Die Hoffnungsfabrik von Lwiw
Am Fenster im zweiten Stock des Superhumans-Rehabilitationszentrums in Wynnyky, rund zehn Kilometer östlich von Lwiw, sitzt Oleg und liest. „The Silent Patient“ hat er aufgeschlagen, einen Thriller über eine Patientin in einer psychiatrischen Anstalt. Starker Tobak: „Blut war überall – an die Wände gespritzt, lief in dunklen Rinnsalen über den Boden, entlang der Maserung der Holzdielen.“ Oleg, der ehemalige Universitätsdozent für Theologie und Philosophie mit Doktortitel aus Rom, kommt oft hierher, an diesen ruhigen Ort abseits des überraschend hektischen Rehabilitationsalltags. „Ich habe hier einen leisen Platz zum Lesen, zum Sammeln meiner Gedanken gefunden. Das ist auch Teil meiner Rehabilitation.“
Hier ist der perfekte Platz zum Eskapismus
Die Stille nutzt Oleg bewusst: „Die Handys und Videos, die manche abspielen, mit all dem Lärm – das ist mir zu viel“, erklärt er, „Hier ist der perfekte Platz zum Eskapismus.“ Klarheit, das ist ihm wichtig. Und Fokus. „Meine ganze Kraft brauche ich jetzt, um zu lernen, wie ich mit nur einem Arm meinen Alltag meistern kann. Unmöglich ist es nicht. Aber es ist alles schwieriger, und ich ermüde schneller.“
Oleg trägt stolz Merchandise von Superhumans. Ein Hoodie, der die Evolution von den ersten Menschenaffen zum Homo sapiens zeigt – und eben zum Superhuman, einem Menschen mit Beinprothese. Auf dem Hoodie: die ukrainische Flagge. Dazu: ein „48“-Baseball-Cap von NASCAR-Motorsport-Star Jimmie Johnson (Spitzname: Superman), der Rennen durch seine besonnene, strategische Fahrweise gewann.
Die Message: Du kannst es!
Olegs Geschichte ist eine von vielen im Superhumans-Center, einer hochmodernen Rehabilitationseinrichtung, die in Rekordzeit entstand.
Nach nur acht Monaten Umbau wurde das Zentrum im April 2023 eröffnet, mit dabei: die ukrainische Präsidentengattin Olena Selenska und Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko. Selenska sitzt auch im Aufsichtsrat und unterstreicht damit die nationale Bedeutung des Projekts.
Der Eincheck-Vorgang ist Hightech, das Super-humans-Center-Branding zieht sich durch das ganze Haus, sogar die signalorangen Verkehrshütchen am Parkplatz sind mit dem fetten Schriftzug versehen. Die weißen Wände riechen noch nach frischer Farbe. Zimmerpflanzen, freundliche Möbel, helle Räume. Im Eingangsbereich stehen zwei Schaufensterpuppen, die rechte hat eine Handprothese. Mit ihren Händen formen die beiden ein Herz. Auf einem Bildschirm läuft ein Image-Video von Superhumans in Endlosschleife: kriegsversehrte Menschen mit Prothesen beim Tanzen, beim Sport, beim Spielen mit ihren Kindern. Die Message: „Du kannst es.“
30.000 bis 50.000 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden bei russischen Angriffen so schwer verwundet, dass sie auf Prothesen angewiesen sind
30.000 bis 50.000 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden bei russischen Angriffen so schwer verwundet, dass sie auf Prothesen angewiesen sind. Die ukrainische Regierung hat das Budget für Prothesen seit 2022 massiv aufgestockt. Rund 240 Millionen Euro waren 2024 für den Ankauf und die Herstellung von Prothesen eingeplant. Und jeden Tag, den der Krieg andauert, werden noch mehr Menschen durch Russlands Angriffskrieg verletzt. Amputationen sind Routine geworden, denn bei schweren Schuss- oder Schrapnellwunden an den Extremitäten müssen die Gliedmaßen mit Tourniquets abgebunden werden, um die Soldaten vor dem Verbluten zu bewahren. Innerhalb von zwei Stunden müssen diese Arterienpressen aber wieder abgenommen werden, sonst sterben Extremitäten ab, die eigentlich zu retten wären. Doch meist liegen die Soldaten unter Beschuss und können oft stundenlang nicht aus der Gefahrenzone geborgen werden.
Selbst wenn der Krieg morgen enden würde, müsste man mit weiteren Opfern rechnen, denn in rund einem Drittel des Landes besteht akute Gefahr durch Landminen.
Fabrik der Hoffnung
Für Ukrainer, die im Krieg Gliedmaßen verloren haben, ist das von Andrey Stavnitser, Olga Rudneva, Philipp Grushko und Anastasia Zhook gegründete 50-Betten-Superhumans-Haus zu einem Leuchtturm der Hoffnung geworden. Rockstar Sting, der Schauspieler Liev Schreiber sowie Richard Branson, CEO der Virgin Group, gehören zu den prominenten Unterstützern. Superhumans versammelt Orthopäden, Reha-Spezialistinnen, Physio- und Psychotherapeuten unter einem Dach, Reha-Ärztinnen und Prothesen-Techniker sind hier beschäftigt. Der Bedarf an solchen Einrichtungen ist riesig, auf der Warteliste stehen mehr als 1500 Patienten. Bei der ähnlichen Einrichtung „Unbroken“ – keine 20 Autominuten von Superhumans entfernt – ist der Patientenandrang ebenfalls enorm.
Olga Rudneva, die Chefin des Zentrums, sagt zu profil: „Wir sind eine Fabrik der Hoffnung.“ Rudneva, moderner Kurzhaarschnitt, Hoodie unter der Lederjacke, ist eine bemerkenswerte ukrainische Managerin und Sozialaktivistin, die vor dem russischen Überfall auf die Ukraine 18 Jahre lang die einflussreiche Anti-AIDS-Stiftung geleitet hat. Im Haus wird sie als entschlossen und durchsetzungsfähig beschrieben, aber auch als zugänglich für die Menschen, mit denen sie arbeitet.
Olga Rudneva
"Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Hauptziel der Sowjetunion, Menschen mit Behinderungen zu verstecken, um das Bild der Helden zu bewahren"
Rudneva setzt sich besonders dafür ein, in der Ukraine die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Prothesen zu verändern – sie sieht in ihnen keine „Behinderten“, sondern vielmehr „Superhelden“ und „Menschen der Zukunft“. „Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Hauptziel der Sowjetunion, Menschen mit Behinderungen zu verstecken, um das Bild der Helden zu bewahren“, erklärt Rudneva. „Wir wollen Behinderung normalisieren und sagen, dass das die Art ist, wie wir für unsere Unabhängigkeit kämpfen.“
Diese neue Sichtweise spiegelt sich auch in der praktischen Arbeit wider: „Wir geben den Menschen ihre verlorenen Fähigkeiten zurück – das Gehen und das Umarmen ihrer Kinder. Ich erhielt kürzlich eine Nachricht von einem Freund an der Front. Er sagte mir, dass er dank Superhumans keine Angst hat zu kämpfen, weil er weiß, dass wir ihn wieder in Ordnung bringen werden, falls etwas passiert.“
Bordsteine, Treppen, geneigte Flächen
In der Rehabilitationsabteilung im zweiten Stock arbeitet der Physiotherapeut Nestor mit Patienten, die gerade ihre Prothesen erhalten haben. Nestor ist Anfang 30, er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug „Ya“, einem Herz und „Superhumans“ – „Ich liebe Superhumans“. Nestor hat dunkelbraunes, seitlich gescheiteltes Haar, einen gepflegten Dreitagebart und markante Gesichtszüge. Zuvor hat er konzentriert beobachtet, wie einer der Patienten am Laufband in verschiedenen Geschwindigkeiten gegangen ist. Wo gibt es noch Schwierigkeiten? Wo ist die Bewegung unrund? „Wir bringen unseren Patienten bei, wie sie sich mit den Prothesen im Alltag bewegen und diese nutzen können“, erklärt er. Sein Training soll die Patienten – in einem Monat für täglich ein bis zwei Stunden – auf verschiedene Situationen vorbereiten, denen sie auf der Straße begegnen könnten – Bordsteine, Treppen, geneigte Flächen.
Für die Seelen der Versehrten ist Svetlana Kutsenko, Leiterin der psychologischen Rehabilitation, zuständig. Svetlana strahlt Ruhe und Wärme aus, man kann sich vorstellen, dass die Patienten sich ihr gerne anvertrauen. Sie erlebt täglich die verschiedenen Facetten der Traumabewältigung: „Wir haben Menschen, die erst vor einer Woche verwundet wurden, und andere, deren Verletzung schon Monate zurückliegt. Das sind zwei völlig verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen.“
Die Menschen hier, meist Soldaten, waren es gewohnt, ihr Leben völlig unter Kontrolle zu haben. Plötzlich können sie sich nicht einmal mehr allein die Zähne putzen oder auf die Toilette gehen
Bei den frisch Verwundeten gehe es oft um Wut und Frustration. „Die Menschen hier, meist Soldaten, waren es gewohnt, ihr Leben völlig unter Kontrolle zu haben. Plötzlich können sie sich nicht einmal mehr allein die Zähne putzen oder auf die Toilette gehen“, erklärt Kutsenko. Bei den anderen sieht sie häufiger Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie Angstzustände oder Schlafstörungen. Aber oft sind es auch ganz praktische Fragen, die ihre Patienten ins Grübeln bringen, fügt sie hinzu: „Wie erkläre ich meinen Kindern, dass Papa jetzt anders aussieht? Wie gehe ich jetzt mit Intimität in meiner Partnerschaft um?“
Das Center hat sich der traumasensiblen Pflege verschrieben. So wurden etwa die elektrischen Händetrockner auf den Toiletten wieder abmontiert, weil ihr Geräusch manche Patienten an das Sirren herumschwirrender Drohnen erinnerte. „Gleichzeitig nutzen wir solche Situationen therapeutisch. Die Menschen müssen lernen, mit Triggern umzugehen, denn die Welt draußen können wir nicht triggerfrei machen“, sagt Kutsenko.
Die Therapeutin hat überraschende Therapiemethoden entdeckt: „Wir haben festgestellt, dass das Erlernen von DJ-Fähigkeiten oder das Spielen von Musikinstrumenten besonders bei Patienten mit Hirnverletzungen die Rehabilitation beschleunigen kann. Die Konzentration auf das Mischen verschiedener Soundtracks scheint die neuronalen Verbindungen schneller wiederherzustellen.“
Ich habe meine Aufgabe nicht zu Ende gebracht
Rückkehr an die Front trotz Prothese
In der Eingangshalle des Superhumans-Centers in Lwiw sitzt Serhij (47) und spricht über seine Zukunftspläne. Man hört das Klacken eines Tischtennisballs, Ein Soldat – er ist Besucher im Superhumans-Center – und ein Patient im Rollstuhl spielen eine Runde Pingpong. Serhij sitzt auf einem Holzaufgang, der sich als Sitzgelegenheit wie ein amphitheaterartiges Forum durch den Bibliotheksraum zieht. Sein Plan klingt überraschend, vielleicht sogar verstörend, denn obwohl er bei der Explosion einer Mine im Serebjansky-Wald in der Region Donezk ein Bein verloren hat, will er zurück an die Front. „Meine Einheit wartet auf mich“, sagt er mit entschlossener Stimme. „Sie haben versprochen, eine Position zu finden, die meinen Möglichkeiten entspricht.“ Seit sechs Wochen ist er nun zur Rehabilitation im Superhumans-Center, wo er eine neue, verbesserte Prothese erhält.
Seine Familie steht hinter seiner Entscheidung, wieder in den Dienst zu treten, auch wenn sie sich natürlich wünscht, dass er nach Hause kommt. „Sie verstehen meine Wahl“, sagt Serhij nachdenklich. Auf die Frage nach seiner Motivation für die Rückkehr hat er eine klare Antwort: „Ich habe meine Aufgabe noch nicht zu Ende gebracht.“
Den Traum zur Realität machen
Psychologin Kutsenko sieht in solchen Geschichten ein Muster der ukrainischen Resilienz. „Ich komme aus einer Generation, die schon viele Krisen durchlebt hat“, reflektiert sie. „Die wilden 1990er-Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, die erste Energiekrise, drei Revolutionen. Subjektiv war für mich die Revolution 2014 die erste traumatische Erfahrung – als friedliche Menschen im Zentrum der Hauptstadt getötet wurden. Diese Erinnerungen geben mir heute die Gewissheit: Wir haben schon viel überstanden, wir werden auch das überleben.“
Das Zentrum arbeitet unabhängig von staatlichen Mitteln, da man der Überzeugung ist, dass staatliche Ressourcen sich auf militärische Bedürfnisse konzentrieren sollten. Mit Betriebskosten von 1,5 Millionen Dollar monatlich – einschließlich 20.000 Dollar pro Prothese – ist die Mittelbeschaffung eine ständige Aufgabe.
„Die größte Erkenntnis ist“, resümiert Psychologin Kutsenko, „dass nur der Himmel die Grenze ist, wenn man ausreichend motiviert ist. Ich habe Patienten, denen die Ärzte sagten, sie würden nie wieder gehen können. Heute laufen sie. Sie hatten diese Entschlossenheit, sie wollten ihr Leben in die Hand nehmen, nicht zur Last fallen. Sie wollten einfach leben, auch wenn es ein anderes Leben ist als geplant.“
Oleg, der Mann mit dem Superhumans-Hoodie und dem 48er-Baseball-Cap, sagt: „Ein Traum bleibt ein Traum, wenn man nichts tut.“ Er hat seinen eigenen Weg gefunden, mit seiner neuen Realität umzugehen. „Wenn man aktiv wird, dann werden Hindernisse zu einem Ansporn.“ Er spricht von seinen kleinen Erfolgen: sich als Linkshänder das erste Mal mit der rechten Hand rasieren, ohne sich zu schneiden. Bogenschießen lernen. Wandern gehen. „Du brauchst Motivation, Leidenschaft. Es war nicht mein Plan, meinen linken Arm und mein linkes Bein zu verlieren. Aber dass das nun so ist, bedeutet nicht das Ende meines Lebens.“
Mitarbeit: Yana Kuznietsova