Serhiy Rodionov: „Die Russen werden es noch bereuen, dass sie nach Cherson gekommen sind“
„Raus aus Cherson!“, steht auf einem Banner in der südukrainischen Hafenstadt Cherson. Im Fenster eines Geschäfts hängt ein Zettel, auf den
jemand eilig mit pinkem Leuchtstift „Hier gibt es nichts“ geschrieben hat. Die Regale in den Geschäften sind leer, vor den Supermärkten und Essensausgabestellen stehen die Menschen zu Hunderten dicht an dicht.
Anfang März gelang russischen Truppen die Eroberung der Stadt, Russland will in der Region eine „Volksrepublik Cherson“ errichten, die nötige Legitimation soll, wie schon 2014 in den Regionen Donezk und Luhansk, per gefälschtem Referendum geschaffen werden.
Nimmt Serhiy Rodionov, ein Journalist aus der 290.000-Einwohner-Stadt, das Wort „Volksrepublik“ in den Mund, entkommt ihm gleichzeitig ein spöttisches Lachen. „Wir wissen nicht, was Russland genau vorhat, aber sie wollen mit Cherson definitiv tun, was sie mit den Regionen im Osten gemacht haben. Aber jeden Tag, jeden einzelnen Tag, gehen wir auf die Straße. Jeden Tag sehen die Russen, dass das nicht möglich sein wird“, sagt er.
Rodionov heißt eigentlich anders, seinen richtigen Namen will er nicht verraten. „Sie entführen Journalisten, gehen in Häuser und Wohnungen. Bei einem meiner Bekannten waren sie ganze vier Mal. Viele Journalisten bekommen Drohungen auf ihr Handy geschickt. Wir haben Angst um unser Leben.“
Den Platz, auf dem Rodionov gegen die russische Besatzung demonstriert, nennen sie „Platz der Freiheit“. Die Bewohnerinnen und Bewohner fordern den Abzug der Truppen, sie stellen sich mit ukrainischen Fahnen um die Schultern den russischen Truppen entgegen. „Geht nach Hause!“, rufen sie in Richtung der Militärkonvois, und: „Wir brauchen dich nicht, Russland!“ Die Soldaten richten ihre Maschinenpistolen auf Demonstranten, geschossen wurde bisher nur in die Luft. Immer wieder werden jedoch laut der ukrainischen Armee proukrainische Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen. Rodionov schickt verwackelte Handy-Videos von den Protesten, zoomt vorsichtig an die russischen Panzer und Fahrzeuge heran.
„Wenn die Russen sehen, dass wir sie filmen, dann nehmen sie uns die Handys weg und schauen alles durch – Nachrichten, Mails …“, sagt er. Cherson ist die erste und bislang einzige Großstadt, die von Putins Truppen erobert wurde. Die Hafenstadt ist strategisch gut gelegen, sie liegt dort, wo der Fluss Dnepr ins Schwarze Meer mündet. Für Russland ist sie von besonderer Bedeutung, weil von dort aus die Wasserversorgung der Halbinsel Krim gesichert wird.
Die ersten Tage der Besatzung waren die schlimmsten, sagt Rodionov. „Sie haben auf uns geschossen, auf die Leute auf der Straße. Wir haben zerschossene Körper auf der Straße gesehen und Blut an den Wänden.“ Rodionov erzählt, dass die Russen im Shumenskyi Park im Westen der Stadt 16 Menschen umgebracht haben, die sich den ukrainischen Streitkräften angeschlossen hatten. „Sie hatten keine Köpfe mehr, waren in Stücke zerfetzt.“ Shumenskyi Park heißt übersetzt Veilchenpark, die Leute in Cherson nennen ihn jetzt „Park des Todes“.
Nach mehr als zwei Wochen Belagerung werden in der Stadt vor allem die Medikamente knapp. Wasser und Gas gibt es nach wie vor, auch die Stromversorgung funktioniert die meiste Zeit. Schließlich sei Krieg, das passiere eben von Zeit zu Zeit, sagt Rodionov trocken. Es sei schwer geworden, Milch zu finden, noch müsse aber niemand hungern. Am dringendsten würden medizinische Güter gebraucht.
Zwar haben sich Russland und die Ukraine auf humanitäre Korridore nach Cherson geeinigt, durchgelassen werden Hilfstransporte jedoch nicht. Die Stadt ist isoliert. Doch Rodionov bleibt gelassen. „Uns geht es gut, vor allem im Vergleich zu anderen Städten. Wir sehen und hören alles, was in der Ukraine passiert, wir wissen vom zerbombten Mariupol. Aber uns attackieren sie im Moment nicht. Sie sind ja schon hier.“ Während die ukrainische Regierung vor einer humanitären Katastrophe in der eroberten Region warnt, wollten jene, die in Cherson geblieben sind, kämpfen, sagt Rodionov. „Wir warten jetzt auf unsere Armee, aber die Leute sind sehr wütend. Die Russen werden es noch bereuen, dass sie hierhergekommen sind.“