ hinter die Spitzenkandidatin. Gegenüber Medien spricht er von einem „Trauma“, das überwunden sei. „Das war vor fünf Jahren ein schwieriger Moment und hat der Demokratie geschadet“, sagt Manfred Weber im Gespräch mit profil. Von der Leyen sei „als Außenseiterin“ ins Amt gekommen, doch jetzt gehe es darum, radikale Kräfte wie die FPÖ zu schlagen: „Die EVP wird für von der Leyen stimmen, daran habe ich keinen Zweifel.“
Zwar wird die EVP aller Wahrscheinlichkeit nach wieder als stärkste Fraktion aus den Europawahlen hervorgehen. Doch für die absolute Mehrheit im Europaparlament muss von der Leyen neben ihrer eigenen Parteienfamilie auch rechts und links der Mitte überzeugen.
Diesmal, räumt Weber ein, werde man „eine breite Mehrheit der Demokraten brauchen“. Damit sind wohl auch Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und deren rechtspopulistische Fratelli d’Italia gemeint.
Es ist ein Dilemma: Streckt von der Leyen die Hand nach links aus, in Richtung Grüne, verliert sie die Zustimmung rechtsnationalistischer und rechtskonservativer Parteien – und umgekehrt.
Vergrämt hat sie längst beide Seiten. Den Rechten ist von der Leyen mit ihrem Fokus auf Klimapolitik zu grün, Grünen und Sozialdemokraten gilt sie mittlerweile als eine, die vor den Konservativen eingeknickt ist.
„Die Verwässerung des Green Deals überschattet alles, was sie erreicht hat“, sagt eine Politikerin, die von der Leyen schon lange kennt. Ein Vertrauter von der Leyens stellt all das als nicht so schlimm dar: „Ein Zurückdrehen beim Green Deal gibt es für sie nicht. Sie will Kurs halten.“
Annäherung an Meloni
Sorge bereitet den linken Kräften im EU-Parlament der Flirt der Europäischen Volkspartei mit nationalistischen und rechten Kräften. Die EVP streckt schon lange die Hand nach Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni aus, mit der sich von der Leyen privat gut verstehen soll. Melonis postfaschistische „Fratelli d’Italia“ wird die EU-Wahlen in Italien Umfragen zufolge gewinnen und die polnische PiS als stärkste Kraft in der EKR-Fraktion ablösen. Auf die Stimmen aus der EKR, die zur drittstärksten Fraktion aufsteigen könnte, allen voran auf die Abgeordneten der Fratelli d’Italia, kann von der Leyen kaum verzichten.
„Ausschlaggebend wird auch sein, ob sie Meloni im Rat der Staats- und Regierungschefs hinter sich hat“, heißt es aus der EVP.
Im Europaparlament hat von der Leyen eine Zusammenarbeit mit dem EKR bis vor Kurzem kategorisch ausgeschlossen. Bei der Debatte der EU-Spitzenkandidaten in Maastricht vergangene Woche zeigte sie sich dann doch offen dafür. Um nicht ganze Parteien auszuschließen, will von der Leyen die Abgeordneten einzeln bewerten. Wer mit der EVP zusammenarbeiten wolle, müsse für Europa sein, für die Ukraine und für die Rechtsstaatlichkeit. Das Wording stammt von Manfred Weber, er nennt die Punkte seit Jahren. Von der Leyen hat sich diesen Hut erst vor Kurzem aufgesetzt.
Die EU-Kommission hat sich von Orbán erpressen lassen
Andreas Schieder, SPÖ-Spitzenkandidat bei der EU-Wahl
„Wir haben kein Vertrauen mehr in von der Leyen und in Weber, was den ‚cordon sanitaire‘ betrifft“, sagt Andreas Schieder, Spitzenkandidat der SPÖ. Das letzte Mal hätte im EU-Parlament noch eine knappe Mehrheit der Sozialdemokraten für von der Leyen gestimmt, doch nun herrsche Enttäuschung. Neben der Verwässerung des Green Deals werfen Europas Sozialdemokraten von der Leyen vor, zu wenig gegen den Demokratieabbau in Ungarn und bis vor Kurzem auch in Polen unternommen zu haben. Das liege auch daran, dass die Regierungsparteien der beiden Länder sie 2019 bei der Wahl zur Kommissionspräsidentin unterstützt hätten.
„Die EU-Kommission hat sich von Orbán erpressen lassen“, sagt Schieder. Er selbst habe von der Leyen 2019 nicht gewählt und werde das voraussichtlich auch dieses Mal nicht tun.
Und was sagen die Grünen?
Eine, die von der Leyen das letzte Mal ihre Stimme gab, ist die österreichische EU-Abgeordnete Sarah Wiener. Die Politik-Quereinsteigerin und Fernsehköchin bekannte sich damals als einzige europäische Grüne zur Wahl der EVP-Spitzenkandidatin. Im Gespräch mit profil erinnert sich Wiener daran, wie sie von der Leyen nach der Abstimmung im Europaparlament in aller Öffentlichkeit umarmte: „Das war nach den harten Auseinandersetzungen zuvor im Europaparlament auch eine ermutigende Geste von Frau zu Frau.“
Bei den Grünen kam die spontane Umarmung weniger gut an.
Wiener und von der Leyen kennen einander von früher. Als von der Leyen Familienministerin war, kochten die beiden zusammen für Wieners Stiftung, es war ein offizieller Termin und eine nette Begegnung, sagt Wiener. „Ich habe sie immer als aufrecht empfunden, sie ist ihren Werten verpflichtet und steht zu ihrem Wort.“ Mit dem Green Deal habe von der Leyen etwas Historisches geschaffen, schade sei nur, dass sie den „Einflüsterungen ihrer Partei“ zu viel Aufmerksamkeit geschenkt habe.
Die Grünen nehmen es von der Leyen und der EVP übel, die sogenannte Pestizidverordnung abgeschmettert zu haben. Die Richtlinie sah eine Halbierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln bis 2030 vor, doch das Vorhaben scheiterte an konservativen und rechten Kräften im Europaparlament.
„Am Ende konnte von der Leyen nicht anders und hat die Pestizidverordnung erst mal zurückgezogen“, sagt Wiener. Es ist eine vergleichsweise wohlwollende Interpretation, die man unter Grünen nicht oft zu hören bekommt.
Die EU-Abgeordnete Monika Vana klingt da schon anders. „Von der Leyen war eine gute Ankündigungspolitikerin, immer motiviert und proeuropäisch, aber in der Umsetzung hat sie zum Teil ausgelassen“, sagt die Grüne. Zwei Dinge seien von der Leyen aber anzurechnen: Sie habe ihre Kommissare auf den Green Deal eingeschworen – und erstmals eine Kommission präsentiert, in der fast so viele Frauen wie Männer sitzen.
Wie werden die Grünen diesmal abstimmen?
Aus der Fraktion gibt es darauf keine abschließende Antwort. Es sei denkbar, dass sich eine Mehrheit diesmal hinter von der Leyen stellt, heißt es vonseiten der Grünen im EU-Parlament. Ausschlaggebend sei, wie sie sich bei ihrer Bewerbungsrede nach den Europawahlen zum Green Deal und zur Rechtsstaatlichkeit positionieren werde.
Was Ursula von der Leyen den Abgeordneten erzählen wird, lässt sich teilweise aus ihrem Wahlprogramm ablesen. Der Fokus liegt auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik – und auf Migration. Hier kommt von der Leyen immer mehr von der „Wir schaffen das!“-Devise ihrer Förderin Angela Merkel ab. Dabei hatte ihre Familie am Höhepunkt der Migrationskrise 2015 selbst syrische Flüchtlinge in ihrem Haus bei Hannover aufgenommen. Jetzt zeigt sie sich offen dafür, Asylverfahren außerhalb der EU abzuwickeln.
Und der Green Deal? Der kommt im EVP-Parteiprogramm nur noch am Rande vor, im Zentrum steht die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Die EVP werde „immer an der Seite unserer Bauern stehen“, sagte von der Leyen bei ihrer Bewerbungsrede in Bukarest. Es war ein Signal an die Kritiker aus den eigenen Reihen. Dabei hat von der Leyen ihren Green Deal lange Zeit gegen alle Widrigkeiten verteidigt. Der Schutz der Umwelt und des Klimas war Kern ihrer Politik, daran haben weder die Coronapandemie noch der Krieg in der Ukraine etwas geändert. Sie glaube an die Wissenschaft, heißt es aus von der Leyens Umfeld, was auch an ihrer Ausbildung liege.
Die Familie: Interviews im Streichelzoo
Im Jahr 1987 macht von der Leyen ihr Staatsexamen als Ärztin, im selben Jahr kommt ihr Sohn David zur Welt, das erste von insgesamt sieben Kindern. Vier Jahre später folgt die Promotion. In ihrer Doktorarbeit untersucht die junge Mutter, wie sich das Baden in warmem Wasser auf die Geburtsvorbereitung auswirkt.
Politisch geht es frostiger zu. Sie trage ihr Lächeln „wie eine undurchdringliche Fassade vor sich her“, heißt es in ihrer Biografie. Über ihre Zeit als Familienministerin kursiert die Geschichte, dass sie stets allein im Aufzug fahren wollte. Ihre Mitarbeiten sollen den Lift blockiert haben, damit die Chefin ihn nicht teilen muss. Eine glaubwürdige Quelle bestätigt das gegenüber profil. „Ein politischer Kumpeltyp ist von der Leyen nie gewesen“, schreiben ihre Biografen.
Ihre Kinder aber schirmt von der Leyen nicht von der Öffentlichkeit ab, im Gegenteil. Bereits als Ministerin in Berlin wusste sie Familienfotos für Kampagnen einzusetzen, lud Medien sogar zum Frühstück nach Hause ein, inklusive Besichtigung des Streichelzoos mit Pony und Ziege.
Als von der Leyen Sozialministerin wird, besuchen sie Journalisten zu Hause, um einer Frage auf den Grund zu gehen: Wie schafft sie das mit all den Kindern? Ursula von der Leyen erzählt, dass sie um halb sechs aufsteht, um sechs die Gymnasiasten weckt, um sieben die Grundschüler und um halb acht die Kindergartenkinder. „Müdigkeit ist ihr nicht anzumerken“, schreiben die Autoren ihrer Biografie. Als Ministerin plant sie nur einen Abendtermin pro Woche ein, der Rest ist für die Familie reserviert, auch die Wochenenden. Jeden Samstag schreibt sie eine Art Erziehungsratgeber in der BILD-Zeitung. „Familien-PR“ nennen das ihre Biografen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass von der Leyen und ihr Mann es sich leisten konnten, Nannys für die Kinder zu beschäftigen.
Mutter, Karrierefrau, Einzelkämpferin
Heute gibt es keine Pressetermine im Streichelzoo, die Zeit der Homestorys ist längst vorbei. Ursula von der Leyen gilt als eine, die sich gern abschottet, die ihre Residenz im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel kaum verlässt, ungern auf Abendveranstaltungen auftritt und sich kaum Journalistenfragen aussetzt. Die Debatte der EU-Spitzenkandidaten in Maastricht war der erste Fernsehauftritt seit Langem, bei dem auch Fragen gestellt wurden. In Talkshows trat von der Leyen während ihrer Amtszeit nicht auf, Interviews gab sie kaum. Auch eine entsprechende profil-Anfrage blieb unbeantwortet.
profil hat mit einem Dutzend Politikern, Beratern und Beamten gesprochen.
Von der Leyen sei offen und interessiert, sagen die einen, eine tüchtige und disziplinierte Politikerin.
Von der Leyen sei eine sture Einzelkämpferin, behaupten die anderen, kontrollsüchtig und konkurrenzbetont.
„Sie war immer schon disziplinierter als der Rest von uns“, wird einer ihrer Brüder in ihrer Biografie zitiert. Eine weitere Quelle, mit der profil gesprochen hat, erzählt, wie sie noch spät abends Akten lese, keinen Alkohol trinke und wenig esse.
Von der Leyen sei ein Arbeitstier, per Du sei sie mit so gut wie niemandem, doch sie gehe offen und herzlich auf Menschen zu, heißt es aus der ÖVP. Bei offiziellen Terminen und gemeinsamen Abendessen spreche sie auch über Persönliches, wisse aber stets, wo die Grenzen liegen. „Sie hat sehr gute Manieren, trinkt kaum Alkohol, nippt den ganzen Abend an einem Glas Wein“, heißt es aus ÖVP-Kreisen.
Sie hat sehr gute Manieren, trinkt kaum Alkohol, nippt den ganzen Abend an einem Glas Wein
Aus ÖVP-Kreisen
Ursula von der Leyen gilt als kühl und distanziert, in der EU-Kommission soll sie nicht besonders kollegial agiert haben. „Ihr Standing innerhalb der Kommission ist schlecht, sie berät sich nicht und reißt alle interessanten Agenden an sich“, sagt ein hochrangiger EVP-Mitarbeiter. Mehr als alles andere wolle sie selbst im Rampenlicht stehen.
Für Kritik sorgt auch die Intransparenz der Kommissionspräsidentin. Zu Beginn der Coronapandemie handelte von der Leyen eigenmächtig einen Impfstoff-Deal mit Pfizer-Chef Albert Bourla aus – wahrscheinlich per SMS. „Pfizer-Gate“ passt zum Image der kühlen Einzelgängerin.
„Bevor von der Leyen spricht, studiert sie alles hundertmal ein“, sagt eine Politikerin, die von der Leyen schon lange kennt. Nichts komme spontan, alles sei perfekt, aber kühl und seelenlos. In Brüssel habe sie einen sehr kleinen Kreis an Vertrauten um sich versammelt, „alles Deutsche, das sorgt für Skepsis“. Mit ihrem Pressesprecher arbeitet sie seit 20 Jahren zusammen.
Bevor von der Leyen spricht, studiert sie alles hundertmal ein
Sofagate – und wiederkehrender Sexismus
Aus dem EU-Parlament sind zwei Arten von Lob zu hören: Von der Leyen habe die zahlreichen Krisen während ihrer Amtszeit gut gemeistert. Und: Sie sei etlichen Forderungen des Parlaments gefolgt, darunter jener nach Sanktionen gegen Russland und der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine.
Für Kiyv (Kiew) hat sich von der Leyen in den vergangenen zwei Jahren besonders beherzt eingesetzt. Ganze sieben Mal reiste die Kommissionspräsidentin in die Ukraine, die Botschaft: Wir stehen fest an eurer Seite, finanziell, militärisch und moralisch.
Kritik erntete die Kommissionschefin hingegen für ihre Israeldiplomatie. Mit ihrer bedingungslosen Solidarität mit Israel überschreite von der Leyen ihre Kompetenzen, die Krise nutze sie zur Selbstdarstellung, so der Tenor. Genervt waren nicht nur die Hauptstädte, sondern auch der für Außenpolitik zuständige Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und EU-Ratspräsident Charles Michel.
Nach einem kurzen „Ähm!“ nahm sie in beträchtlichem Abstand auf einem Sofa Platz. Die Szene ging als „Sofagate“ in die Geschichte der Legislaturperiode ein
In Michel fand von der Leyen schon zu Beginn ihrer Amtszeit einen Rivalen, der rasch zum Intimfeind wurde. Zum diplomatischen Eklat kam es im April 2021 bei einer gemeinsamen Reise nach Ankara. Beim Besuch im Präsidialamt setzten sich Charles Michel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in zwei nebeneinanderstehende Sessel, Ursula von der Leyen stand ohne Sitzgelegenheit daneben. Nach einem kurzen „Ähm!“ nahm sie in beträchtlichem Abstand auf einem Sofa Platz. Die Szene ging als „Sofagate“ in die Geschichte der Legislaturperiode ein, Erdoğan und Michel sahen sich mit dem Vorwurf der Frauenfeindlichkeit konfrontiert. Das Verhältnis zwischen von der Leyen und Michel ist seit dem Vorfall zerrüttet, ein Mitarbeiter aus hochrangigen EVP-Kreisen spricht von einer „Eskalation, nach der es so gut wie keine Beziehungen mehr zwischen den beiden gab“. Niemand habe versucht, das Verhältnis zu reparieren: „Das ist auch ein großes Versagen von der Leyens und wird Teil ihres Erbes bleiben.“
Sexismus musste von der Leyen nicht erst als Politikerin erfahren. Journalisten erzählte sie gern die Geschichte, wie sie sich als junge Assistenzärztin rechtfertigen musste, weil sie schwanger und damit „unbrauchbar“ war. „Sie sind wohl zu faul zum Arbeiten!“ soll ein Oberarzt vor versammelter Belegschaft gesagt haben. Fortan sei sie am „Nebengleis“ geparkt und für die Forschung nicht mehr in Betracht gezogen worden.
Greift die Parteidisziplin?
In der EVP hat Ursula von der Leyen bekannte und unbekannte Feinde. Einige wenige haben sich öffentlich gegen sie ausgesprochen, darunter die „Républicains“ in Frankreich und zwei konservative Parteien aus Slowenien.
Unklar ist, wer innerhalb der EVP gegen sie stimmen wird, ohne sich zu deklarieren. Als Wackelkandidaten gelten Konservative aus Spanien, Kroatien und der Slowakei.
Aus der ÖVP heißt es, man stehe hinter der Spitzenkandidatin. Doch dem Wahlprogramm der EVP wollte man nicht zustimmen. Österreichs Volkspartei stößt sich am Ja zur Atomkraft und an der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengenraum.
In der EVP tröstet man sich mit Zahlenspielen. Liberale, EVP und S&D würden wieder mehrheitlich für von der Leyen stimmen, ebenso die Grünen und Teile des EKR, sagt ein hochrangiger Mitarbeiter. „Das reicht als Puffer für die Abweichler in der EVP.“
Aus der Fraktion heißt es, dass die Parteidisziplin greifen könnte, sollte es wirklich knapp werden.
Und der Rat der Staats- und Regierungschefs, der von der Leyen nominieren muss? „Der Rat wird sie mit breiter Mehrheit akzeptieren“, sagt Manfred Weber, „auch Macron wird am Ende für sie stimmen.“
Wer dem EVP-Chef dieser Tage zuhört, bekommt den Eindruck, es sei alles vergessen: die alten Rivalitäten, die Animositäten, das Hickhack in den eigenen Reihen. Oder fällt von der Leyen am Ende ausgerechnet jener Methode zum Opfer, die sie einst selbst an die Macht befördert hat? Im Europaparlament brodelt die Gerüchteküche, es kursieren mehrere Optionen darüber, wer von der Leyen im letzten Moment ersetzen könnte. Schließlich liegt die Nominierung der Kommissionschefin an den Staats- und Regierungschefs.
Nicht ausgeschlossen, dass am Ende doch wieder ein neues Kaninchen aus dem Zylinder gezogen wird.